Kommunikationswissenschaft. Roland Burkart

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Название Kommunikationswissenschaft
Автор произведения Roland Burkart
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846357132



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oder ihre Mutter; sie selbst wiederum wird ihren Studierenden an der Universität anders gegenübertreten als den Kolleg·innen im Sportverein usw. Obwohl es sich immer um ein und dieselbe Person handelt, schlüpft sie dennoch in verschiedene Rollen und ruft dadurch bei ihren jeweiligen Interaktionspartner·innen ganz unterschiedliche Erwartungen im Hinblick auf ihr Verhalten wach.

      Zentral an der rollentheoretischen Perspektive menschlichen Verhaltens ist also der Umstand, dass die Erwartungen in den Mittelpunkt rücken, die im Rahmen interaktiver Beziehungen im Spiel sind: „Wenn wir von sozialen Rollen sprechen, dann ist stets nur von erwartetem Verhalten die Rede, d. h. von der […] Gesellschaft, die den einzelnen mit gewissen Ansprüchen konfrontiert“ (Dahrendorf 1974: 145). Soziale Rollen sind nichts anderes als „wiederkehrende Verhaltensforderungen“ (Fürstenberg 1974: 21).

      Nicht beantwortet ist damit freilich die Frage, ob sich eine Person in ihrer jeweiligen sozialen Position auch tatsächlich so verhält, wie „man“ es von ihr erwartet. Der Umstand, dass dies dennoch vielfach der Fall ist, dass also viele Menschen die an ihre sozialen Positionen herangetragenen Rollenerwartungen (mehr oder weniger) erfüllen,20 verweist auf das Sozialisationsgeschehen. Vom rollentheoretischen Blickwinkel aus stellt sich der Sozialisationsprozess im Wesentlichen als das Kennenlernen bzw. Übernehmen von positionsadäquaten Verhaltensmustern dar: Wir lernen, welche Verhaltenserwartungen (Rollen) den jeweiligen sozialen Positionen entsprechen, und erfahren, „was nicht akzeptables bzw. was akzeptables Verhalten ist“ (Cardwell 1976: 126).

      Im Regelfall werden im Sozialisationsprozess also die mit einer sozialen Position zu verknüpfenden Rollen internalisiert (verinnerlicht). Damit wird die Fügsamkeit gegenüber den normativen Erwartungen der Gesellschaft erworben: „Mit ihrer Verinnerlichung werden viele Rollen selbstverständlich, man lässt sich von ihnen leiten, ohne dass die Rollenhaftigkeit des Verhaltens zum Bewusstsein käme“ (Dreitzel 1980: 46).

      Neben dieser inneren Kontrolle der Gesellschaft über menschliches Verhalten gibt es aber auch noch eine äußere: Sie besteht in den Sanktionen, welche die Verletzungen bestimmter Rollenerwartungen nach sich ziehen. Sanktionen sind die Mittel, die eine Gesellschaft zur Verfügung hat, um für die Einhaltung ihrer Vorschriften zu sorgen. Sanktionen sind Reaktionen der Gesellschaft bzw. ihrer Institutionen sowohl auf rollenkonformes als auch auf rollenabweichendes Verhalten. „Es gibt positive und negative Sanktionen: Die Gesellschaft kann Orden verleihen und Gefängnisstrafen verhängen, Prestige zuerkennen und einzelne Mitglieder der Verachtung preisgeben“ (Dahrendorf 1974: 147). An der Existenz und am Ausmaß sozialer Sanktionen kann man letztlich den Grad der Bedeutung ablesen, die der jeweiligen Rolle in einer Gesellschaft beigemessen wird.

      Es ist kein Zufall, dass immer wieder Parallelen zwischen sozialer Rolle und der Schauspieler·innenrolle in einem Theaterstück hergestellt werden. Sowohl die soziale Rolle als auch die Rolle des·der Schauspieler·in ist a) etwas ihrem·ihrer Träger·in Vorgegebenes, etwas außer ihm·ihr Vorhandenes. Die Rolle lässt sich in beiden Fällen b) als ein Komplex von Verhaltensweisen beschreiben, die ihrerseits c) Teil eines Ganzen sind (daran erinnern u. a. die Termini „pars“ [lat.] und „part“ [engl.] für „Rolle“). Sowohl die soziale Rolle als auch die Schauspieler·innenrolle muss d) gelernt werden, damit man sie auch spielen kann, und schließlich kann das Individuum ebenso wie der/die Schauspieler·in e) eine Vielzahl von Rollen lernen und spielen (vgl. dazu Dahrendorf 1974: 135).

      Allerdings verweist Dahrendorf selbst auf die Grenzen dieser Schauspiel·innenmetapher: „Hinter allen Rollen, Personen und Masken bleibt der Schauspieler als Eigentliches, von diesen letztlich nicht Affiziertes. Sie sind für ihn unwesentlich. Erst wenn er sie ablegt, ist er er selbst“ (Dahrendorf ebd.). Und genau in dieser Hinsicht täuscht das Bild des Schauspiels und Theaters, wenn man es auf den Menschen und die Gesellschaft überträgt: Gerade die soziale Rolle kann nämlich nicht mit einer „Maske“ gleichgesetzt werden, die der/die Rollenträger·in nur fallen zu lassen braucht, um in seiner/ihrer wahren Identität zu erscheinen. Der Mensch wird eben nicht (wie in einem Schauspiel) nach dem Ende der Vorstellung in die „eigentliche“ Wirklichkeit entlassen, sondern die sozialen Rollen, die ein Individuum spielt, die sozialen Positionen, die es innehat, sind fundamentaler Bestandteil seiner realen Identität.

      Die individuelle Identität, das Selbst eines Menschen als eigentlicher Kern seiner Persönlichkeit verbirgt sich nicht hinter allen sozialen Rollen, die dieser spielt (Dreitzel 1980: 51 f.), sondern das Insgesamt all jener sozialen Rollen, die wir ausfüllen und auszufüllen trachten, gerinnt zu einem fundamentalen Teil unserer Persönlichkeit. Diese Auffassung entspricht auch der Position des symbolisch-interaktionistischen Sozialisationskonzeptes.

      Der theoretische Ansatz des Symbolischen Interaktionismus (S.I.), als dessen geistiger Vater der US-amerikanische Philosoph und Soziologe George Herbert Mead gilt, sieht den Menschen als ein Wesen, das sich in einer aktiven Wechselbeziehung mit seiner Umwelt befindet. Menschen reagieren nicht einfach auf eine Umwelt als eine gleichsam objektive physikalische Gegebenheit, sondern handeln im Hinblick auf ihre Umgebung auf der Basis subjektiver Interpretationsleistungen. Indem sie bestimmte „Dinge“ (Personen, Gegenstände, Zustände, Ideen, Verhaltensweisen etc.) mit Bedeutungen belegen, schaffen sie sich (zusätzlich zu der mehr oder weniger ohne ihr Zutun vorhandenen „natürlichen“ Welt, mit der sie insb. als biologische Organismen verbunden sind) eine (künstliche) symbolische Umwelt, mit der sie v. a. als soziale Wesen verbunden sind.

      Die Teilhabe an dieser symbolischen Umwelt befähigt sie zugleich auch dazu, sich selbst bzw. ihr eigenes Verhalten zu interpretieren und damit ihre eigentliche (menschliche) Geburt voranzutreiben: „Das Kind ist kein geborener ‚Mensch’, obwohl es die Fähigkeit besitzt, Mensch zu werden. Es wird dies durch den Erwerb eines Selbst im Kontext der Interaktion mit anderen“ (Stryker 1976: 261). Sozialisation ist im Horizont des S.I. somit als jener Prozess zu begreifen, in dem sich menschliche Wesen im Verlauf sozialer Interaktionen Symbolsysteme aneignen, mit deren Hilfe sie dann nicht nur ihre Umwelt interpretieren, sondern auch „Selbst-Bewusstsein“ erlangen.

      •Vom interaktionistischen Aspekt her steht also die Wechselbeziehung „Individuum – Umwelt“ im Blickpunkt. Menschen sind nicht passive Empfänger von Umweltreizen, sondern handeln im Hinblick auf eine Umwelt, „wie sie symbolisch vermittelt ist“ (Stryker 1976: 261), d. h., dass sie die Qualität ihres Handelns an der Bedeutung bemessen, die sie den Dingen zuschreiben – und diese Bedeutung wird aus sozialen Interaktionen abgeleitet bzw. interpretiert: „Die Bedeutung eines Dinges für eine Person ergibt sich aus der Art und Weise, in der andere Personen ihr gegenüber in Bezug auf dieses Ding handeln. Ihre Handlungen dienen der Definition dieses Dinges für diese Person. Für den symbolischen Interaktionismus sind Bedeutungen daher soziale Produkte, sie sind Schöpfungen, die in den und durch die definierbaren Aktivitäten miteinander interagierender Personen hervorgebracht werden (Blumer 2015: 27).21

      •Vom symbolischen Aspekt her stehen die Bedeutungen im Mittelpunkt, die den Objekten auf der Basis von Verhaltensinterpretationen zugeschrieben werden. Daraus folgt nun in der Tat, dass Objekte – was ihren Sinn(!) betrifft – innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozesses überhaupt erst geschaffen werden (Mead 1968: 117): Indem wir im Hinblick auf unsere Umwelt handeln, kategorisieren wir sie, d. h. wir gliedern gewissermaßen unsere (natürliche) Umgebung in mehr oder weniger bedeutungsvolle Ausschnitte. Diesen Vorgang bezeichnet Mead als Symbolisation. „Symbolisation schafft bislang noch nicht geschaffene Objekte, die außerhalb des Kontextes der gesellschaftlichen Beziehungen, in denen diese Symbolisation erfolgt, nicht existieren würden“ (Mead ebd.). Eben deshalb leben wir Menschen nicht bloß in einer natürlichen, sondern auch – und vor allem – in einer symbolischen Umwelt (Rose 1967: 267).

      Diese symbolische Umwelt ist die jeweils kulturspezifische Kategorisierung der natürlichen Umgebung. Jeder Kulturkreis hält bestimmte symbolische Umwelten bereit, die die