Название | Kommunikationswissenschaft |
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Автор произведения | Roland Burkart |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846357132 |
Um dieses Sich-aus-der-Perspektive-des-Anderen-Betrachten klar vor Augen zu führen, sei mit Zijderveld (1975: 100) eine ganz alltägliche Gesprächssituation unter die Lupe genommen: Angenommen, Herr A begegnet auf der Straße Herrn B und fragt ihn nach dem Weg zum Bahnhof. Analysiert man diese Begegnung als ein wechselseitiges Aktualisieren von subjektiv erlebten und intersubjektiv verständlichen und daher gegenseitig bedeutungsvollen ‚signifikanten’ Symbolen, dann stellt sie sich folgendermaßen dar: Herr B „richtet sich mit Gebärden und mit Worten, als Erklärer des Weges zum Bahnhof, nicht nur an Herrn A (dort ihm gegenüber), sondern während er den Weg erklärt, übernimmt er die Rolle und Haltung des Herrn A, das heißt: des Zuhörers, der der Erklärung bedürftig ist, und richtet sich also an sich selbst, als wäre er jemand, der den Weg zum Bahnhof noch nicht kennt. Etwas Ähnliches passiert mittlerweile innerhalb von Herrn A: Während er Herrn B (dort ihm gegenüber) sieht und hört, adressiert er sich selber in der Rolle und der Haltung eines Erklärers“ (ebd. 1975: 100).
Genau an diesem Punkt wird nun die Bedeutung von Kommunikation für die Entstehung von Identität und Selbst-Bewusstsein einsehbar: Das Verfügen über bzw. das Verwenden von signifikanten Symbolen (im kommunikativen Handeln) bringt eine Verhaltensweise hervor, in der das Individuum für sich selbst ein Objekt wird, weil die Rolle des Anderen (die Perspektive seines Gegenübers) im Augenblick des Gebrauchs derartiger signifikanter Symbole auch in ihm selbst gegenwärtig ist (vgl. Mead 1968: 180 f.). Eben weil signifikante Symbole mit Anderen geteilte Bedeutungen aktualisieren, machen sie zugleich auch die Perspektive dieser Anderen dem kommunikativ Handelnden selbst gegenüber deutlich.
Wurde diese Fähigkeit, in die Rolle des Anderen zu schlüpfen bzw. sich aus der Perspektive seines Gegenübers betrachten zu können, vorhin als Voraussetzung für die Entwicklung von Identität und Selbst-Bewusstsein erkannt, so erweist sich nunmehr der Gebrauch signifikanter Symbole im Rahmen interpersonaler Kommunikationsprozesse als elementare Bedingung für die Genese eines derartigen Selbst. Erst Kommunikation mit Hilfe signifikanter Symbole macht es dem Individuum möglich, nicht nur als Subjekt – als I – (kommunikativ) zu handeln, sondern sich damit (zugleich) auch aus der Perspektive des/der Anderen als Objekt – als Me – zu betrachten, d. h., in die Rolle des Gegenübers zu schlüpfen.
Mittlerweile existiert die empirisch (in experimentellen Studien mit Kleinkindern sowie mit Menschenaffen) gut belegte These, dass diese Fähigkeit zur Rollenübernahme ein wesentlicher Faktor in der Evolution menschlicher Kooperation gewesen sein düfte: Erst auf dieser Grundlage scheinen Individuen die Fähigkeit entwickelt zu haben, „miteinander einen gemeinsamen Akteur, ein ‚wir‘ zu schaffen, der sich geteilter Intentionen, geteilten Wissens und geteilter soziomoralischer Werte bedient“ (Tomasello 2020: 19). Kooperative – über Kommunikation koordinierte – Interaktionen könnten somit die Basis dafür gewesen sein, dass die Spezies Mensch in der Lage war, „einzigartige Prozesse kultureller Koordination und Weitergabe“ (ebd.) von Wissen auszubilden, ohne die globale Zivilisationsprozesse nicht vorstellbar sind.
Insgesamt wird mit dieser Einsicht in den Stellenwert von Kommunikation bei der Genese von Identität und Selbst-Bewusstsein aber auch ein dem Menschen gleichsam auferlegter Zwang zur Kommunikation deutlich! Der Mensch, im Gegensatz zu anderen Lebewesen unfertig geboren, muss durch den kontinuierlichen Erwerb seines Selbst lebenslang seine eigentliche (menschliche) Geburt vorantreiben und bedarf dazu der kommunikativen Begegnung mit anderen Menschen.
Damit sind nunmehr deutliche Hinweise dafür erbracht, dass der spezifisch menschlichen Kommunikationsfähigkeit elementare Bedeutung für die Menschwerdung – sowohl in phylogenetischer als auch in ontogenetischer Hinsicht – zuzuerkennen ist. Der Mensch, so wie er bis heute geworden ist und wie er täglich neu wird, ist ohne die nur ihm eigene Fähigkeit zur symbolischen Kommunikation nicht denkbar.
1Phylogenese meint die stammesgeschichtliche Entwicklung der Arten bis hin zur evolutionären Herausbildung der menschlichen Gattung aus dem Tierreich (= Anthropogenese). Im Gegensatz dazu fokussiert die Ontogenese auf die Entwicklung des einzelnen Individuums von seiner Geburt bis zum Tod.
2In seinem 1859 entstandenen Werk über die Entstehung der Arten griff Darwin die Idee von der Abstammung innerhalb der Organismuswelt auf, die schon im 17. Jhdt. bei Leibniz sowie im 18. Jhdt. bei Saint-Hilaire und Lamarck zu finden ist. Die große Leistung Darwins war es jedoch, erstmals eine Theorie der Entstehung der Arten von Lebewesen entwickelt zu haben. „In ihrem Mittelpunkt stand das Zusammenwirken zufällig entstandener erblicher Abweichungen einzelner Individuen und Teilen einer Population (…) und der natürlichen Selektion (Auswahl), die bestimmten Teilen einer (…) Population unter bestimmten Umweltbedingungen eine höhere Chance des Überlebens und einer relativ größeren Zahl von Nachkommen gibt“ (Wezler 1972: 304).
3So scheint es eine hierarchische Ordnung zu geben, nach der „alle höheren Kommunikationsprozesse Eigenheiten und Leistungen der niederen voraussetzen und diese auch übernehmen“ (Merten ebd.).
4Nur um einen Eindruck evolutionärer Zeitdimensionen zu geben: So glaubt man zu wissen, dass die Evolution von einem dem heutigen Spitzenhörnchen ähnlichen Tier bis zum Menschen etwa 75 Millionen Jahre dauerte (Bresch 1977: 264). – Der nun folgende kurze Abstecher in die Paläoanthropologie hält sich im Wesentlichen (wenn nicht anders vermerkt) an Soritsch (1974 und 1975).
5Der für die weitere Evolution so wichtige Übergang vom Wald in die offene Landschaft scheint ein noch nicht ganz erklärbarer Vorgang zu sein: „Einige Autoren meinen, es sei die direkte Folge verringerten Regenfalls gewesen, der die Ausdehnung des tropischen Waldes einengte und einen erhöhten Populationsdruck auslöste. Andere deuten ihn einfach als das Ergebnis des normalen Wettbewerbs im Bereich des Lebendigen, das die Erschließung aller erschließbaren Umwelten begünstigt“ (Soritsch 1975: 15).
6Wohl können Ansätze von Werkzeuglichkeit auch bei Tieren festgestellt werden; „echte“ Werkzeuglichkeit liegt nach Narr (1973) jedoch erst dann vor, wenn die Hinzufügung neuer, nicht vorgegebener Qualitäten hinsichtlich Form und Funktion des jeweiligen Gegenstandes beobachtbar ist – eine Eigenschaft, die schließlich auch mit neuen Erzeugungsweisen (Herstellung von Werkzeugen durch Werkzeuge) einhergeht (vgl. Soritsch 1974: 278).
7Ein evolutionäres Universalium ist für Parsons „jede in sich geordnete Entwicklung oder ‚Erfindung’, die für die weitere Evolution so wichtig ist, dass sie nicht nur an einer Stelle auftritt, sondern dass mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Systeme unter ganz verschiedenen Bedingungen diese ‚Erfindung’ machen“ (Parsons 1971: 55). Als einen „zusammenhängenden Satz von evolutionären Universalien“ sieht er (beginnend in der frühesten Menschheitsgeschichte) Religion, Kommunikation durch Sprache, soziale Organisation durch Verwandtschaftsordnungen und Technologie (ebd.: 58).
8Habermas nennt (in expliziter Anlehnung an Marx) vier kulturelle Universalien als Ausgangsbedingungen gesellschaftlicher Evolution: Produktion, Verkehrsform, umgangssprachliche Kommunikation und Ideologie (Habermas 1971b: 277 ff.).
9Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive meint Kultur die „Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen einer Gesellschaft, die durch Symbole über Generationen hinweg übermittelt werden,