Название | Carl Schmitts Gegenrevolution |
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Автор произведения | Reinhard Mehring |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935771 |
Stammler wie Binder sind heute als Autoren kaum noch bekannt. Während Stammlers Name wissenschaftsgeschichtlich fast nur noch in der Weber-Forschung fortlebt, durch den Vernichtungsschlag, den Weber12 gegen Stammlers „‚Überwindung‘ der materialistische[n] Geschichtsauffassung“ führte, diskredierte sich der juristische Rechtshegelianismus der Binder-Schule durch seine Apologie des Nationalsozialismus selbst. Wie Larenz andeutet, ist die rechtsphilosophische Diskussionslage vor und nach 1918 durch die Namen Stammler und Binder und die Aufgabe einer „Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie“ zwar nicht hinreichend bezeichnet. So wäre bspw. auch auf die sog. „Lebensphilosophie“ nach Dilthey und Nietzsche sowie die stärker „katholisch“ geprägte Rechtsphänomenologie zu verweisen. Wichtig ist aber, dass Schmitt sich mit seinem Frühwerk und seinen akademischen Qualifikationsschriften in dieser Diskussionslage verortete.
Seine Binder-Besprechung steht in einer Reihe kleinerer Rezensionen und Miszellen, in denen Schmitt sich mit zeitgenössischen Autoren auseinandersetzte. Die Erträge gehen in die frühen Monographien ein. Neben Miszellen zu Schopenhauer und Wagner sind hier vor allem Rezensionen zu Fritz Mauthner (1849–1923) und Walther Rathenau (1867–1922), Hans Vaihinger (1852–1933) und eben Binder (1870–1939) zu nennen. Vaihinger, der Begründer der Kant-Studien, Autor einer frühen Nietzsche-Studie, lehrte lange in Halle, wo auch Stammler in der Rechtswissenschaft wirkte. Seine Philosophie des Als-Ob modernisierte Kant mit Nietzsche.13 Schmitts frühe Vaihinger-Rezeption ist bleibend wichtig, was von der Forschung vielfach bemerkt wurde, wogegen die Mauthner-Rezeption und die Binder-Kritik bislang fast keinerlei Beachtung fanden. Die Mauthner-Rezension14 zeigt Schmitts frühes Interesse an Sprachkritik und Begriffsgeschichte, das in der Dissertation bereits im Untertitel als „terminologische Untersuchung“ anklingt. Die längere Binder-Rezension argumentiert stärker philosophisch und steht im engen Zusammenhang mit der Habilitationsschrift. Fragte Der Wert des Staates nach der neukantianischen Antwort über Stammler hinaus, so fragt die Binder-Rezension, ob es Binder gelungen sei, den neukantischen „Rechtsbegriff“ durch eine andere transzendentale Auslegung der „Rechtsidee“ zu überbieten.
Binder, deutlich jünger als Stammler (1856–1938), lehrte damals in Würzburg und wechselte 1919 nach Göttingen, wo er schulbildend wirkte. Sein offenes Bekenntnis zum Neuhegelianismus wird meist erst mit der Göttinger Zeit und der Philosophie des Rechts verbunden. Im Vorwort von Rechtsbegriff und Rechtsidee deutet Binder politische Motive an, wenn er von der „Erhebung des deutschen Volkes“ spricht: „Ist es nicht Hegels metaphysischer Geschichtsidealismus, nach dem unser die großen Ereignisse des Jahres 1914 erlebendes Gemüt verlangt, um den Sinn dieses Erlebens zu verstehen“?15 Schon 1915 klingt ein scharfer Nationalismus an, der Binder nach 1918 zur Ablehnung von Versailles16 wie der Weimarer Republik, später zur emphatischen Bejahung des Nationalsozialismus17 führen wird. Für die philosophische Grundlegung beruft sich Binder 1915 dennoch auf Kant. Wie Stammler ist er allerdings der Auffassung, dass Kant Sein und Sollen nicht strikt genug getrennt habe und „bei aller grundsätzlichen Gegnerschaft gegen das Naturrecht im Grunde doch in denselben Fehler wie dieses verfallen ist, nämlich das Seiende mit dem Seinsollenden zu identifizieren.“18
Schmitt liest Rechtsbegriff und Rechtsidee nun nicht als Übergang zum Neuhegelianismus, sondern als Rückfall in den Positivismus. Binders umfangreiches Werk heißt im Untertitel: Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Rudolf Stammlers. Binders Analyse geht Stammlers Werk spröde, kleinteilig und ermüdend durch und entwickelt noch keine alternative Rechtsphilosophie. Es ist hier nicht zu erörtern, ob Schmitt Binders Werk angemessen dargestellt und kritisiert hat. Seine Rezension liest sich wie eine Replik auf Binders Stammler-Kritik. Schmitt verteidigt Stammler aber nicht eingehend gegen Binder, sondern interessiert sich schon früh, Jahre vor Binders Systematisierung seiner Rechtsphilosophie, mehr für dessen Anspruch auf idealistische Revision und Überbietung des neukantianischen Rahmens durch eine neue „Rechtsidee“; Schmitt fragt danach, ob Binder über Stammler hinausgelangt oder nicht vielmehr hinter dessen Transzendentalismus zurückgefallen sei. Es ließe sich dafür Webers höhnische Wendung von „Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ adaptieren: Schmitt polemisiert gegen Binders idealistische „Überwindung“ von Stammlers Rechtsbegriff.
Binder bekennt sich 1915 noch zur Transzendentalphilosophie und nicht zur „Hegelschen Rechtsmetaphysik“ (SS 174). Schmitt führt aus, dass Binder zutreffend kritisiert, dass Stammlers Rechtsbegriff nur ein „System abstrakter Rechtsbegriffe“ und keine „reinen“ bzw. „transzendentalen“ Kategorien erfasst habe; er selbst hatte die rechtsphilosophische Aufgabe im Wert des Staatesähnlich beschrieben und zwischen „transzendentaler“ Rechtsphilosophie und „allgemeiner“ Rechtslehre (analytischer Rechtstheorie) strikt unterschieden. Als Zwischenergebnis formuliert Schmitt:
„Nach dem Ergebnis von Binders Kritik ist demnach selbst dem heißen Bemühen eines Gelehrten wie Stammler das mit den tauglichsten Mitteln begonnene Unternehmen einer reinen Rechtslehre misslungen. So wächst die Erwartung, auf welche Weise wohl Binder selbst den schmalen Weg des Transzendentalismus einschlagen wird, ohne von ihm nach der Seite einer transzendenten Metaphysik oder nach der eines empirischen Positivismus abzuweichen.“ (SS 176)
Der Leser ahnt bereits, dass Schmitt zu einem negativen Befund gelangen wird. Er führt ätzend aus, dass Binder hinter Stammlers Autonomisierung des Rechtssystems zurückgefallen sei, weil seine Überhöhung des Rechtsbegriffs durch eine apriorische „Rechtsidee“ – man ist versucht, von „Grundnorm“ zu sprechen – gänzlich bedeutungslos bleibe und den Normativismus faktisch in das Stadium des Positivismus zurückwerfe, der die Differenz von Macht und Recht kassiert. Schmitt schreibt: „Binder zieht die Positivität im faktischen Sinne in den Begriff des Rechts.“ Seine „Rechtsidee“ füge Stammlers „Rechtsbegriff“ nichts hinzu, bleibe ein „leeres Wort“ ohne „praktische Bedeutung“ (SS 179); Binder erkläre die apriorische Norm zur „Funktion des Bewusstseins, durch die wir gewisse Bewusstseinsinhalte als rechtliche erkennen“ (SS 177), und liefere keine Kriterien für die normative Bewertung, sodass im Ergebnis nichts anderes als die faktische Anerkennung des gegebenen Rechts bleibe. Das zeigt Schmitt im zweiten Schritt für Binders Verhältnisbestimmung von „Recht und Ethik“, die die sittliche Persönlichkeit mit ihrer positivrechtlichen Umschreibung gleichsetze. Im Ergebnis spricht Schmitt von einer unkritischen „Abkehr von dem Kantischen Prinzip“ und vom „Vorbau einer positivistischen Rechtslehre“.
Schmitt verwirft also Binders „Rechtsidee“ insgesamt und betrachtet das ganze Werk als Rückfall in den Positivismus. Er erörtert das insbesondere an zwei Aspekten: am psychologistisch-intuitionistischen Fehlschluss, die Anerkennung von Rechtsnormen für „apriorisch“ zu halten, sowie an der Absorption jedes ethischen Verständnisses von Personalität durch das positive Recht. Beide Aspekte waren schon für die Habilitationsschrift zentral. Dort attestierte Schmitt der neukantianischen Debatte eine mangelnde Klärung des Verhältnisses von Recht und Ethik, und er deutete die positive „Bewertung“ des Rechtssystems und damit gegebene Unterscheidung von Macht und Recht als ein soziologisches und religionsphänomenologisches Faktum.
Während Schmitt eine eigene philosophische Grundlegung der Ethik jenseits des Rechtsdenkens niemals unternahm, ist seine Ablehnung von Binders Kurzschluss von Rechtsbejahung auf Apriorismus vielleicht schon deshalb so vehement, weil seiner eigenen Antwort, mit dem Verweis auf die Antworten des Kirchenrechts, ihrerseits ein Odium des Soziologismus und Psychologismus anhaftete. Das zeigt sich im Wert des Staates schon in der hegelianisierende Rede vom Umschlag von „Quantität in die Qualität“, von der Quantität als „Symbol oder Indiz einer Qualität“ (WdS 35): gemeint ist das soziologische Faktum einer Anerkennung des Rechtssystems durch die Unterworfenen. Dass Schmitt diese Anerkennung voraussetzt und religionsphänomenologisch