Els. Christine Fischer

Читать онлайн.
Название Els
Автор произведения Christine Fischer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858826497



Скачать книгу

Mittag. Els ist es sich nicht gewohnt, so weit in den Tag hinein zu schlafen. Schmerzhaft drückt ihr Gehirn an Schläfen und Augäpfel. Ein Kater, denkt Els und lächelt. Ein Badewonnenkater. Arco hätte keine Freude gehabt an einem Kater.

      Sie schaltet das Radio ein. Els hat den Vorrat an Batterien in Hörzeit umgerechnet. Drei Stunden pro Tag stehen ihr zur Verfügung. Drei Stunden sind zwar eine stattliche Zeiteinheit, doch was an einem Tag reichlich erscheint, wirkt am andern Tag knapp. Wie eine Kerkerhaft bei Wasser und Brot. Zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Der Mangel sendet eine Botschaft: Man hat es nicht besser verdient.

      Na, komm her, komm schon her. So ist’s gut.

      Bist ein Braver, ein ganz Braver.

      Ruhig, mach Platz. Da ist nichts.

      Platz, sag ich. Ja, so ist’s gut.

      Dieser Tag ist Els entlaufen. Er wird nicht mehr einzuholen sein, so viel ist sicher. Alle paar Stunden wird er sich nach ihr umdrehen und ihr eine lange Nase drehen. Bäh, ich bin schon längst da, wird er rufen und munter weiterhüpfen, während sie ihm hinterherhinkt und grollt. Einem jungen Tag ist sie nicht mehr gewachsen. Sie wird ihm ihr eigenes Tempo entgegenhalten müssen, den langsamen Reigen sich abwechselnder Tätigkeiten, das Gewölk regelloser Gedanken, die Suche nach einer Ordnung, einer Abfolge der Dinge, die Stille und das Vergessen der Stille im Geschwätz des Gehirns. Els hat Hunger.

      Während das Kaffeewasser heiss wird, geht sie zum Bunker, um Margarine und Käse zu holen. Der Bunker stammt aus dem Ersten Weltkrieg, ein in den Fels gehauenes Verlies mit einer granatensicheren Eisentür. Der Permafrost macht es zu einem begehbaren Kühlschrank. Mehrere Familienpackungen Eiscreme bewahrt Els in einer Styroporkiste darin auf. Erdbeer mit Vanille, ihre Lieblingssorte. Gustav und Jan-Erik, die beiden Männer, welche die Hütten im April auf ihren Motorschlitten besuchen und mit dem bestellten Material versorgen, mussten nicht schlecht gestaunt haben: Keine einzige Büchse Leichtbier, aber Unmengen von Eiscreme. Nur eine gestandene Sünde ist eine gute Sünde, hatte sich Els im Frühling beim Ausfüllen des Bestellformulars gesagt und ihren Sonderwunsch handschriftlich hinzugefügt. All die Jahre zuvor hatte sie sich dies nicht gegönnt. Sie wollte keinesfalls als naschhaft gelten. Es wäre gleichbedeutend gewesen mit unzuverlässig. Doch in diesem Jahr hatte die Sünde kampflos gesiegt. Sollten sie sich ruhig über sie den Mund zerreissen. Das Speiseeis war tatsächlich in der gewünschten Menge geliefert worden. Els stellte es mit Genugtuung fest. Selbst in Schweden wiesen Systeme Lücken auf, in denen eine Schrulle Platz fand. Als Grussbotschaft hatten die beiden Männer einen Zettel mit einem grossen, leckenden Smiley hinterlassen, und Els hatte ihn an den Lebensmittelschrank in der Hütte gepinnt. Gustav und Jan-Erik, zwei Kerle wie Hammer und Amboss.

      Die Bunkertür hängt nicht lotrecht, sondern im Schutze eines überhängenden Felsens nach hinten geneigt in den Angeln. Die Schwerkraft macht sie zur Panzertür. Els kann sie nur mit Mühe öffnen. Für Nagetiere ist die Vorratskammer eine uneinnehmbare Festung. Armer Feind, murmelt Els, denkt an die nadelfeinen Zähnchen der Mäuse und Lemminge, an ihre durchsichtigen Krällchen. Kühle Luft schlägt ihr entgegen. Es riecht nach gar nichts, nach Stein vielleicht, nach Fels und ewiger Verbannung. Arco hätte diesen Geruch genau taxieren, er hätte diesen Nichtgeruch lesen können wie die Seite eines abenteuerlichen Buches. Wie spannend muss es für ihn gewesen sein, zu leben und seine Nase durch den Tag zu tragen, denkt Els.

      Sie nimmt ein vakuumiertes Stück Käse und die Dose mit der Margarine aus dem Regal. Der Käsestapel kommt ihr niedriger vor, als sie ihn in Erinnerung hat. Dieser Eindruck mag vom grellen Lichteinfall von aussen her rühren. Oder von ihrem hungrigen Magen. Eiscreme wird es später geben, erst am Abend, so hat sie es mit sich ausgemacht, eine Belohnung für etwas, was Els vage mit Verleben bezeichnet. Es ist mehr als Überstehen und weniger als Verbringen. Die Tage und Stunden in dieser Abgeschiedenheit pendeln zwischen Anpassung und Widerstand. Sie sind reich und arm in einem, sie sind ausgefüllt, und sie sind leer. Genau wie die Wanduhr brauchen sie einen Schlüssel, der ihr Werk regelmässig aufzieht. Der Schlüssel heisst Aufmerksamkeit. Bald gilt es, Gewohnheiten zu folgen, bald sie zu brechen. List ist ebenso gefragt wie Routine. Und Disziplin ist alles. Doch heute steht die Disziplin auf verlorenem Posten. Els kann der Kiste aus Styropor nicht länger widerstehen. Sie öffnet den Deckel, entnimmt ihr eine angebrochene Packung Eis und bohrt den Zeigefinger tief in die kalte, halbfeste Masse aus Zucker, Rahm und Aroma.

      Anne hatte ihr Dessert gemocht. Els hatte die Eiscreme für sie mit heissem Moltebeermus und den besten Biskuits dekoriert. Sweet and sour, hot and cold!, hatte Anne gelacht. Lappland, hatte Els gemeint. Sie hatte Anne mit dem Feldstecher bereits seit einer Stunde beobachtet. Anne war am späten Nachmittag als roter Fleck im Einschnitt beim östlichen Grat erschienen, der so etwas wie den Passübergang von Sälka nach Hukejaure darstellt. Lange hatte der rote Fleck dort oben verharrt, umgeben von viel Weiss und wenig Schwarz, und es hätte auch ein Mann sein können. Els’ erster Gast. Jedes Jahr gab es einen ersten Gast, und noch nie hatte sich Els darüber gefreut, den Umstand vielmehr hingenommen, handelte es sich doch um den Kern ihrer Aufgabe: das Beherbergen von Wanderern. Es war ihr gutes Recht, in Els’ Einsamkeit einzubrechen, sie mit den immer gleichen Fragen zu ermüden, Schmutz und Lärm über die Schwelle zu tragen, übelriechende Pastasaucen zu kochen, die Nächte durchzuschnarchen, das Plumpsklo zu besetzen und schliesslich allem wieder den Rücken zu kehren, den Abfall zurückzulassen, den Abfall und Els und diese nette kleine Hütte, die für Els mehr ist als eine Unterkunft: ein Fluchtort vielleicht, eine Heimat auf Zeit.

      Els kennt viele verschiedene Heimaten. Am besten kennt sie die Heimat des Dazwischen. Es ist genaugenommen gar keine Heimat, doch Els hat sie dazu gemacht. Weil sie nicht zeitlebens eine Nomadin hat bleiben wollen, hat sie sich irgendwann die Heimat des Dazwischen erschaffen. Das Dazwischen ist ein grosser, veränderlicher Kreis, eigentlich eher ein unregelmässiger Fleck, wie eine Wasserlache auf einem Hüttenboden, der sich ausdehnen, sich vervielfachen, wieder trocknen und verschwinden kann. Diesen Fleck hat Els in Unterheimaten aufgeteilt. Es gibt für sie zwei Heimaten der Sprache, deutsch und schwedisch, es gibt die Heimat der Kindheit, die Heimat des Erwerbslebens, die Heimat des Alters. Es gibt die Heimat mit Menschen, die Hunde- und Vogelheimat und die Heimat mit Bergen. Die Wasserheimat und die Winterheimat. Els ist sich nicht sicher, ob es auch eine Heimat der Liebe gibt. Die Heimat der Sommermonate ist Hukejaure.

      Der Bunker ist kein Ort zum Bleiben. Els fröstelt. Sie lutscht noch einmal am Zeigefinger, dann verstaut sie die Eispackung wieder in der Kiste. Rasch tauscht sie die Kühle des Bunkers gegen die Kühle im Freien. Ächzend bewegen sich die Scharniere, mit einem Dröhnen schlägt die Türe zu. Sie bleibt auch winters unverschlossen, damit zur Not vier erschöpfte Skiläufer hier Unterschlupf finden können. Er ist mit einem kleinen Gasofen und einer Petrollampe ausgerüstet, der Boden ist mit Holzbohlen isoliert. Ausserdem ist auf der Südseite der Felskuppe, unter welcher der Bunker liegt, ein Solarpanel montiert. Der Akku speichert so viel Strom, dass es im besten Fall für ein paar Stunden Schummerlicht reicht oder dafür, das Nottelefon zu betätigen. Die kleine Solaranlage ist Gustavs und Jan-Eriks ganzer Stolz. Mit grosser Sorgfalt überprüfen sie zweimal jährlich ihre Funktionstüchtigkeit. Photovoltaik-Inselanlage i. O., schreiben sie in ihren Rapport, obwohl auf Hukejaure von Inseln weit und breit nichts zu sehen ist. Die Hütte selber ist nur in den zehn Sommerwochen offen. Els wird sie spätestens Mitte September dichtmachen und erst wieder zu neuem Leben erwecken, wenn sie sich zur Zeit der nächsten Schneeschmelze von Sitasjaure heraufgekämpft haben wird. Mit Glück und Entschlossenheit wird es vielleicht noch einmal zu schaffen sein. Nur einmal noch. Kein Klement wird sie davon abbringen. Für jeden Menschen gibt es ein anderes höchstes Glück, denkt Els. Die Sommer hier sind kurz, doch sie hat für sich eine andere Zeitrechnung erfunden. Jeder Tag, der keine Nacht kennt, zählt doppelt.

      Els schlüpft in ihre Pantoffeln, deckt den Tisch und setzt sich. Schon aberhundertmal ist sie in Pantoffeln an diesem Tisch gesessen, und nie fand sie daran etwas auszusetzen. Im Gegenteil. Erst an ihrem Tisch sitzend fühlte sie sich auf Hukejaure richtig zu Hause. Doch heute will nichts richtig sein. Els bewegt die Zehen. Die Pantoffeln, gross und bequem wie zwei Lemmingnester, wollen sich nicht wohlig anfühlen. Auch der Tisch scheint für grössere Menschen gemacht, als Els einer ist, für baumlange Skandinavier mit schlaksigen Gliedern. Neben ihnen ist Els bloss ein Häufchen Mensch, mit jedem Jahr wird ihr Rücken krummer,