Els. Christine Fischer

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Название Els
Автор произведения Christine Fischer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858826497



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ich noch länger bleiben, Mama?

      Länger bleiben, Kind, wozu?

      Weil es schön ist. Bleiben ist schön.

      Darf ich noch bleiben?

      Nein, du brauchst deinen Schlaf. Komm, alles

      Schöne hat einmal ein Ende.

      Els nimmt einen Stein und schleudert ihn auf den See hinaus. Er landet auf einer Eisscholle, die vom Wind ans südliche Ufer getrieben wird, bleibt an der Oberfläche, im Licht. Kurzer Aufschub. Spätestens in einer Woche wird die Scholle geschmolzen und der Stein verschwunden sein, für immer. Keinem menschlichen Auge jemals mehr sichtbar, keiner Hand mehr greifbar. Plötzlich tut es weh, den Stein gekannt zu haben. Eine Seeschwalbe fliegt auf und verschwindet in der weissen Sonne. Gute Reise, murmelt Els und kneift die Augen zusammen. Sie will nicht wissen, wem genau ihr Wunsch gilt. Sie steht da, während anderes weggeht. Während alles weggeht.

      Prüfend lässt Els ihren Blick über die Grate gleiten, um ihn dann im Schwebeflug zurückzuführen, bis er auf den Kieseln vor ihren Füssen landet. Sie atmet auf. Zumindest ihren Augen kann sie noch trauen! In die Weite sieht sie scharf wie eh und je, nur fürs Lesen ist sie auf die Brille angewiesen. Lesen. Viel lieber als Gedrucktes liest Els in den Geschichtsbüchern der Landschaft, des Gesteins, der Vegetation. Und soviel sie auch in diesen voluminösen Werken liest, sich in die Texte versenkt, noch nie hat sie eine Stelle daraus auswendig aufsagen können. Als veränderte sich der Text laufend mit dem Lesen. Sie hatte mit Klement darüber gesprochen. Das ist das Wesen guter Bücher, hatte Klement gemeint. Er muss es wissen, verbringt er doch das Winterhalbjahr mit Lesen. Am liebsten sind ihm Geschichten, die in fremden Kulturen spielen, in Armenien, im Kongo, bei den Maori, und Magazine, welche die Natur zum Thema haben. Während Klement liest, ist Els eine, die schaut. Wie lange noch wird sie im Bilderbuch Lapplands blättern können? Was ihr so lange Jahre selbstverständlich schien, droht jetzt zu zerfleddern.

      Erst ein paar Tage ist es her, dass sie den Gewaltmarsch von Sitasjaure herauf zurückgelegt hat, und bereits läuft er in ihrem Hirn ab wie ein Film. Bilder reihen sich aneinander, Blenden wechseln sich ab. Was keine Darstellung erfährt, ist die Monotonie des Gehens, der Überdruss, der sich wie Bremsklötze in den Gelenken festsetzt. Das Gewicht des Rucksacks, der sich mit Steinen aufzufüllen scheint. Was musst du all diese Salbentöpfe und Giftfläschchen mit dir hochschleppen, hatte Klement geschimpft, willst du ein Lazarett einrichten auf Hukejaure? Die Landschaft hatte allmählich ihren Charakter gewechselt, war wild geworden, statt öde zu sein. Noch rang der Winter mit dem Frühling. Immer zögerlicher gaben die Schneefelder die Vegetation der Tundra preis, matte Töne von Grün, Grau, Ocker und Braun. Felsblöcke ragten aus dem Schnee, als wären es Helme gefallener Riesen.

      Irgendwann war es geschafft gewesen. Das nach Norwegen führende Hochtal mit seiner Ansammlung von Seen und Tümpeln tat sich auf. Die Hütte von Hukejaure lag auf der Anhöhe zwischen Felstrümmern. Die erste Behausung nach der Erschaffung der Erde in einer Landschaft, in der sich Wasser und Land noch nicht gänzlich geschieden hatten. Eine vorsprachliche, eine stammelnde Welt. Der Himmel hatte sich mit dunklen Wolken überzogen. Aus den Lücken und Rissen fiel ein giftgelbes Licht auf die Szenerie und liess die Moorwasser aufblitzen wie Augen von Raubkatzen. Els blieb stehen. Sie glaubte, keinen Schritt weitergehen zu können. Hukejaure gehörte einer anderen Epoche an. Sie hatte kein Recht, hier einzudringen. Sie war ein Fremdkörper. Sie würde entweder Vernichtung bringen oder aber vernichtet werden.

      Doch Stehenbleiben war keine Lösung, die getaugt hätte. Nicht im Fjell. Wer im Tal unten stehenbleibt, wird von den Mücken gefressen. Wer es hier oben versucht, versteinert. Auch jetzt kann Els nicht stehenbleiben. Etwas ruft, immerzu. Wenn es nicht die Pflicht ist, dann ist es die Neugier, oder die Lust. Langsam steigt Els den Pfad hoch. An vielen Stellen ist er noch von schmutzigem Schnee bedeckt. Man sieht die Fussspuren derer, die in den letzten Tagen hier Wasser geholt haben. Els. Anne. Ein Lemming. Erst gestern noch hat Anne für sie zwei volle Eimer vom See zur Hütte hochgeschleppt. Es ist eine Ewigkeit her. Mein Abschiedsgeschenk, hatte die junge Frau mit jenem kurzen Auflachen gesagt, welches für Els in nur drei Tagen ein Stück Anne geworden war.

      Els weiss, sie sollte sich beeilen. Bestimmt kocht das aufgesetzte Restwasser in der Hütte bereits. Sie könnte wieder nachgiessen, auf die Geräusche des sich erhitzenden Wassers lauschen, erneut Dampf erzeugen, schwitzen, weiterkochen, Wasser wegkochen, alle Wasser von Hukejaure, das ganze Wasserschloss Lappland verkochen, kochen bis ans Ende ihrer Tage. Els beisst sich auf die Lippen. Welcher Teufel reitet sie? Sie sollte Gas sparen. An allem sollte sie sparen. An Gas, an Waschmittel, an Schokolade und an ihren Kräften. An ihren Gedanken sollte sie sparen und an Gefühlen, die den Kreis ihres Sommeraufenthaltes sprengen. Sparen aufgrund von etwas, sparen für etwas. Sparen fürs Leben, sparen aufgrund des Todes. Oder umgekehrt. Am Sparen zugrunde gehen.

      Was ist in dieser Schachtel, Kind?

      Es sind Bonbons.

      Wozu liegen sie in der Schachtel?

      Magst du keine Bonbons?

      Doch, aber der Pfarrer sagt, Bonbons gehören

      in eine Schachtel unters Bett.

      Warum denn?

      Weil man dann in den Himmel kommt.

      Els hört die Stimme von Instruktor Sörensen in ihrem Kopf sprechen. Eine Hüttenwartin sollte stets massvoll sein und die Ressourcen mit Vernunft verwalten. Sämtliche Ressourcen, die eigenen und diejenigen, welche die Natur nördlich des Polarkreises zur Verfügung stellt, bald verschwenderisch, bald in kargen Dosen. Wind und Wasser, Licht und Wärme, Fauna und Flora, Raum und Zeit. In der Not kann das Haushalten mit Gütern, können eisern gehütete Vorräte lebensrettend sein. Als Vorräte gelten auch geistige Schätze, das Wissen, die Tatkraft, die Schläue; diese Lektion hat Els gelernt, damals in der Schulung bei Sörensen und vor allem in der Schule der Erfahrung. Sie gibt sich nicht die Mühe, die Jahre ihrer Lehrzeit in Lappland zusammenzuzählen. Sie bräuchte dazu mehr als alle Finger ihrer Hände, sie bräuchte drei Hände, vier Hände. Doch die Finger und Hände, die Arme, Schultern, die Sehnen ihrer Beine, Füsse und Zehen, die Muskulatur ihres Rückens und Beckens haben im Moment anderes zu tun. Sie tragen und befördern das Gewicht und das Volumen von Wasser, den Nutzen von Wasser: Trinkwasser, Kaffeewasser, Kochwasser.

      Nach einer Verschnaufpause ist Els mit den Eimern zurück in der Hütte. Sie findet ihr Wohnabteil in dichten Dampf gehüllt. Als ob jemand einen Sauna-Aufguss gemacht hätte. Doch eine Sauna gibt es nicht auf Hukejaure, nebst der dreiteiligen Wohnbaracke gibt es nur einen Geräteschuppen und das Klohäuschen. Wo wollte man, hoch über der Baumgrenze, Brennholz für eine Sauna hernehmen? Und wo die Menschen, die einer Badestube, einer «Bastu», zusprächen? Für Els alleine würde sich der Aufwand nicht lohnen. Sie hat zwar von jungen Leuten gehört, die einer Sauna zuliebe einen Umweg von zwanzig Kilometern in Kauf nähmen, sommers wie winters. Für Els nichts als närrisches Getue. Etwas für verwöhnte Studenten, die gerne Überlebenskampf im Hohen Norden spielen. Els kennt die Sorte. Sobald die Wege begehbar werden, tauchen sie hier auf und lassen ihre Rucksäcke auf die Treppe poltern. Ihr will scheinen, es handle sich Jahr für Jahr um dieselbe Handvoll junger Leute. Im Aussehen, in der Haartracht, der Grösse, in ihrer Ausrüstung und in ihrer Art, sich zu bewegen und miteinander zu sprechen ähneln sie sich wie ein Ei dem andern. Sie kommen, sehen und siegen, stark, gesund und schön. Nichts scheint sie zu kümmern ausser der Exotik ihres Erlebens. Es sind alles Wiedergänger, denkt Els bitter.

      Sie mustert den Fussboden. Die Wasserflecken auf den rohen Dielen sehen aus wie ein Archipel aus der Vogelperspektive. In einem Blitzlicht taucht ein blaues Holzhaus mit weissen Tür- und Fensterrahmen in den Stockholmer Schären auf, ein einsames blaues Holzhaus mit einem Zimmer im oberen Stockwerk, das sie manchmal betritt, um dort nichts zu tun, als vom Schreibtisch aus durchs Fenster auf eine Kiefer zu blicken, Arcos struppiges Fell zu kraulen und den Duft von Holz, Sauberkeit und Licht einzuatmen. Svartlogafjärden. Els beisst sich auf die Lippen, das blaue Holzhaus verschwindet, es bleiben die nassen Planken im Wohnabteil der Hüttenwartin von Hukejaure und der Eindruck, es handle sich um vergnügte nasse Planken.

      Els, Els, komm mit! Wir heizen ein,

      bis