Stromlos. Veronika R. Meyer

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Название Stromlos
Автор произведения Veronika R. Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302021



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Fernseher und Fenster gefangen. Als gegen elf Uhr Polizei- und Sanitätswagen mit Geheul am Spisertor vorbei rasten, schaute er wieder hinaus und sah, wie die Steinachflut von der Moosbruggstrasse her den Platz erreichte und den Verkehr zum Erliegen brachte. Wer Auto fuhr, traute sich nicht weiter, und dem Lokomotivführer der Trogenerbahn erging es offenbar gleich. Doch bereits nach einer Viertelstunde versiegte das Wasser, und es kehrte so etwas wie Normalität ein. Dass endlich auch der Regen nachliess, bemerkte Gottlieb allerdings nicht. Er ging zum Mittagessen, das eine Abwechslung bot, aber seine düsteren Gedanken nicht vertreiben konnte. Doch dann verwünschte er sich, dass er an diesem Tisch sass, eine liebevoll angerichtete Mahlzeit vor sich; als nämlich die Serviceangestellte bemerkte, in der Mülenenschlucht seien zwei Mädchen umgekommen. Die Diskussionen, welche ohnehin nicht lebhaft gewesen waren, verstummten. Wahrscheinlich ging es den meisten ähnlich wie Gottlieb: Man kam sich hilf- und kraftlos, unnütz und sehr alt vor. Wenn selbst Polizisten und Sanitäter, die vor einer Stunde vorbeigeheult waren, nichts ausrichten konnten, was könnte man denn selber tun, wie helfen?

      Gegen fünf Uhr nachmittags wurde jedermann, der wie Gottlieb Wegelin vor einem Fernseher sass, Zeuge des Dammbruchs bei Bern und der riesigen Flutwelle, welche die Neubrügg zerstörte, unter der Halenbrücke durchjagte, die leichte Konstruktion des Stegmattstegs mühelos in Stücke brach und von Kappelen- und Wohleibrücke kaum gebremst wurde – wobei diese beiden Bauwerke vermutlich stark beschädigt wurden. Nach dem letzten Hindernis schoss die Wasserwand über den Wohlensee. Soweit man dies anhand der von den Helikoptern aus gefilmten Videos beurteilen konnte, wurde sie nicht kleiner. Sie wirkte sehr schnell, und doch dauerte es unerträglich lange, bis sie nach den letzten Windungen des Sees das Flusskraftwerk Mühleberg mit Maschinenhaus und Staumauer erreichte.

      Während mehr als einer halben Stunde drückten und zerrten die Fluten an der Mühleberg-Staumauer. Vor wenigen Jahren war sie mit Stahlpfählen verstärkt worden. Gewaltige Wassermassen schossen über die Entlastungsklappen neben dem Maschinenhaus und stürzten in die Tiefe; ein Niagarafall im Bernbiet. Allerdings mit dem Unterschied, dass der Mühlebergfall im braunen Wasser auch ein ausgedehntes Mikadospiel aus Bäumen mitführte, welche zum Teil am Stauwehr zersplitterten und nach dem Fall in den Wasserwalzen verschwanden, um viel weiter flussabwärts wieder an der Oberfläche zu erscheinen. Andere Bäume gingen nicht zu Bruch, sondern türmten sich oberhalb des Wehrs wie vorher beim Damm bei der Seftau. Aber die Staumauer hielt. Glück gehabt.

      Um 17.52 Uhr kippte sie mitsamt dem Maschinenhaus um wie ein Spielzeug. Es war entsetzlich zu beobachten, wie das zwanzig Meter hohe Bauwerk dem Wasserdruck nachgab. Die neuen Pfähle hatten als Hebel gewirkt. Jetzt stürzte nicht nur die gewaltige Abflussmenge der Aare in die Tiefe, sondern der See selbst entleerte sich. Eine unvorstellbar mächtige Wasserwand eilte zügig dem nahen Kernkraftwerk zu. Bäume, Geschiebe und Schlick aus dem Seegrund eilten mit.

      Das Kernkraftwerk war seit einigen Stunden abgestellt, aber wegen der Nachzerfallswärme der Brennelemente fiel immer noch eine Leistung von siebzig Megawatt an, die durch gepumptes Kühlwasser in die Aare abgeführt wurde. Die Pumpen bezogen den nötigen Strom aus dem allgemeinen Netz, weil das Werk selber nun nichts mehr produzierte.

      Sekunden nach der Zerstörung der Staumauer erreichte die Flut die obere elektrische Unterstation am linken Aareufer und setzte sie unter Wasser. Zwei Minuten später wurde die untere Station ebenfalls überflutet. Damit war das Kernkraftwerk vom allgemeinen Stromnetz getrennt. Die mit Diesel betriebene Notstromanlage startete dank der Versorgung mit Notstrom-Batterien selbständig.

      Um 17.55 Uhr spülte die Front der fünf, sechs Meter hohen Wasserwand über das Kernkraftwerk. Sie führte eine Flut an, die während Stunden anhielt.

      Um 18.01 Uhr war das Maschinenhaus mit den Generatoren überflutet. Das Wasser stieg und stieg, drang in die Nebengebäude ein. Was dort gelagert wurde, war vorerst verloren.

      Um 18.05 Uhr wurden die Notstromanlage und die Batterien überflutet, weil sie seinerzeit in einem tief gelegenen Raum installiert worden waren, und fielen aus. Die konventionellen Kühlsysteme arbeiteten nicht mehr.

      Jetzt sprang das Spezielle Unabhängige System zur Abfuhr der Nachzerfallswärme, lustigerweise Susan genannt, an. Es musste mit seinen eigenen Dieselgeneratoren die Notkühlung gewährleisten. Tatsächlich funktionierte das System wie vorgesehen.

      Um 18.23 Uhr schaltete sich Susan wieder ab. Ursache war vermutlich die Verstopfung der in der Aare positionierten Röhre, welche die Kühlwasserzufuhr ermöglichen sollte. Die Öffnungen in der Röhre waren mit Geschiebe, Schlick und Bäumen zugepackt.

      Der Stromausfall war total. Auch so triviale Systeme wie elektrische Türöffner, Lifte, Beleuchtung oder die Auslesegeräte für die Dosimeter der Angestellten funktionierten nicht mehr. Die Computer stürzten ab, der Mailverkehr war verunmöglicht und die interne Kommunikation funktionierte nur noch mit den Mobiltelefonen oder indem man den Gesprächspartner aufsuchte. Die Leit- und Steuerungstechnik war jedoch dank ihrer eigenen Notstrombatterien noch funktionsfähig, jedenfalls für die nächsten Stunden.

      Das Kernkraftwerk hätte jetzt dringend etwa zwei Megawatt Notstrom benötigt. Es war unmöglich, die dazu erforderlichen Dieselaggregate rasch an Ort und Stelle zu bringen. Alle Zufahrtsstrassen waren überflutet wie auch das Werksgelände. Der Druck im Reaktor wurde abgesenkt, so dass er mit Kühlwasser aus einem Hochreservoir versorgt werden konnte. Bei dieser heiklen Operation wurden zahlreiche Brennstabhüllen beschädigt, weil sie sich zwischenzeitlich erhitzt hatten und sich beim Kontakt mit dem kalten Wasser Risse bildeten. Radioaktivität trat in den Reaktor aus. Der Druck stieg gefährlich an, so dass der sich bildende Wasserdampf in das Reaktorgebäude abgelassen werden musste, welches dadurch radioaktiv verseucht wurde.

      Um 1.34 Uhr nachts ereignete sich im Innern des Reaktorgebäudes eine Explosion, wahrscheinlich wegen der Bildung von Knallgas aus Wasserstoff, der aus dem beschädigten Reaktor entwich, und Luftsauerstoff. Teile des Dachs wurden weggesprengt, Radioaktivität trat in die Umgebung aus. Der Wind kam von Westen, allerdings war er nur schwach, aber er verfrachtete den radioaktiven Staub Richtung Bern.

      In St. Gallen verfolgte Stadtpräsidentin Gisela Löpfe die Vorgänge in Mühleberg mit grösster Unruhe. War denn nicht der heutige Tag schrecklich genug gewesen? Zwei tote Mädchen wegen des Hochwassers. Dass die Feuerwehr den ganzen Nachmittag lang mit dem Auspumpen von überschwemmten Kellern beschäftigt gewesen war, hatte sie dagegen kaum zur Kenntnis genommen. Aber diese neue Katastrophe! Eine geborstene Staumauer und ein überschwemmtes, unkontrollierbares Kernkraftwerk. Eine radioaktive Wolke aus Mühleberg könnte ohne Weiteres bis nach St. Gallen reichen. Löpfe befragte das Internet und nahm zur Kenntnis, dass die Distanz bis zum Unfallort hundertsiebzig Kilometer betrug. So nahe wie jetzt hatte sie sich Bern noch nie gefühlt, pflegte sie doch sonst gerne das uralte Klischee, wonach die Ostschweiz für Bundesbern nicht existiere. Sie wünschte sich, dass die Welt hinter Winterthur, das heisst westlich davon, aufhören möge. Sollten Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung getroffen werden? Sie bestellte die Stadtregierung per Mail zu einer ausserordentlichen Sitzung am nächsten Vormittag – und nach kurzem Nachdenken gleich auch noch die sieben kantonalen Regierungsräte. Spätabends, aber immerhin noch vor Mitternacht, liess sie sich ins Bett fallen und träumte von diffus katastrophalen Ereignissen, gegen die sie ankämpfte, aber mit ihren Massnahmen immer zu spät kam; vielleicht waren es auch die falschen Massnahmen, jedenfalls warfen unidentifizierbare Bedrohungen ihre eiskalten Schatten über die Stadt und löschten alles Lebensglück aus.

      Während der Nacht war es ausserordentlich schwierig, im Kernkraftwerk irgendwelche Notmassnahmen zu treffen, nicht zuletzt, weil die Anlage grösstenteils im Dunkeln lag. Nur noch wenige Notstrombatterien waren funktionsfähig, und manche Gebäude waren wegen der grossflächigen Überschwemmung kaum erreichbar. Sämtliche Untergeschosse waren überflutet. Mehrere Personen wurden vermisst. Nach der Explosion zeigten die noch verfügbaren Messgeräte steigende Strahlungswerte. Das beschädigte Reaktorgebäude durfte von ausgewählten Mitarbeitern nur kurzzeitig betreten werden, was aber ohnehin bald vom Schichtleiter verboten wurde, weil dort nichts auszurichten war. Herumliegende Trümmer hatten weitere Teile der Anlage in Mitleidenschaft gezogen, und sie erschwerten den Zugang zu kritischen Stellen. Die Devise hiess Kühlung, Kühlung, Kühlung, was aber nur einigermassen gelang, solange das Hochreservoir