Wenn Schattenmächte weichen. Judith Berger

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Название Wenn Schattenmächte weichen
Автор произведения Judith Berger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783946435112



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und Vertrieb: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg · www.tredition.de

      1. Auflage (Version 1.1)

      978-3-949720-00-0 (Paperback)

      978-3-949720-01-7 (Hardcover)

      978-3-946435-11-2 (E-Book)

Kapitel 1 Lichtung des Geheimnisses

      Zarte Hände, hell wie Porzellan, legten behutsam einen frisch gepflückten Blumenstrauß auf die dunkle Erde direkt unter das Holzkreuz. Die Sonne beschien die Farbenpracht und brachte sie zum Leuchten. Mila ließ die Strahlen auf ihrer Haut tanzen. Schaute dem Spiel aus Licht und Schatten zu. Die Natur war durcheinander. Blumen um die Wintersonnenwende. Doch es war schön. Genau so schön, wie die Sonnenstrahlen im Wald. Mila sog den Duft von feuchtem Moos und würzigen Tannen tief ein. Und noch viel schöner war diese Lichtung. Hier stand die Zeit still. Hier wohnte Ruhe, die Kraft der Bäume und das Zwitschern der Vögel. Hier war der Ort des Seins. Vielleicht zog es Mila deshalb täglich hierher.

      Ein Windhauch strich ihr durchs Haar.

      „Hell wie das Mondlicht“, hatte Oma immer gesagt, wenn sie sie gebürstet hatte, „und schimmernd wie flüssiges Silber.“ Stundenlang hätte die alte Frau ihre Haare bürsten kann. Viel länger, als ein kleines Mädchen stillsitzen kann. Doch wann immer Mila angefangen hatte mit den Beinen zu zappeln, hatte Oma gelacht und gesagt: „Ab mit dir. Spring mit dem Wind, hüpfe im Regen und tanze im Licht.“

      Inzwischen war sie kein Kind mehr. Morgen würde sie 16 Jahre alt werden und damit erwachsen. Ihre Haare hatte sie auf Schulterlänge gestutzt und Oma war seit über zwei Jahren tot. Heimlich hatte Mila ihr Grab ausgehoben, damit niemand erfuhr, dass sie tot war. Heimlich hatte sie Tränen vergossen, bis keine mehr gekommen waren und heimlich zog es sie immer wieder an diesen Ort, wenn die Einsamkeit sich mit kaltem Griff um sie legte. Niemand durfte wissen, dass Milas letzte Verwandte gestorben war. Keiner durfte ahnen, dass sie allein in der Waldhütte lebte, denn sonst würde sie als Mündel des Roten Egon enden. Dem Mann ihrer verstorbenen Tante.

      Mila versuchte den bitteren Geschmack in ihrem Mund herunter zu schlucken. Bei Egon wäre sie gebunden, für immer. Er würde sie nicht gehen lassen selbst wenn sie 16 war. Sie wäre gefangen in den Ketten der Sklaverei.

      Schnell schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken wegzuscheuchen.

      „Ich habe dir noch etwas mitgebracht, Oma.“ Eifrig holte Mila eine Pflanze aus ihrer Gürteltasche, der Gürteltasche, die sie immer bei sich trug. Wie eine echte Heilerin. Wie Oma.

      „Ich war gestern bei der Hauernquelle. Sie führt fast kein Wasser. Alles ist trocken. Dafür habe ich etwas gefunden, das ich niemals erwartet hätte. Speick. Weißt du noch, wie wir tagelang unterwegs waren, um zu der Stelle zu gelangen wo der Speick wächst? Und jetzt gibt es ihn keinen halben Tagesmarsch entfernt auf der Höhe der Hauernquelle. Weil es so trocken geworden ist. Jetzt gibt es ihn im Ostwald.“

      Natürlich, sonst hätte ihn Mila nicht pflücken können. Sie bewegte sich nur im Ostwald. Er war groß und weit. Man konnte tagelang umherstreifen und Kräuter sammeln. Doch niemals würde sie dieses Gebiet verlassen. Niemals würde sie von ihrer Hütte aus den überwucherten Pfad Richtung Südwesten gehen. Den Pfad ins Dorf, nach Rielau. Zu den Menschen. Niemals zu den Menschen. Zu groß war die Angst, dass sie sich verraten könnte und jemand herausfände, dass sie alleine lebte. Nein, sie blieb hier, in der Ruhe. Liebevoll legte sie den Speick neben den Blumenstrauß. Oma hatte dieses Kraut geliebt. Nicht nur wegen seiner Heilkraft auf den Körper. Auch wegen der inneren Ruhe, die er dem Herzen schenkte.

      Ein Knacken ließ Mila auffahren. Sie blickte zum Wald. Geräusche drangen an ihr Ohr. Fremd und ungewohnt. Etwas, das nicht hierhergehörte. Etwas, das nicht sein durfte. Menschen aus dem Dorf? Hier, mitten im Wald? Mila schauderte.

      Kreischend stob ein Vogelschwarm in den Himmel. Mila blickte mit zitterndem Herzen in die Richtung, in der sie sein mussten. Die Menschen. Sie war sich ganz sicher, so bewegte sich kein Tier fort. So stampften nur Menschen, die den Herzschlag des Waldes nicht kannten. Und sie kamen näher.

      Sie durften sie nicht sehen. Und das Grab auch nicht. Wenn sie das Grab von Oma sahen, war ihr Geheimnis aufgedeckt!

      Mila griff nach Tannenzweigen, Ästen und Gehölz, die in der Nähe lagen. Wild schichtete sie alles über das Holzkreuz. Mehr und immer mehr, bis es nicht mehr zu sehen war.

      Zwischen den Tannen blitzte Gelb und Grün auf. Zeternde Stimmen drangen an ihr Ohr. Jeden Moment würden die Menschen auf die Lichtung brechen. Milas Herz raste. Gehetzt warf sie einige Blicke um sich. Wo sollte sie sich verstecken?

      Ein Haselstrauch am Rand der Lichtung. Grüne Zweige, zum Schutz gehoben. Mila hetzte hin, duckte sich und schlüpfte atemlos ins Grün. Ihre Brust hob und senkte sich. Sie drückte sich eng gegen die harten Zweige.

      Schon brachen sie heraus. Eine kleine, stämmige Frau mit wippenden Locken. Eine Zwergin. „… ich weiß ganz genau, dass ich sie gesehen habe, wenn ich es dir doch sage!“

      Mila kannte sie von früher. Sie war die Krämerin des Dorfladens.

      „Ich habe hier etwas Rotes und etwas Helles durch die Tannen hindurch gesehen. Sie muss hier sein!“

      Mila zog Omas rotes Schultertuch enger und starrte verzweifelt auf ihr hellblaues Kleid.

      „Kriemhild, bist du denn wahnsinnig? So weit rennt niemand in den Wald und eine verblödete Ziege ist nicht rot!“

      Ein Zwerg wankte auf die Lichtung. Mila wusste es sofort: Das war Ignaz, Kriemhilds Mann. Der graue, lange Bart und die stechenden Augen. Sie hatten etwas Linkisches. Wie oft hatte sich Mila hinter dem Rock ihrer Oma versteckt, wenn er im Krämerladen stand statt seiner Frau. Oma hatte einmal im Monat Dinge des Alltags gegen Kräutertinkturen eingetauscht. Schlussendlich war Mila schon von Anfang an durch den Laden nach oben in die Dachstube zur alten Hedwig gerannt, egal ob der Zwerg da gewesen war oder nicht.

      „Nichts, zum Henker nochmal“, donnerte Ignaz. „Überhaupt nichts. Such die doofe Ziege allein, mir reicht’s.“

      „Aber …“

      „Nein! Ich will …“ Er stockte und starrte auf den Haufen Zweige in der Mitte der Lichtung.

      „Ignaz, ich finde …“

      „Schschscht!“ Es klang scharf. Ignaz hob die Hand, um seine Frau zum Schweigen zu bringen.

      Mila hielt die Luft an. Der Zwerg starrte noch immer auf die Stelle, wo Omas Grab versteckt war. Er machte drei Schritte darauf zu.

      Nein! Ein Sturm tobte in Milas Kopf. Er durfte das Grab nicht entdecken.

      Die Hand des Zwerges glitt nach vorne zu einem großen Ast.

      „Nein!“ Mila sprang aus ihrem Versteck, mitten auf die Lichtung.

      Die Hand sank zurück. Zwei Augenpaare sahen sie verdutzt an.

      „Ich …“ Milas Ohren wurden rot und unter ihren Füßen brannte es, als ob sie in einem Ameisenhaufen stände.

      Die Augenpaare wanderten an ihrer Gestalt von oben nach unten und wieder hinauf.

      „Wer bist du?“, fragte Kriemhild aus walnussgroßen Augen.

      „Mila.“ Schon war es draußen. Herausgerutscht. Sie hätte ihren Namen niemals sagen sollen. Hätte ihn verborgen halten müssen.

      Zu spät.

      Ignaz kniff die Augen zusammen. „Mila …? Du bist doch das Mädchen von der alten Heilerin.“

      „Was, die?“ Kriemhild schlug die Hände an ihre runden Backen. „Die kleine Enkelin von der alten Trude? Dich hätte ich gar nicht mehr erkannt, ohne Zöpfe und, meine Güte, bist du groß geworden. Beinahe schon eine junge Frau!“

      „Kriemhild“,