Tod am Silsersee. Duri Rungger

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Название Tod am Silsersee
Автор произведения Duri Rungger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302267



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und kann wirklich nicht behaupten, dass ich mich an ihn erinnere. Ich hätte gerne einen Padrin wie Sie.» Sie verstummte verlegen.

      Erst nach einer Weile nahm sie das Gespräch wieder auf: «Der Tod von Martin ist furchtbar. Ich hatte ihn sehr lieb und werde ihn vermissen – aber es hilft nichts, wenn ich hysterisch werde. Ich muss der Realität ins Auge sehen und dazu gehört, dass ich Ihnen die Fragen beantworte, die sie freundlicherweise noch nicht gestellt haben.»

      «Das ist sehr tapfer von Ihnen. Natürlich habe ich Fragen: Zuerst einmal möchte ich erfahren, wann Sie Ihren Mann gestern das letzte Mal gesehen haben.»

      «Martin wollte nach dem Frühstück allein an den See gehen und ein Gedicht für seinen Kriminalroman schreiben.» Sie erklärte kurz, dass im neuem Krimi ihres Mannes ein absonderlicher Dichter eine Hauptrolle spielte und er deshalb Gedichte in den Roman einflechten wollte. «Bevor er fortging, hat er noch spöttisch bemerkt, der berühmte Erwin Iseli schreibe seine finsteren Verse ja auch in der freien Natur – das könne nur schiefgehen.» Sie überlegte kurz bevor sie beifügte: «Sie kennen Herrn Iseli wohl noch nicht. Ich glaube, er ist ein begabter Dichter. Er hat mir einen ganzen Stapel seiner Werke zu lesen gegeben, und ich fand sie gut, nur hoffnungslos deprimierend. Trotz aller Anstrengungen gelingt es ihm leider nicht, auch nur ein einziges Gedicht zu publizieren – doch, eines hat er auf der Todesanzeige seiner Mutter untergebracht.» Selina lächelte mitleidig, dann schüttelte sie den Kopf. «Jetzt habe ich den Faden verloren. Wo war ich stehen geblieben?»

      «Beim Abschied nach dem Frühstück.»

      «Nun, Martin hat mir einen Kuss auf den Mund gedrückt und wollte gehen, doch nach ein paar Schritten ist er zurückgekommen und hat mich gebeten, ihm meinen roten Seidenschal zu leihen, damit könne er sich wie ein wahrer Poet fühlen.» Wieder traten Tränen in ihre Augen.

      Vor dem Hotel angekommen, brachte Esposito den Wagen vor der Treppe zum Stehen und half Selina galant aus dem Wagen.

      In der Eingangshalle schaute Selina auf die Uhr und fuhr auf. «Ich muss dringend in Zürich anrufen und im Büro mitteilen, was geschehen ist. Können wir ein anderes Mal weiterreden?»

      «Nur noch eine Frage, dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Hat in den letzten Tagen jemand Ihren Mann besucht oder nach ihm gefragt?»

      «Nein, nicht dass ich wüsste.» Dann schaute sie Caminada erschrocken an. «Sie stellen Fragen, wie wenn Martin ermordet worden wäre.» Sie presste ihre Fäuste vor die Stirn. «Ich habe mir vorgenommen, nicht hysterisch zu werden, aber Sie machen es mir nicht leicht.»

      Caminada versuchte, Selina zu beruhigen. «Das glaube ich nicht wirklich, ich muss nur allen Möglichkeiten nachgehen.» Damit wollte er es bewenden lassen, doch dann fühlte er sich verpflichtet, offen mit ihr zu sein, und fügte bei: «Es kann sehr wohl ein Unfall gewesen sein, doch wir können Mord nicht ausschliessen. Ihr Mann hatte einige frische Kratzer im Gesicht, die nicht vom Sturz herrühren können.»

      Selina kaute an dieser Neuigkeit herum, und Caminada befürchtete schon, sie würde wieder in Tränen ausbrechen, doch dann bemerkte sie trocken: «Auf alle Fälle habe nicht ich sein Gesicht zerkratzt! Wir haben uns nie gestritten – nur gefoppt.» Sie legte die Stirn in Falten und fügte nachdenklich bei: «Ich glaube nicht, dass er eine heimliche Beziehung zu einer anderen Frau hatte. Martin sah gut aus und hat gerne charmiert, doch ich glaube, das ist harmlos geblieben. Und ganz bestimmt wäre er nicht mit einem rotem Schal und schwarzem Schulheft zu einem Stelldichein gegangen, das war nicht sein Stil.»

      «Wie kommen Sie darauf? An diese Möglichkeit habe ich nicht einmal gedacht.»

      «Jemandem mit den Nägeln ins Gesicht zu fahren, ist eher eine weibliche Tugend … », bemerkte Selina spöttisch.

      Es wurde Zeit für Caminada herauszufinden, ob Zinsli eine Unterkunft für ihn ausfindig gemacht hatte, doch er konnte Raeto nicht erreichen. Frau Rizzi teilte ihm mit, der Chef habe einen Anruf erhalten, sei danach aus dem Büro gestürmt und habe ihr zugerufen, er sei erst morgen zurück. Schon vorher habe er sie damit beauftragt, für Caminada eine möglichst günstige Unterkunft in der Nähe des Hotels Waldhaus zu finden. Die Sekretärin betonte das «möglichst günstig» mit grösstem Vergnügen. Sie hatte gleich im «Waldhaus» angerufen und sich grossspurig mit «Rizzi, Kriminalpolizei Graubünden» vorgestellt. Der beeindruckte Concierge leitete den Anruf sofort an den Direktor weiter, und dieser bestand darauf, dem untersuchenden Beamten ein Zimmer in seinem Haus zu offerieren – natürlich mit Vollpension. Caminada bedankte sich bei Frau Rizzi für ihre raffinierte Bettelei.

      Bevor er sein Zimmer bezog, wollte er beim Direktor vorsprechen und sich für dessen grosszügiges Angebot bedanken. Der Concierge erklärte ihm, dass der Chef sowieso jeden Gast persönlich begrüsse und ihn bereits erwarte. Conti führte den Kommissar zum Büro, klopfte an und bedeutete ihm mit einer leichten Verbeugung einzutreten.

      Caminada bedauerte, dass er immer noch in seinem leicht abgewetzten, grauen Alltagsanzug steckte, in dem er zur Arbeit gegangen war, und fragte sich, ob der kleine Fettfleck auf der Krawatte, auf den ihn Beatrice vor ein paar Tagen aufmerksam gemacht hatte, nicht allzu offensichtlich sei.

      «Guten Abend Herr … », der Direktor zögerte nur eine Sekunde. « … Caminada, wenn es mir recht ist.»

      «Freut mich, Sie zu kennenzulernen, Herr Direktor, ich wollte mich herzlich bei Ihnen dafür bedanken, dass ich hier wohnen darf.»

      «Keine Ursache. Es ist in unserem Interesse, dass dieser Fall so rasch als möglich geklärt wird. Ich hoffe, Herrn Brunner sei nichts Schlimmes zugestossen und Sie finden ihn bald. Er ist ein grosszügiger und treuer Kunde unseres Hauses.»

      «Leider ist er tödlich verunfallt. Seine Leiche wurde heute früh auf Chasté gefunden. Ich bin soeben mit Frau Brunner von Samedan zurückgekehrt, wo sie ihren Mann identifiziert hat.»

      «Mein Gott», der Direktor sank in seinen Stuhl. «Das ist furchtbar!» Seine Erschütterung war echt, doch dann gewann die Sorge um den guten Ruf des Hotels die Oberhand: «Sie sind natürlich herzlich willkommen bei uns, doch gibt es einen bestimmten Grund, weshalb Sie hier bleiben, nachdem der Vermisste bereits gefunden wurde? Sagen Sie bitte nicht, dass es sich um ein Verbrechen handelt.»

      «Wir sind nicht sicher. Es gibt einen Hinweis, dass vor dem Sturz ein Handgemenge stattgefunden hat.»

      «Auch das noch!», seufzte der Hotelier. «Natürlich will ich Sie nicht bei der Arbeit behindern, doch ich flehe Sie an, die Hotelgäste so wenig wie möglich zu beunruhigen. Viele von ihnen wollen am Wochenende abreisen. Falls einige von ihnen länger hier bleiben müssen, sollten Sie mir dies so rasch als möglich mitteilen – wir sind nächste Woche ausgebucht.»

      «Machen Sie sich keine Sorgen. Beim jetzigen Stand der Untersuchung kann ich niemanden daran hindern abzureisen. Im Moment habe ich auch keinen konkreten Verdacht. Falls ich allerdings herausfinden sollte, dass jemand den Unfall absichtlich herbeigeführt hat, werde ich sie oder ihn freundlich einladen, mich nach Chur zu begleiten.»

      «Ich hoffe, dass Sie nichts dergleichen finden! Wenn Sie erfahren wollen, mit wem Herr und Frau Brunner hier verkehrten, können Sie das Personal befragen, vielleicht auch die Musiker, die sehen alles, was im Saal vorgeht.»

      Und wenn ich das Personal befrage, muss ich die Gäste weniger belästigen, ergänzte Caminada in Gedanken den Ratschlag.

      «Ich selbst weiss bloss, dass Herr und Frau Brunner oft mit dem Ehepaar Iseli aus Aarau zusammensassen. Sie besitzt dort eine Apotheke, und er ist freier Schriftsteller.» Der Direktor warf einen Blick auf die Uhr. «Ich stehe natürlich jederzeit zu Ihrer Verfügung, aber jetzt möchten Sie wohl das Dîner nicht verpassen.»

      Caminada fasste sich nervös an den Krawattenknopf. «Ich bin heute direkt vom Büro weggefahren und habe keine passende Kleidung bei mir.»

      «Ihre Kleidung ist durchaus in Ordnung. Heutzutage putzen sich die Gäste nicht mehr heraus wie früher, und wir pflegen eine entspannte Atmosphäre.» Er machte eine kleine Pause