Название | Tod am Silsersee |
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Автор произведения | Duri Rungger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302267 |
Sie überquerten die Wiese zum See und setzten mit Clalünas Boot zum Fundort der Leiche über, der zu Fuss schlecht erreichbar war. Der Körper war etwa zwanzig Meter über dem Seeufer aufgefunden worden. Unterhalb der Fundstelle waren die Heidelbeersträucher und das Gras von den Rettern und dem Arzt zertrampelt, doch glücklicherweise war niemand in das darüberliegende Gelände eingestiegen. Caminada spähte den steilen Hang hoch, über welchen der Verunfallte heruntergekollert sein musste. An einigen Stellen war das Gesträuch flach gedrückt und einige Äste geknickt. Er folgte dieser Spur aufwärts bis zum Fuss einer fast senkrechten Felswand. Hier musste der Körper aufgeschlagen sein. Und richtig, auf einem grossen Steinbrocken entdeckte er einen Blutfleck. Clalüna hatte gesagt, dass der Schädel des Toten eingeschlagen war. Das war wohl hier beim Aufprall geschehen.
Caminada kehrte zu Clalüna zurück, der im Boot auf ihn wartete. «Waren Sie schon oben auf der Anhöhe?»
«Noch nicht, ich wollte keine Spuren verwischen und habe es vorgezogen, auf Sie zu warten. Den Spazierweg entlang der Krete habe ich natürlich gesperrt. Oben, ziemlich genau über dem Fundort, gibt es einige Mauerreste, wahrscheinlich die Überbleibsel einer alten Burg – vielleicht heisst die Halbinsel deshalb Chasté. Der Verunfallte muss von dort hinuntergestürzt sein.»
«Gut, gehen wir hinauf und schauen nach, ob wir etwas finden.»
Sie fuhren mit den Boot zum Ansatz der Halbinsel zurück und nahmen den schmalen Weg, der durch dunklen Nadelwald leicht anstieg, eine grosse, mit Birken gesäumte Sumpfwiese durchquerte und wieder in den Wald führte. Gegen die Anhöhe hin wurde der Abhang zu ihrer Rechten immer steiler und fiel an einigen Stellen fast senkrecht zum Wasser ab. Oben angekommen, zeigte Clalüna seinem Kollegen die im Gebüsch versteckten kaum kniehohen Mauerreste. Bevor er die ummauerte Fläche betrat, musterte Caminada von aussen sorgfältig den Boden. Das Gras war an mehreren Stellen niedergetrampelt, doch da es seit Langem nicht mehr geregnet hatte, konnte das schon vor Tagen geschehen sein. Dann stutzte er. Auf dem Mäuerchen vor dem Abgrund lag ein schwarzes Heft. Er suchte vergeblich in seinen Taschen nach einem Säckchen, um es sicherzustellen.
«Suchen Sie so etwas?» Clalüna hielt ihm eine Tüte und Gummihandschuhe hin.
«Danke, genau!» Nachdem er sich die Handschuhe, die viel zu klein für seine kräftigen Hände waren, mit Mühe über die Finger gezogen hatte, hob er das Heft hoch. Darunter lag ein Bleistift. Er steckte beide Fundstücke in den Papiersack. Dann trat er ans Mäuerchen und sah in die Tiefe. Der Seespiegel lag etwa hundert Meter unter der Kuppe, auf der sie standen. Der Stein, auf welchem er den Blutfleck entdeckt hatte, befand sich senkrecht unter ihrem Standort. Caminada seufzte: «Zwanzig Meter reichen für einen tödlichen Sturz – vor allem, wenn man mit dem Kopf auf einem Stein landet.»
Er setzte sich auf das Mäuerchen und wollte sich der Handschuhe entledigen, entschied sich jedoch anders. «Wenn ich schon diese lästigen Dinger anhabe, könnten wir uns gleich das Heft ansehen. Vielleicht gehörte es dem Toten, und wir erfahren etwas über ihn.»
Mit einer Handbewegung lud er Clalüna ein, sich neben ihn zu setzen. Dann zog er das schwarze Leinenheft aus der Tüte und öffnete es. Die erste Seite trug den Vermerk: Sils Maria, Sonntag 8. Juli, 1962 und den Titel: Tödliche Reime. Auf der zweiten Seite fand sich der Untertiitel: Kapitel 1: Tod am Silsersee.
«Diese Notizen sind mit Tinte geschrieben,» bemerkte Caminada, «und nicht mit dem Bleistift, den wir hier gefunden haben. Das muss der Besitzer noch zu Hause geschrieben haben, und Sils Maria würde zu dem im ‹Waldhaus› vermissten Hotelgast passen.»
Der Rest der Seite war mit hastig hingeworfenen und wieder durchgestrichenen Wörtern, halben Sätzen, und sich reimenden Wortpaaren mit Bleistift vollgekritzelt. Dann folgten vier, etwas sorgfältiger geschriebene Zeilen:
Im vom Wind gekräuselten Wasser
bricht sich das Licht der Sonne
und zwischen dunklen Stämmen
glitzern tausend Sterne.
«Ein Dichter – oder einer, der es werden möchte. Wahrscheinlich gehört das Heft doch nicht dem Vermissten. Grundstückmakler sind zwar gut im Erzählen von Märchen, aber dass sie auch noch anfangen zu dichten … »
Caminada ging unentschlossen vor dem Hotel Waldhaus hin und her und überlegte, wie er in dieser heiklen Sache vorgehen sollte. Clalüna hatte die Absicht, mit Frau Brunner nach Samedan zu fahren, damit sie feststellen könne, ob es sich beim aufgefundenen Toten um ihren Mann handle. Aber Caminada wollte die Frau des Vermissten nicht unnötig beunruhigen. Er wusste ja nicht, ob der Tote von Chasté wirklich der hier vermisste Gast war. Ein Angestellter des Hotels, der Brunner kannte, konnte die Identifikation ebenso gut vornehmen. Danach sollte ein Geistlicher die Gattin informieren – der konnte das bestimmt besser als er.
Der mögliche Ausweg gab Caminada den nötigen Mut, die wenigen Stufen zum Eingang des Hotels in Angriff zu nehmen. Ein uniformierter Portier öffnete ihm die Türe und zeigte beflissen den Weg zur Réception, die sich gleich rechts vom Eingang befand und kaum zu übersehen war.
«Wie kann ich Ihnen behilflich sein?» Der Concierge musterte den unerwarteten Gast prüfend.
Caminada hatte das Gefühl, sein Anzug von der Stange passe schlecht in die noble Umgebung. «Ich bin Roc Caminada von der Kantonspolizei und komme wegen des Vermissten.»
«Ah endlich! Gibt es Neuigkeiten über den Verbleib von Herrn Brunner?»
«Heute früh ist ein Toter bei Chasté gefunden worden. Es könnte sich um den Mann handeln, den Sie als vermisst gemeldet haben, doch die Leiche ist vor meiner Ankunft abtransportiert worden. Ich habe den Toten noch nicht gesehen und weiss auch nicht, wie Herr Brunner aussieht. Aber wir werden bald herausfinden, ob er der Tote ist, der heute aufgefunden wurde. Am besten begleitet mich einer Ihrer Angestellten, der Brunner kannte, nach Samedan und identifiziert die Leiche.»
Der Concierge sah Caminada tadelnd an. «Sie wollen doch nicht weggehen, ohne die Frau des Vermissten informiert zu haben?»
«Doch, das möchte ich. Stellen Sie sich vor, ich erzähle der Gattin, wir hätten einen Toten gefunden, von dem wir nicht wissen, ob es ihr Mann sei – und nachdem sie vor Schreck in Ohnmacht gefallen ist, spaziert der Vermisste hier zur Türe …» Weiter kam er nicht.
«Haben Sie vom Vermissten gesprochen? Ich bin seine Frau und habe ein Recht zu erfahren, was Sie wissen.»
Caminada drehte sich zu der jungen Frau um und erstarrte. Sie sah seinem verschollenen Patenkind Julia ähnlich: bildhübsch mit hellblauen, mandelförmigen Augen, leicht vorstehenden Backenknochen und schwarzem Haar, doch im Unterschied zu Julia, die ihr glattes Haar kurz trug, war es bei der Frau, die jetzt vor ihm stand, wild gelockt. Er schloss die Augen. Wie viele Jahre waren vergangen, seit Julia verschwunden war?
«Bitte, ich habe Sie etwas gefragt.»
Caminada erwachte aus seiner Starre. «Entschuldigung, Frau Brunner, natürlich – vielleicht könnten wir uns an einem ruhigeren Ort unterhalten.» Er sah sich suchend um, und der Concierge deutete auf den Korridor, der zur Bibliothek führte. Er wusste, dass sich im Moment kein anderer Gast dort befand.
Der dunkel getäferte Raum mit seinen kleinen Schreibtischchen und vollen Bücherregalen strahlte Ruhe aus. Kein übler Ort für eine heikle Unterredung, auf die Caminada trotzdem gerne verzichtet hätte. Nachdem sie sich gesetzt hatten, fiel es ihm nicht leicht, einen unverfänglichen Anfang zu finden. «Ich bin nicht sofort zu Ihnen gekommen, weil wir noch nichts Genaues wissen, und ich Sie nicht unnötig aufregen wollte.»
«Aufregen? – Also ist etwas Schlimmes passiert», schloss die junge Frau scharfsinnig.
Caminada schickte sich ins Unvermeidliche. «Heute früh wurde bei Chasté eine Leiche gefunden. Wir wissen nicht, ob es sich um Ihren Mann handelt. Ich kann die Leiche auch nicht