Название | Ius Publicum Europaeum |
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Автор произведения | Robert Thomas |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783811447523 |
d) Funktionale Ausdifferenzierung der Gerichtsorganisation:
Finanz- und Sozialgerichte
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Neben der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit bestehen in Deutschland zwei funktional-thematisch definierte besondere Verwaltungsgerichtsbarkeiten: die Finanzgerichtsbarkeit, die bei Eröffnung des Finanzrechtswegs (§ 33 FGO) tätig wird, sowie die Sozialgerichtsbarkeit (§ 51 SGG).
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Diese beiden Gerichtsbarkeiten verfügen über jeweils eigene Prozessordnungen (FGO und SGG). Die Finanzgerichtsbarkeit ist im Gegensatz zur allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit lediglich zweizügig angelegt. Neben den Finanzgerichten und dem Bundesfinanzhof besteht keine mittlere Ebene, ähnlich wie in Frankreich vor der Einführung der Cours administratives d’appel 1987. Die Sozialgerichtsbarkeit hat im Zuge der sog. Hartz-Reformen und der Verlagerung der Zuständigkeit für die Sozialhilfeverfahren von der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf die Sozialgerichtsbarkeit einen erheblichen Zuwachs an Rechtsstreitigkeiten erfahren. Immer wieder wird aus Gründen einer vereinfachten Personalbewirtschaftung und eines Ausgleichs von Belastungsspitzen eine Zusammenlegung der Verwaltungsgerichte, jedenfalls der allgemeinen Verwaltungsgerichte und der Sozialgerichte, diskutiert.[187]
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Eine weitere Ausdifferenzierung nach Sachmaterien, die sich mit der hohen Anzahl von Streitsachen oder der Besonderheit der Materie beispielsweise für das Ausländerrecht oder das Umweltrecht begründen ließe und anderswo besteht,[188] ist kein tagesaktuelles Thema. Die Ausdifferenzierung findet über prozessuale Sonderregeln statt.[189]
e) Quantitative Dimensionen: Zahlen und Statistiken
zur Verwaltungsgerichtsbarkeit
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Bei 51 VGs für 82,5 Millionen Einwohner[190] ergibt sich für die erste Gerichtsebene der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein Quotient von 1,62 Millionen Einwohnern pro Gericht. Die Richterstatistik des Bundesamtes für Justiz nennt für Ende 2016 2.009 Verwaltungsrichter (ohne Finanz- und Sozialgerichte, dort 573 bzw. 1.903).[191] Dies ergibt einen Quotienten von 41.065 Einwohnern pro Richter.[192] Die Anzahl der Richter in der ordentlichen Gerichtsbarkeit liegt mit 15.161 deutlich höher als in der Verwaltungsgerichtsbarkeit.[193]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › III. Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext › 3. Verfahren
aa) Kontrollfreie Bereiche
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Mit der Grundentscheidung für oder gegen einen generellen Anspruch auf gerichtliche Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen (Rechtsweggarantie) werden für die grundsätzliche Bedeutung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit Weichen gestellt. Wenn es Bereiche gibt, die von der gerichtlichen Kontrolle ausgenommen sind, dann verbindet sich damit noch nicht automatisch ein Rechtsschutzausfall, jedenfalls aber doch potenziell eine Relativierung der Rolle von Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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Für Deutschland gibt die Verfassung mit der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie in Art. 19 Abs. 4 GG eine prinzipielle Lückenlosigkeit des Rechtsschutzes gegen die Verwaltung vor. Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen, was als Grundrecht seinerseits mit der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG eingefordert werden kann.
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Justizfreie Hoheitsakte bestehen grundsätzlich nicht. Sogar Gnadenakte unterliegen rechtlichen Bindungen, jedenfalls die Aufhebung eines Gnadenakts kann gerichtlich überprüft werden.[194] Nur wenn im Grundgesetz eine richterliche Kontrolle ausgeschlossen ist, ist die Rechtsweggarantie durchbrochen. So legt etwa Art. 44 Abs. 4 Satz 1 GG für parlamentarische Untersuchungsausschüsse fest, dass Beschlüsse von Untersuchungsausschüssen der richterlichen Erörterung entzogen sein sollen. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ermöglicht für die Telefonüberwachung statt richterlicher Kontrolle die Kontrolle durch ein parlamentarisches Gremium.[195]
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Die Konzeption kontrollfreier Bereiche ist nach heutigem Verständnis nicht mehr mit dem modernen Verfassungsstaat des Grundgesetzes vereinbar. Die aus dem Verfassungsrecht des Kaiserreichs stammende Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis hat noch in der ersten Zeit der Bundesrepublik dazu hergehalten, für bestimmte Gruppen wie Beamte, Soldaten sowie für Personen in Anstaltsverhältnissen (diese reichen von der Schule bis zur Haft und sonstigen Fällen der Anstaltsnutzung bzw. -unterbringung von einer gewissen Dauer) einen rechtlich reduzierten Status zu begründen (Sonderstatus).[196] Dies erstreckte sich auch auf den Verwaltungsrechtsschutz. Das BVerfG hat dieser Konstruktion 1972 eine Absage erteilt.[197]
bb) Verwaltungsinterner Rechtsschutz
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In Deutschland erscheint die Gleichsetzung von Rechtsschutz gegen die Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit fast schon selbstverständlich. Die Verwaltungsgerichte stellen indessen nicht die einzige Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Verwaltung dar. Grundsätzlich ist nach der VwGO dem Verfahren vor den Verwaltungsgerichten ein administratives Vorverfahren in Form eines Widerspruchsverfahrens für einige Klagearten zwingend vorgeschaltet. § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO sieht vor, dass vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen sind, § 68 Abs. 2 VwGO ordnet dessen entsprechende Geltung für Verpflichtungsklagen in der Variante der Versagungsgegenklage an. Der Rechtsschutz im Widerspruchsverfahren ist, wenn er gelingt, für den Einzelnen kostengünstiger als das Gerichtsverfahren.[198]
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Allerdings gestattet § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO einige Ausnahmen. Danach bedarf es einer verwaltungsinternen Nachprüfung nicht, wenn ein Gesetz dies bestimmt. Auch wenn der Verwaltungsakt von einer obersten Bundesbehörde oder von einer obersten Landesbehörde erlassen worden ist, findet kein Widerspruchsverfahren statt, außer wenn ein Gesetz die Nachprüfung vorschreibt. Auch wenn der Abhilfebescheid der Ausgangsbehörde oder der Widerspruchsbescheid der Widerspruchsbehörde erstmalig eine Beschwer enthält, findet kein Widerspruchsverfahren statt.
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Das Widerspruchsverfahren ist in jüngerer Zeit immer stärker zurückgedrängt worden,[199] möglicherweise weil ein Entlastungseffekt der Verwaltungsgerichte durch vorgerichtliche Konfliktbeilegung im Widerspruchsverfahren immer weniger spürbar war. Gelangt der Streit regelmäßig ohnehin zu den Gerichten, dann wird ein zwingend durchzuführender, aber letztlich absehbar erfolgloser Verfahrensschritt auf administrativer Ebene eher zum Rechtsschutzhindernis.
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Auch deswegen ist in einigen Ländern das Widerspruchsverfahren Gegenstand von Reformen geworden. Maßgeblich ist insofern die landesrechtliche Ausgestaltung im jeweiligen AGVVwGO.[200] In Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen[201] ist das Widerspruchsverfahren in weiten Teilen abgeschafft worden.
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In Nordrhein-Westfalen ist diese Reform 2007 in Kraft getreten. Nach Evaluation der Neuregelung wurden die Ergebnisse in der Summe positiv