Название | Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte |
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Автор произведения | Alexander Gallus |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935788 |
Axel Schildt war mir in allen zeit- und intellektuellengeschichtlichen Fragen ein wichtiger Mentor, darüber hinaus ein wunderbarer Freund. Der Erinnerung an ihn möchte ich diesen Band widmen.
1.
Systemwechsel und Subjektivierung
Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 als politische Transformations- und Erfahrungsgeschichte
I. Einleitung
Wenn Historiker streiten, gilt nicht selten ein abgewandeltes Clausewitz-Wort: nämlich dass Geschichte dann als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln erscheint. Auch und gerade die deutsche Revolution von 1918/19 war ein herausgehobenes Streitthema einer zankenden Historikerzunft während des Kalten Krieges. Es kam dabei zur Vermengung von geschichtswissenschaftlichen mit geschichtspolitischen, häufig den Geist der Zeit atmenden Argumenten. Von den einst heftig ausgefochtenen Debatten über ein Entweder-oder zwischen freiheitlicher Demokratie und Bolschewismus, über verpasste Chancen und nicht ausgeschöpfte Handlungsoptionen, über Dritte Wege und ein höheres Maß an Demokratisierung ist allerdings schon seit geraumer Zeit kaum noch etwas zu spüren. Der Forschungsstand präsentierte sich ab den 1980er Jahren als festgefahren, die ausgebliebene öffentliche Würdigung bot einigen Anlass, von einer „vergessenen Revolution“ zu sprechen.1 Überhaupt hält die 1918er-Revolution gelegentlich als Beleg dafür her, dass den Deutschen Revolutionen grundsätzlich nicht liegen und sie ihnen stets misslingen würden. Fünfzig Jahre nach der Novemberrevolution diagnostizierte Joachim C. Fest im Spiegel ein entsprechendes „Unvermögen“ der Deutschen, das am Beispiel des Umbruchs von 1918/19 besonders deutlich zum Ausdruck gekommen sei. Am Ende „proklamierte die Weimarer Verfassung eine Revolution“, urteilte Fest vernichtend, „die niemals stattgefunden hatte“.2
In jüngerer Zeit deutet sich indes ein Abschied von der erinnerungskulturellen wie historiografischen Revolutionslethargie an. Das Hundertjahres-Jubiläum 2018/19 trug dazu ebenso bei wie ein wieder gewachsenes Interesse an Krisen-, Umbruchs- und Revolutionsphasen in einer Zeit neuer Unsicherheiten.3 Hinzu kommt seit einigen Jahren ein zunehmend ergebnisoffener Blick auf die Weimarer Republik, der es ermöglicht, Interpretationen zur Novemberrevolution von normativen und quasi-teleologischen Einfärbungen zu befreien. Dies korrespondiert mit einer Sichtweise auf die gesamte Zwischenkriegszeit als Periode, die sich mithilfe der räumlichen Metapher eines „Laboratoriums“ für die Erprobung politischgesellschaftlicher Ordnungsmodelle gut einfassen lässt. Schon Tomáš Masaryk kam das Europa nach 1918 wie ein „auf dem großen Friedhof des Weltkriegs errichtetes Laboratorium“ vor.4 Ein krisengeschüttelter Liberalismus forderte ebenso wie erodierende monarchische Legitimationsmuster zum Experimentieren mit neuen Varianten politischer Repräsentation heraus, zumal vor dem Hintergrund des Spannungsfelds von Imperium und Nation am Ende des Ersten Weltkriegs.5 Dies beförderte nicht zuletzt gewaltgestützte Dynamiken von Revolution und Gegenrevolution. Fast kurios mutet dabei an, dass nicht nur die Anhänger des Kommunismus einerseits und die Verfechter westlicher Zivilisation wie Demokratie andererseits transnationale Ansprüche hegten und grenzüberschreitende Netzwerke pflegten, sondern auch radikal-nationalistische Paramilitärs.6
Ich deute diese Perspektiven nur an, um mich doch auf die Vorgänge im Herzen des Deutschen Reiches zu konzentrieren. Wie vollzog sich dort der Wandel im Einzelnen? Welche Schritte der Transition lassen sich nachvollziehen, wie sind ereignisgeschichtliche Abläufe behutsam (ohne Übernahme des berühmt-berüchtigten Politologenjargons) mit strukturellen Überlegungen zu Ursachen und Verlaufsformen des politischen Systemwechsels zu verbinden.7 Dieser Zugang ist gleichsam als Ergänzung oder auch Begrenzung des umstrittenen, regelmäßig politisch aufgeladenen Begriffs der Revolution zu verstehen. Er konzentriert sich auf Transformationen zwischen verschiedenen Staatsformen, erörtert insbesondere die Ursachen für das Ende des alten Regimes, die Übergänge zum neuen und dessen Konsolidierung.8 Eine so zugeschnittene Analyse trägt zur Systematisierung, Entnormativierung und Versachlichung bei und verabschiedet sich von einem maximalistischen Revolutionsbegriff. Ein solcher nämlich beansprucht einen weit über die staatliche und politische Ordnung hinausgehenden, fast „totalen“ Geltungsanspruch, der Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur umschließt und häufig mit dem Ziel eines utopisch anmutenden Endzustands verkoppelt ist.9 Neben dem Systemwechsel-Zugang will ich einen weiteren Weg zur Wiederbelebung der Revolution im Zeichen der Erfahrungsgeschichte, die den subjektiven Wahrnehmungswelten der Zeitgenossen zu ihrem Recht verhilft, aufzeigen und hier und da beispielhaft in die Darstellung einbinden. Wie im Falle des Systemwechsels ist dies kein gänzlich neuer Weg, aber seine Erkundung verdient eine Intensivierung, gerade weil durch eine konsequente Historisierung – so paradox es zunächst klingen mag – eine Aktualisierung gelingen kann, ohne bloß gegenwärtige Problemkonstellationen in die Geschichte zurückzuprojizieren.10 Die zwei Grundgedanken des Beitrags lassen sich also mit den beiden Schlagworten „Systemwechsel“ und „Subjektivierung“ knapp einfangen.
II. Ursachen und Verlauf des langen Novembers der Revolution11
Auch wenn der Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts Theodor Wolff am 10. November 1918 euphorisiert von der „größten aller Revolutionen“ sprach und diese mit einem plötzlichen „Sturmwind“ verglich, so greift diese Sicht eines spontanen Umbruchs als Produkt der Kriegsniederlage doch zu kurz.12 Vielmehr reifte die Umwälzung schon „lange im Schoße der wilhelminischen Gesellschaft“ heran, wie es Volker Ullrich einmal formulierte, und blieb ihr verhaftet.13
Ein schleichender Legitimitätsverfall der monarchischen Ordnung zeigte sich an verschiedenen Symptomen, so an der Verlagerung der Entscheidungsgewalt vom Monarchen auf die Militärspitze im Verlauf des Weltkriegs und in Form einer Systemkrise angesichts der gesteigerten Kriegsmüdigkeit, der Hungerrevolten und Massenproteste im Januar 1918. Arthur Rosenberg erkannte darin bereits eine Generalprobe für die Novemberrevolution.14 Ungeachtet solcher Vorboten wirkte das Eingeständnis der Niederlage durch die Oberste Heeresleitung Ende September 1918 wie ein Schock auf Öffentlichkeit und Politik. Schließlich hatte nicht zuletzt der Friedensschluss von Brest-Litowsk mit Sowjetrussland im Frühjahr 1918 nochmals Hoffnungen auf einen deutschen Sieg genährt.
Eine erste, von „oben“ gelenkte Transformationsphase begann im Spätsommer 1918, als die Oberste Heeresleitung einen Waffenstillstand gemäß den „Vierzehn Punkten“ des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson forderte, wie dieser sie im Januar 1918 formuliert hatte.15 Die Entente-Mächte waren zu diesem Zeitpunkt allerdings zu einem solchen Entgegenkommen nicht mehr bereit und boten einen Waffenstillstand an, der einer umfassenden Kapitulation gleichkommen sollte. Außerdem wollten sie nicht länger mit Vertretern des deutschen Militärs verhandeln, verlangten vielmehr