Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte. Alexander Gallus

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Название Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte
Автор произведения Alexander Gallus
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783863935788



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      Am Anfang steht die Revolution, die Revolution von 1918/19. Sie markiert das Ende der Monarchie und den Beginn der Demokratie in Deutschland. Für einen Intellektuellen wie Carl von Ossietzky war sie der hoffnungsfrohe Ausgangspunkt auf dem Weg in eine neue Zeit, die es aktiv zu gestalten galt. Der große Religionssoziologe Ernst Troeltsch sprach in geradezu poetischer Weise von einem „Traumland der Waffenstillstandsperiode“, das weit mehr als die wieder aufzuräumende Trümmerlandschaft einer zerstörten Vergangenheit sein sollte und den Blick nach vorne eröffnete. Es ließe sich sogar behaupten, dass ab dem Herbst 1918 ein Überschuss an Zukunftserwartungen herrschte, mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen und Visionen für eine bessere, neu zu formende Welt. Was konnte fundamentale Umgestaltung anderes bedeuten als Revolution? Carl von Ossietzky jedenfalls hat sie sich im März 1919 – wie auf dem Umschlagfoto dieses Bandes zu sehen – in großen Lettern als ein Statement in den Schoß gelegt, eine Revolution mit Ausrufungszeichen. Dabei hatten Ossietzky und seine intellektuellen Mitstreiter im Frühjahr 1919 bereits so große Zweifel an Reichweite und Erfolg der stattgehabten Revolution, dass wohl eher ein Fragezeichen hätte gesetzt werden müssen: Revolution! Revolution?

      So mag man dieses Foto aus den Tagen der jungen Weimarer Republik als Allegorie für einen enttäuschten revolutionären Aufbruch nehmen, zugleich aber auch für den anhaltenden Drang gerade der Geistesarbeiter, sich nicht mit einem in die Sackgasse geratenen Wandlungsprozess abzufinden, sondern den Revolutionswunsch wachzuhalten. Wer eine weniger emblematische Interpretation bevorzugt, wird auf dem Bild zunächst den Lektor des frisch gegründeten Hamburger „Pfadweiser“-Verlags erkennen, der eine Ausgabe der Wochenschrift Revolution! präsentiert. Dieses Blättchen erschien dabei nicht einmal in seinem Verlagshaus, sondern wurde lediglich über den Zeitschriftenverleih des „Pfadweiser-Zirkels“ vertrieben, der auch Ret Maruts (B. Traven) Der Ziegelbrenner im Portfolio führte. Mithin Zeitschriften, die sich anarchistischem Gedankengut verschrieben hatten, gegen Parlamentarismus und Reformismus, ja gegen alle „Erwürger der Revolution“ publizistisch stritten, wie in der Ausgabe der Revolution! vom 15. März 1919 zu lesen war.

      Eine scharfe richtungspolitische Entscheidung, die den Anarchismus zum Programm erhob, vermied der Verlag allerdings, der insbesondere – das kam auch in Ossietzkys Engagement zum Ausdruck – monistische und pazifistische Anliegen förderte. In erster Linie und ganz grundsätzlich verstand er sich jedoch als „Pfadweiser zur Bildung und Weltanschauung“ und wollte in den stürmischen Umbruchszeiten an der Entwicklung von „Richtlinien“ mitwirken, „um aus dem ethischen und politischen Chaos der Gegenwart herauszufinden“.1 Während seiner kurzen Tätigkeit bei „Pfadweiser“ publizierte Ossietzky 1919 die Schrift Der Anmarsch der neuen Reformation. Darin übte er Kritik an der Novemberrevolution, weil sie nicht gründlich genug mit der Vergangenheit gebrochen habe. Für den notwendigen politischen, wirtschaftlichen und geistig-ethischen Neuaufbau des Landes fehlten Ossietzky zufolge ein „führender Wille“ und eine „zentrale Idee“. Als umso wichtiger erachtete er künftig, gleichsam eine revolutionäre Daueraufgabe an die Intellektuellen adressierend, die „Durchsetzung der Köpfe mit neuem Geist“, auch um so etwas wie eine demokratische politische Kultur zu formen.2

      Schon an dieser Episode lässt sich erkennen, wie nahe beieinander damals die Gefühlswelten von Euphorie und Enttäuschung lagen. Im Ganzen betrachtet sorgte der revolutionäre Gründungsakt während der Weimarer Republik eher für Misstöne, statt Harmonien zu erzeugen. Das kam auch in einem von intellektuellen Eliten beeinflussten Meinungsklima zum Ausdruck. Falsch wäre indes die Behauptung, die Intellektuellen hätten sich vornehm zurückgehalten und der Politik aus einem elitär-kulturellen Dünkel heraus den Rücken gekehrt. Hier und da mag eine solche Einschätzung zutreffen, doch sollten vielfältige Initiativen nicht übersehen werden, mit denen Intellektuelle in den ersten Revolutionsmonaten aktiv an der Umgestaltung des politisch-gesellschaftlichen Systems mitwirken wollten. An vorderster Stelle sind die „Räte geistiger Arbeiter“ zu nennen, die sich die Revolution mit intellektueller Verve anzueignen suchten. Heinrich Mann, der einen solchen Rat in München anführte, schrieb Mitte Januar 1919 hoffnungsfroh: „Die geistige Erneuerung Deutschlands, unsere natürliche Aufgabe, wird uns durch die Revolution erleichtert. Wir gehen endlich mit dem Staate Hand in Hand.“3 Zu erwähnen ist ebenso Kurt Eisner, der frühzeitig voller Enthusiasmus die geschundene Bevölkerung für politische Partizipation begeistern wollte, oder das Experiment der Münchner Literatenrepublik. Hier zeigte sich ein kraftvolles Moment ästhetischer, intellektueller und partizipatorischer Mobilisierung, die letztlich aber ins Leere lief und weniger Energien freisetzte, als sich die Akteure erhofft hatten.

      Schnell machte sich Ernüchterung breit und wurden Klagen über eine festgefahrene, halbherzige, gescheiterte Revolution laut. Dieser Stimmungsumschwung war bereits während des Jahres 1919 zu spüren, kam in Ossietzkys Kritik zum Ausdruck und dann regelmäßig in der bald eng mit seinem Namen verbundenen Weltbühne, der bedeutendsten Zeitschrift einer parteiungebundenen intellektuellen Linken jener Jahre. Die Revolution von 1918/19 erschien nach ihrer Lesart als ein unbefriedigender und unvollständiger Umbruch, der nur einen Wandel der politischen Fassade bewirkte, die Fundamente der alten autokratischen Ordnung – seien es die alten Eliten in Justiz, Militär oder Verwaltung, seien es die Sozial- und Wirtschaftsstrukturen – hingegen weitgehend unangetastet ließ. Vor diesem Hintergrund galt es, die „wirkliche“ Revolution in Gang zu setzen und eine „wahre“ Demokratie erst noch zu schaffen, die der „formal“ erscheinenden Institutionen- und Verfassungsordnung Leben einhauchen sollte.

      Während die Kritik von links im Namen einer besseren Demokratie und vollständigeren Revolution erfolgte, lehnten Vertreter einer intellektuellen Rechten als bekennende Antidemokraten die Novemberrevolution vollständig ab. Paradoxerweise verurteilten sie eine Revolution nicht per se, nur sollte sie eine konservative sein und einen „deutschen Sozialismus“ formen, von dem Oswald Spengler schwärmte. Links wie rechts zeigte sich eine höchst vitale Revolutionssehnsucht. Dies erschwerte es der Novemberrevolution, die immerhin den Systemwechsel von der Monarchie zur Demokratie bewerkstelligt hatte, einen revolutionären Alleinvertretungsanspruch im Kampf der Ideologien zu behaupten.

      Gänzlich überschrieben werden sollte die Revolution von 1918/19 durch die „nationale Revolution“ von 1933, die sich als Antithese zu einem „vaterlandslosen“, „landesverräterischen“ Akt der „Novemberverbrecher“ stilisierte. Vorbereitet hatte diese Sichtweise seit Kriegsende die These vom „Dolchstoß“, den politisch subversive Kräfte dem im Feld – angeblich – unbesiegten Heer hinterrücks versetzt hätten. Diese Geschichtslegende vergiftete neben so manchem Verschwörungsmythos, wie ihn etwa Erich Ludendorff voller Aberwitz, aber mit der Autorität des alten Feldherrn bediente, von Beginn der Weimarer Demokratie an das politische Klima und schwächte so die Abwehrkräfte der Republik.

      Anfang November 1928 schrieb ein halb zorniger, halb resignierter Ossietzky in der Weltbühne, „Deutschland ist […] das einzige Land, das ohne Erhebung an seine Revolution zurückdenkt“. Und noch mehr: „Im Grunde weiß man durchschnittlich von ihr nicht mehr, als daß sie unsern gloriosen Heerführern freventlich in den zum letzten Schlag erhobenen Arm gefallen ist.“ Folgt man Ossietzkys Interpretation, entwickelte sich die Dolchstoßthese mit den Jahren zu einem mächtigeren Erinnerungsort als die Novemberrevolution, obgleich Letztere doch trotz aller Mängel „lange veraltete Einrichtungen beseitigt“ und „viel Schutt und Moder fortgefegt“ habe. Ossietzky sprach in seiner bitteren Bilanz von einer „verspielten Revolution“, die schwerer wiege als ein verlorener Krieg, ja die „Niederlage eines Jahrhunderts“ sei.4

      In Ossietzkys Urteil kommt der Novemberrevolution als einem konfliktträchtigen Orientierungspunkt für politisch-gesellschaftliche Normvorstellungen eine Schlüsselrolle in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu. Dieser Band setzt daher mit einer Bilanz der Novemberrevolution ein, die zunächst dem Verlauf und den Schritten des politischen Systemwechsels von der Monarchie zur Demokratie große Aufmerksamkeit schenkt, um ihn sodann mit der zeitgenössischen Wahrnehmung und Würdigung des Umbruchs zu konfrontieren. Erfahrungen und Erwartungen von Träumern und Gestaltern, Pragmatikern und Fanatikern, von – frei nach Erich Mühsam5 – Revoluzzern und manchmal auch nur Lampenputzern kommen zur Sprache. Hieran lässt sich bereits