Название | Friedens- und Konfliktforschung |
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Автор произведения | Ines-Jacqueline Werkner |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846354438 |
Die erweiterten Begriffe von Gewalt und Frieden nach Johan Galtung (1975, S.33)
Nach Galtung greift der eng gefasste – personale beziehungsweise direkte – Gewaltbegriff deutlich zu kurz, denn auf diese Weise bleibe die Gewalt, die von „[v]öllig inakzeptable[n] Gesellschaftsordnungen“ (Galtung 1975, S.9) ausgehe, weitgehend außen vor. Vor diesem normativen Hintergrund plädiert er für den erweiterten Gewaltbegriff. Danach liege Gewalt immer dann vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“; sie wird damit zur „Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist“ (Galtung 1975, S.9).
Frieden fasst Johan Galtung als Negation von Gewalt. Der Doppelaspekt der Gewalt findet sich somit auch in seinem Friedensbegriff wieder:
„Ein erweiterter Begriff von Gewalt führt zu einem erweiterten Begriff von Frieden: Frieden definiert als Abwesenheit von personaler Gewalt und Abwesenheit struktureller Gewalt. Wir bezeichnen diese beiden Formen als negativen Frieden bzw. positiven Frieden.“ (Galtung 1975, S.32)1
Damit scheint der Begriff des negativen Friedens dem alltäglichen Verständnis von Frieden als Abwesenheit von Krieg beziehungsweise friedenswissenschaftlich formuliert als Abwesenheit organisierter militärischer Gewaltanwendung zu entsprechen. Primäre Friedensaufgabe im Sinne dieses eng gefassten Friedensbegriffes stellt dann die Kontrolle und Verminderung offener Gewaltanwendung dar.
Anders beim positiven Frieden: Definiert als Abwesenheit struktureller Gewalt hat er seine Entgegensetzung nicht im Krieg, eher im Unfrieden. Positiver Frieden gilt – in Anlehnung an die obige Gewaltdefinition – als ein Zustand, in dem die Verwirklichung des Menschen möglich wird. Auch wenn sich der Begriff des positiven Friedens mit der Entwicklung ändere – so wie auch der der Gesundheit in der Medizin – werden mit ihm vor allem Aspekte wie Kooperation und Integration, das Fehlen von Repression und Ausbeutung, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie Gerechtigkeit und Freiheit verbunden. Insbesondere stehe der positive Frieden für soziale Gerechtigkeit2, bezeichne diese eine positiv definierte Bedingung, und zwar die nach gleicher Verteilung von Macht und Ressourcen (Galtung 1975, S.32, insb. auch FN 30).
Ende der 1990er Jahre ergänzte Johan Galtung seine Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt um eine dritte Komponente: die kulturelle Gewalt.3 So wird auch vom Galtung’schen Gewaltdreieck gesprochen. Unter kultureller Gewalt werden all jene Aspekte einer Kultur verstanden, die dazu dienen, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen beziehungsweise zu legitimieren (Galtung 2007, S.341). Galtung führt in seiner Definition sechs Kulturbereiche auf: Religion (beispielsweise in Form eines rigiden Monotheismus), Ideologie (wie Nationalismus), Sprache (etwa Sprachsexismus), Kunst (beispielsweise durch den Transport von stereotypen Vorurteilen), empirische Wissenschaft (zum Beispiel in Form des neoklassischen Wirtschaftslebens) sowie formale Wissenschaft (wie der Entweder-Oder-Charakter der Mathematik, wonach Aussagen nur wahr oder unwahr sein können) (Galtung 2007, S.341ff.). Zudem verweist er auf Bereiche wie Recht, Medien und Erziehung (Galtung 2007, S.18). Diese Ausweitung des Gewaltbegriffs führte vom Doppelaspekt der Gewalt zum Gewaltdreieck (vgl. Schaubild 2).
Das Gewaltdreieck nach Johan Galtung (2007)
Mit der Einführung der kulturellen Gewalt hat sich auch der Friedensbegriff noch einmal erweitert: „Friede = direkter Friede + struktureller Friede + kultureller Friede“ (Galtung 2007, S.458), wobei unter kulturellem Frieden die Abwesenheit kultureller Gewalt verstanden wird. Das beinhaltet die Überwindung von Einstellungen und Verhaltensmustern, die die Anwendung von Gewalt rechtfertigen beziehungsweise legitimieren – von den Akteuren selbst häufig gar nicht mehr als solche wahrgenommen. Aufgabe sei es daher, „aus der harten Kruste des Kollektivs Sub-Kollektive und Individuen herauszubrechen und aus Unterbewußtem Bewußtes zu machen“ (Galtung 2007, S.415). Die Bedeutung eines kulturellen Friedens zeigen gerade religiös konnotierte Konflikte auf, die nicht selten mit einer Nichtanerkennung religiöser Minderheiten einhergehen.
1.2 Frieden – mehr als die Abwesenheit von Krieg?
Galtungs Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt sowie negativem und positivem Frieden prägt bis heute maßgeblich den friedenswissenschaftlichen Diskurs.1 Dabei bewegen sich die Debatten – nunmehr seit mehr als 40 Jahren – stets um die eine, aber für die Friedensforschung doch zentrale Frage, wie eng beziehungsweise weit der Friedensbegriff gefasst werden sollte. Einerseits lässt sich in der Friedensforschung „ein verbreitetes Unbehagen an einem ‚bloß‘ auf die Negation des Krieges bezogenen Friedensbegriff“ (Brock 2002, S.96) feststellen. Dieses Unbehagen resultiert aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation, in der Krieg durch nukleare Abschreckung vermieden werden sollte – ein Zustand „organisierter Friedlosigkeit“ (Senghaas 1972), ohne Krieg, jedoch stets kurz vor der Katastrophe und der Zerstörung des gesamten europäischen Kontinents. Genau diese Situation hatte Johan Galtung bei seiner Konzeption des erweiterten Gewalt- und Friedensbegriffs im Blick. So blende der negative Friedensbegriff die herrschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen des Friedens aus; mehr noch, er trage mit dazu bei, ungerechte Verhältnisse auf der Suche nach Frieden zu zementieren.
Andererseits mehren sich aber auch die kritischen Stimmen gegenüber dem positiven Friedensbegriff. Dazu gehören vor allem Frankfurter Friedensforscher wie Lothar Brock (1990, 2002), Ernst-Otto Czempiel (1998, 2002), Christopher Daase (1996) oder Harald Müller (2003). Ihre Kritik gliedert sich in verschiedene Argumentationsstränge: forschungspraktische, ethische sowie empirische. Forschungspraktisch wird gegen den positiven Friedensbegriff seine Weite und Unbestimmtheit in Anschlag gebracht. Unklar bleibe, was konkret der Gegenstand des Friedens sei und wo die Abgrenzungen der Friedensproblematik gegenüber anderen gesellschaftlichen Großthemen liegen. Ein Friedensbegriff, der von der Verhinderung und Eindämmung des Krieges über die Schaffung sozialer Gerechtigkeit bis hin zum Umweltschutz alles umfasse, verliere die Fähigkeit „zur unterscheidenden Beschreibung“ (Müller 2003, S.211). „Friedensforschung bzw. die Theoriebildung über Frieden wäre für alles und das heißt im Umkehrschluss für nichts zuständig“ (Brock 1990, S.78). In diesem Kontext fordern die Frankfurter eine Trennung von Friedensbegriff und Friedensursachen.
Aus ethischer Sicht wird befürchtet, dass der positive Frieden zur Legitimation von Gewalt missbraucht werden könne. Werde Gerechtigkeit als wesentliches Moment des positiven Friedens in den Friedensbegriff hineingenommen, stoße man – so Harald Müller (2003, S.212) – auf zwei Probleme: Erstens könnten Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit in Widerspruch zueinander treten. Gewalt könne zur (Wieder-)Herstellung von Gerechtigkeit in Anspruch genommen werden.2 Zweitens gebe es verschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen, die den positiven Friedensbegriff unbrauchbar machen, abgesehen davon, dass diese auch zu einer neuen Quelle von Gewalt führen können.3 In diesem Sinne argumentiert auch Ernst-Otto Czempiel (1995, S.167): „Da die Gerechtigkeit partikular und fraktioniert ist, ist es auch der Friedensbegriff.“ Frieden sei dann nicht das Werk der Gerechtigkeit, sondern des Gewaltverzichts. Ferner ergebe sich ein ethisches Problem aus der unzulänglichen Differenzierung direkter und struktureller Gewalt, denn während Tod und Verstümmlung irreversible Zustände sind, haben Ausbeutung und Repression zumindest hypothetisch die Chance ihrer Reversibilität (Müller 2003, S.212f.).
Schließlich sei der positive Friedensbegriff mit seiner Intention aus der