Die Soziologie Pierre Bourdieus. Boike Rehbein

Читать онлайн.
Название Die Soziologie Pierre Bourdieus
Автор произведения Boike Rehbein
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846347003



Скачать книгу

der Phänomenologie, Edmund Husserl, den er auf Deutsch las und in Auszügen übersetzte.2 Da die französische Phänomenologie von marxistischen Einflüssen geprägt war, beschäftigte sich Bourdieu in dieser Zeit auch mit dem frühen Marx (1992b: 16). Bourdieu schloss die Schule 1951 ab – als ein Bildungstitel noch die Zugangsberechtigung zu den höheren Sphären der Gesellschaft darstellte. Im Grunde hatte es Bourdieu zu diesem Zeitpunkt geschafft. Er war in der Bildungselite angekommen, die in Frankreich seit Jahrhunderten einen Großteil der gesellschaftlichen Elite insgesamt stellt.

      1951 bis 1954 studierte Bourdieu Philosophie an der Faculté des lettres der Sorbonne. Außerdem wurde er zum innersten Heiligtum der französischen Geisteswissenschaften zugelassen, der Ecole normale supérieure (ENS) in Paris. Nahezu gleichzeitig mit Bourdieu besuchte Jacques Derrida die ENS, etwas früher hatte Michel Foucault dort studiert. Die Sorbonne und die ENS befinden sich – symbolträchtig – im Zentrum von Paris zwischen dem Panthéon (in dem die Größen Frankreichs beerdigt sind) und der Kirche Notre-Dame. Der Sohn eines Dorfpostlers und einer protestantischen Mutter befand sich im intellektuellen Zentrum der »Grande Nation«. Auch hier hatte er Erfolg. 1954 bestand er mit Auszeichnung die Agrégation in Philosophie, die zum Eintritt in den Staatsdienst berechtigt und einen Status verleiht, der dem des chinesischen Mandarins vergleichbar ist. Seine Abschlussarbeit schrieb Bourdieu über »Leibniz als Kritiker von Descartes« (1992b: 17). Gleich nach der Agrégation erhielt er die dem Abschluss entsprechende Anstellung. Ein Jahr lang unterrichtete er an einem Provinzgymnasium in Alliers.

      Der weitere Aufstieg (der ihn entweder an eine Universität in der Provinz oder ein Gymnasium in Paris geführt hätte) wurde 1955 durch die Einberufung zum Militärdienst unterbrochen. Die Ausbildung zum Reserveoffizier lehnte er ab. Daher sollte er – was immerhin noch standesgemäß gewesen wäre – dem psychologischen Dienst zugeordnet werden, aber er wurde nach Algerien geschickt – vermutlich weil er gleich nach seiner Einberufung Streit mit seinen Vorgesetzten bekam (2002b: 46). Algerien war eine französische Kolonie. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die algerische Bevölkerung – wie die anderer französischer Kolonialgebiete – nicht bereit, die Rückkehr der Besatzer zu akzeptieren. Eine Besonderheit Algeriens bestand darin, dass hier sehr viele Franzosen lebten, nahezu zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, und die Kolonie als sehr wichtig betrachtet wurde. Die Franzosen bildeten die Oberschicht im Land. Sie bekleideten alle Führungspositionen und verdienten im Durchschnitt 20mal mehr als die Einheimischen (2003a: 14). Längst war eine Schicht von Algeriern herangewachsen, die eine europäische Bildung genossen und die europäischen Lehren von der Emanzipation kennen gelernt hatten. Ferner hatte der Zweite Weltkrieg die Besiegbarkeit Frankreichs gezeigt. 1954, kurz nach der Unabhängigkeit Nordvietnams, brach der offene Krieg aus. Wenige Monate später trat Soldat Bourdieu seinen Dienst an. Er musste allerdings nicht in die Kampfhandlungen eingreifen, sondern verrichtete Bürotätigkeiten in der Heeresverwaltung.

      Die Kolonialkriege hatten Frankreichs Intellektuelle schon seit einem Jahrhundert gespalten. Die Franzosen hatten 1830 Algier besetzt, das Land aber erst 1870 ganz unter ihre Kontrolle gebracht. In der Folge wurde das Kolonialreich ständig vergrößert, auch unter sozialistischen Regierungen. Die linksgerichteten Kolonialisten argumentieren, die französische Herrschaft bringe den »Wilden« Zivilisation, Aufklärung und Freiheit. Diese Position wurde noch zur Zeit von Bourdieus Militärdienst vertreten. Die Mehrheit der französischen Intellektuellen – allen voran Sartre – verurteilte den algerischen Kolonialkrieg jedoch entschieden. Zu ihnen zählte auch Bourdieu (1992b: 17f). Allerdings stellte er sich nicht hinter die Bildungselite, zu der er jetzt ja gehörte. Es gab ihm vielmehr zu denken, dass die Intellektuellen in Paris den Kampf eines Volks unterstützten, von dem sie nichts wussten. Er selbst war nun täglich mit den Schrecken des Krieges und der kolonialen Unterdrückung konfrontiert. Über das, was er sah, war er zutiefst entsetzt. Eben deshalb schienen ihm die rein theoretisch und/ oder ideologisch begründeten Urteile Sartres und seiner Mitstreiter unangemessen.

      »Gegenüber dem traditionellen Philosophieren über Gott und die Welt hatte ich das Glück, quasi-metaphysische Probleme und existenzielle Fragen auf sehr dramatische Weise im Konkreten gestellt zu sehen. Daraus erwuchs mir dann eine philosophische Anthropologie, aber im guten Sinne des Wortes, d. h. nicht als irgendeine vage Spekulation, sondern als Reflexion angesichts dramatischer menschlicher Lebensumstände, die mich tief erschütterten.« (Bourdieu, zitiert in Schultheis 2003a: 35)

      Zu Beginn seines Kriegsdienstes versuchte Bourdieu, innerhalb der Armee gegen den Krieg zu agitieren. Dabei hatte er wenig Erfolg, weil die meisten anderen Soldaten eine rassistische und gleichsam professionelle Einstellung nach Algerien mitgebracht hatten (2002b: 47). Zunehmend wandte er sich von den Franzosen ab und den Algeriern zu. Sein Vorgesetzter gewährte ihm dabei eine gewisse Freiheit, weil er ebenfalls aus dem Béarn stammte (2002b: 48). Der Übergang aus dem französischen Milieu zur empirischen Beschäftigung mit dem Alltag der Menschen in Algerien war vielleicht die entscheidende Wende in Bourdieus intellektueller Laufbahn. Er hatte immer noch vor, nach der Beendigung des Militärdienstes seine Tätigkeit als Philosophielehrer bzw. -professor fortzusetzen (ebd.). Während seiner Beschäftigung mit dem algerischen Alltag rückte er von dem Vorhaben ab und brach, wie er rückblickend schrieb, »mit der gelehrten Sicht der Dinge« (2002b: 45f). Auf Grund seiner Herkunft hatte er sich in dieser »hochmütigen« Welt ohnehin nie zu Hause gefühlt (2002b: 50). »Wenn es etwas Einzigartiges an meiner Karriere gibt, dann die Tatsache, dass ich mich mit der Universität niemals in dem Maße identifiziert habe wie die meisten der von ihr Verzauberten.« (Bourdieu, zitiert in Jurt 2003b: 8) Nun beschäftigte er sich mit Menschen, die denen seiner Heimat sehr viel ähnlicher waren als die Pariser Intellektuellen. Franz Schultheis charakterisierte das Verhältnis Bourdieus als »Wahlverwandtschaft« (2003b).3

      Mit größtem Eifer stürzte sich Bourdieu in sein neues Tätigkeitsfeld. Er wollte ein allgemeines Werk über Algerien schreiben, um die französischen Intellektuellen mit der algerischen Wirklichkeit zu konfrontieren. Später meinte er, seine Untersuchung sei eher zivil (im Sinne von staatsbürgerlich) als politisch motiviert gewesen. Die Franzosen hätten damals wenig über Algerien gewusst und für eine politische Meinung eigentlich keine Grundlage gehabt (2003a: 42). Dieser aufklärerische und politische Impetus wissenschaftlicher Arbeit ist ein Grundmerkmal von Bourdieus Soziologie. Er motivierte schon sein erstes Buch. Das Besondere dieser Motivation – der Unterschied etwa zu Sartre – besteht eben darin, dass Bourdieu keine Urteile als gegeben oder gar axiomatisch voraussetzen wollte; sondern er war der Meinung, dass wissenschaftliche Tätigkeit das beste Mittel sei, menschliches Leiden zu erkennen und letztlich zu beseitigen. In Bezug auf seine Arbeit in Algerien schrieb er: »Eine anscheinend abstrakte Analyse kann einen Beitrag zur Lösung der dringlichsten politischen Probleme leisten.« (2003a: 45; vgl. Schultheis 2003b) Ich werde im zweiten Kapitel ausführlich darauf eingehen.

      Das allgemeine Werk erschien 1958, gleich nach Beendigung des Militärdienstes, in der renommierten Reihe »Presses universitaires de France« (PUF – die UTB in Deutschland vergleichbar ist) unter dem Titel »Sociologie d’Algérie«. Später hielt Bourdieu seinen wissenschaftlichen Anspruch dieser Zeit für vermessen. Das Buch selbst bezeichnete er als »die schlechte Strategie eines outsiders«, der die Regeln der akademischen Welt nicht kennt (1992b: 24). Nach dem Militärdienst blieb Bourdieu in Algier, wo er bis 1960 eine Assistentenstelle an der Universität erhielt. Diese Anstellung verschaffte ihm die Möglichkeit, seine Forschungen fortzuführen und zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen. Er begann mit ethnographischen Studien, weitete den Bereich seiner Begriffe, Methoden und Instrumente aber rasch aus. Es entbrannte in ihm ein unstillbarer Wissensdurst (2002b: 55). In den folgenden Jahren arbeitete er täglich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht, verschlang unzählige Bücher und versuchte, alle Aspekte der algerischen Gesellschaft zu ergründen. Er sagte sich unentwegt: »Armer Bourdieu, mit den armseligen Instrumenten, die du hast, bist du der Sache nicht gewachsen, man müsste einfach alles wissen und alles verstehen, die Psychoanalyse, die Ökonomie …« (2003b: 36) Die Mittel der Wissenschaft sollten ihn in die Lage versetzen, die Wirklichkeit zu verstehen. Sie sollten ihn aber auch vor ihr schützen, ihm Halt geben und ihn vor den Versuchungen der Ideologie bewahren. Ein prinzipielles Vertrauen in die Wissenschaft behielt er sein Leben lang bei. Er schloss sich den Mitarbeitern des französischen Statistikamts (INSEE) an, die in Algerien arbeiteten. Mit ihnen führte er eine