Die Soziologie Pierre Bourdieus. Boike Rehbein

Читать онлайн.
Название Die Soziologie Pierre Bourdieus
Автор произведения Boike Rehbein
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846347003



Скачать книгу

Das Elend der Welt

       7.2 Verstehen

       7.3 Zurück zur Praxis der Ökonomie

       8 Rezeption und Weiterentwicklung

       8.1 Der Beginn der Auseinandersetzung

       8.2 Die breite Rezeption in der Soziologie

       8.3 Scholastik und Weiterentwicklungen

       Schluss

       Glossar

       Literatur

       Sach- und Namensregister

      Einleitung

      Wozu eine weitere Einführung in Bourdieus Soziologie? Dieses Lehrbuch ist keine Einführung. Zum einen ist es für fortgeschrittene Studierende sowie Interessierte gedacht, die bereits etwas von oder über Bourdieu gelesen haben, sich weiter in seine Soziologie vertiefen möchten und vielleicht mit ihren Mitteln arbeiten wollen. Zum anderen liefert das Buch keinen Überblick über alle Werke und Gedanken Bourdieus, sondern sucht die Entwicklung des Kerns seiner Soziologie nachzuzeichnen. Ein Buch für diese Zielgruppe und mit dieser Zielsetzung gibt es meines Wissens noch nicht, zumindest nicht in deutscher Sprache. Ich hoffe, den inneren Zusammenhang der Werke und Gedanken Bourdieus aufzeigen zu können. Ferner möchte ich zur Lektüre Bourdieus anregen. Schließlich und vor allem soll das Buch dazu auffordern, mit Bourdieu zu forschen und zu denken.

      Zwei Gründe rechtfertigen die Veröffentlichung von Sekundärliteratur zu Bourdieu. Erstens ist er mittlerweile ein Klassiker der Soziologie und gegenwärtig einer der am häufigsten zitierten Intellektuellen. Zweitens sind seine Schriften nicht leicht zu lesen und zu verstehen. Der bloße Status Bourdieus als Klassiker ist vielleicht noch kein hinreichender Beleg für seine Bedeutung. Ich meine allerdings, dass dieser Status eine sachliche Berechtigung hat. Die Höhe der Reflexion, die Bourdieu erreicht hat, sollte heute nicht mehr unterschritten werden. Man kann durchaus sagen, dass er die Messlatte für die Soziologie höher gehängt hat. Die Reflexionshöhe erschließt sich nicht von selbst. Viele der Werke Bourdieus wirken beim ersten Lesen naiv, als sei er nicht mit dem Wissen seiner Zeit vertraut gewesen und habe Probleme der Logik oder der Methode nicht gesehen. Methodologische Schwierigkeiten, Begriffsklärungen, strategische Überlegungen und Auseinandersetzungen mit der Geistesgeschichte finden in seinen Veröffentlichungen einen vergleichsweise geringen Raum. Die Leserschaft wird in erster Linie mit Ergebnissen konfrontiert, weniger mit Argumentationen und scholastischen Erörterungen.

      Die Werke verarbeiten schwierige und fundamentale Probleme der Erkenntnistheorie in Verbindung mit zum Teil banal anmutendem empirischen Material. Was beim Lesen begegnet, sind Daten und wenig konsistent gebrauchte, undefinierte Begriffe. Dass eine außergewöhnliche theoretische Arbeit dahinter steckt, fällt nicht ins Auge. So unwahrscheinlich es wirkt, einer der wichtigsten Bezugspunkte Bourdieus ist Immanuel Kant. Bourdieu hat nicht nur an empirischen Gegenständen, sondern auch an einer soziologischen Vernunftkritik gearbeitet. Er wollte das, was bei Kant reine, überzeitliche Erkenntniskategorien sind, auf soziale Verhältnisse zurückführen und gleichzeitig Kants Philosophie als Ausdruck einer bestimmten Zeit und sozialen Position in ihr aufweisen. Er erklärte, seine Arbeit sei »im Grunde immer der Versuch […], die Erkenntniswerkzeuge zum Erkenntnisgegenstand zu machen und die mit den Erkenntniswerkzeugen gegebenen Grenzen der Erkenntnis zu erkennen« (1997e: 221).

      Die soziologische Vernunftkritik war kein Selbstzweck, sondern als gelerntem Philosophen reichte Bourdieu die unreflektierte Fortführung (irgend) einer soziologischen Tradition nicht aus. Er wollte die Grundlagen der eigenen Erkenntnis kritisch beleuchten und möglichst weit gehend ausweisen. Indem Bourdieu in den Arbeiten der soziologischen Tradition unhinterfragte oder nicht überzeugende Voraussetzungen aufdeckte, vermied er sie und aus ihnen resultierende Unzulänglichkeiten der Forschung. Hieraus hat er eine regelrechte Methode gemacht, die an Gaston Bachelard anschließt. Er kontrastierte zwei einander widersprechende Ansätze der Tradition, um ihre Stärken und Schwächen abzuwägen. Die theoretischen Folgerungen, die er aus der Kontrastierung zog, arbeitete er dann am empirischen Material ab, um dieses und die Theorie zugleich kritisch zu beleuchten und anzureichern.

      Man könnte sagen, dass Bourdieus Vorgehensweise zu einer Soziologie führte, die auf einer mittleren Ebene anzusiedeln ist. Sie steht zwischen Theorie und Empirie, Universalgeschichte und Momentaufnahme, Ethnologie und Soziologie, Globalem und Lokalem. Und ihre Theoreme haben eine mittlere Reichweite, sowohl örtlich wie zeitlich. Die mittlere Ebene ist mit einer Wissenschaftstheorie verknüpft, die nicht in Ableitungen und Substanzen, sondern in Konfigurationen und Relationen denkt. Der Ansatz scheint mir zukunftsweisend zu sein (vgl. Rehbein 2013). Die hier noch abstrakt wirkenden Bemerkungen zur Bedeutung Bourdieus werden im zweiten und dritten Kapitel ausführlich erläutert.

      Neben Bourdieus Bedeutung ist der beschwerliche Zugang zu seinen Gedanken eine Rechtfertigung für Sekundärliteratur. Seine Schriften sind keine erholsame Lektüre. Man möchte meinen, dass er sich ständig wiederholt, jede Wiederholung aber leicht variiert. Die Sätze sind lang und komplex aufgebaut, konsistente Erklärungen sind selten. Theoreme und Begriffe werden je nach empirischem Gegenstand und Ort in der Darstellung leicht modifiziert. Bourdieu hat seinen schwierigen Stil mit zwei Argumenten gerechtfertigt. Erstens wolle er sich auf diese Weise gegen böswillige Lesarten schützen, zweitens sei die Komplexität der sozialen Welt nur durch komplexe Sätze und Darstellungen wiederzugeben (1992b: 70ff; 1993b: 14, 37; Leitner 2000: 152). Die Komplexität wird noch dadurch gesteigert, dass Bourdieu versuchte, seine eigene Sichtweise und den jeweiligen Zweck in die Darstellung zu integrieren. Ferner bemühte er sich, gegen den Strom zu schwimmen, Elemente herrschender Diskurse zu vermeiden und möglichst schwer greifbare Termini zu verwenden (1993b: 38). Er gestand jedoch zu, dass letztlich nur wohlmeinende Leser und Leserinnen diese Maßnahmen begriffen – also Menschen, die der Maßnahmen gar nicht bedürften (1993b: 14).

      Da seine Werke komplex, an die äußeren Umstände angepasst und eng mit der Empirie verwoben sind, ist es einfach, Bourdieu zu kritisieren. Es wimmelt in seinem Werk von Schwächen in der Argumentation, kleineren und größeren Widersprüchen, ungenügend belegten Aussagen. Wer nach der Widerlegung einer Aussage von Bourdieu ablässt oder sich ihm gar überlegen glaubt, wird den ungeheuren Reichtum seiner Werke nicht ergründen können. Er suchte stets, der Sache gerecht zu werden, anstatt auf Konsistenz zu beharren. Wie Jürgen Habermas sah er die soziale Welt auf eine ungeheuer komplexe und differenzierte Weise. Beide entsagten dem soziologischen Denkstil, die Vielfalt auf wenige Gesetze zu reduzieren. Bourdieus Begriffe arbeiten unentwegt, damit ändern sie sich, schillern, lassen sich nicht eindeutig definieren. Aus diesem Grund bringt es wenig, die einschlägigen Zitate anzuführen, um in Stein hauen zu können, was mit dem Begriff des Habitus oder dem des Kapitals gemeint ist. Man wird abweichende Zitate finden, die nicht weniger »richtig« sein müssen. Die Widerlegung und die Definition isolierter Elemente von Bourdieus Soziologie verkennen meines Erachtens die relationale und konfigurationale Denkweise. Vor allem aus diesem Grund möchte ich den Zusammenhang der Kerngedanken nachzeichnen, anstatt einen Überblick oder Definitionen anzubieten.

      Glücklicherweise sind fast alle Einführungen in Bourdieus Denken sehr gut und auf hohem Niveau. Bei UTB ist unlängst ein Buch für Anfänger erschienen (Fuchs-Heinritz, König 2005), auf das der vorliegende Band aufbaut. Ferner sei auf die großartige Einführung von Markus Schwingel (1995) und das leicht verständliche Werk von