Название | Die Soziologie Pierre Bourdieus |
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Автор произведения | Boike Rehbein |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846347003 |
Diese Strukturen schienen nun auch dort erhalten zu bleiben, wo die Moderne Einzug hielt – wenn die Gemeinschaften zumindest teilweise fortbestanden. Dort erwarben die Algerier und Algerierinnen weiterhin ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster von ihren Vorfahren, die kulturellen Werte würden mündlich übermittelt (1958: 83). Selbst in den Städten kümmerten sich die Menschen nicht um Produktivität, Effizienz und Gewinn, sie behielten den gewohnten Tagesablauf bei (1958, 55f). Was aber geschah dort, wo die traditionalen Gemeinschaften zerstört wurden oder wo der Druck zur Anpassung an die Moderne zu groß wurde? Aus den traditionalen Strukturen fielen vor allem die Menschen heraus, die eine Lohnarbeit finden mussten und nur instabile Beschäftigung fanden. Sie waren vereinzelt.
»Der Mensch der ländlichen Gemeinschaften, der stark in gemeinschaftliche Bande verwoben ist, eng von den Alten angeleitet und von einer Fülle von Traditionen unterstützt wird, macht dem isolierten und hilflosen Herdenmenschen Platz, der aus den organischen Einheiten herausgerissen ist« (2003a: 26).
Die Auswirkungen der Vereinzelung, des Kapitalismus, der Arbeitslosigkeit, der sozialen Differenzierung untersuchte Bourdieu in den Jahren nach dem Erscheinen der »Sociologie d’Algérie« genauer. Besser gesagt, er führte die begonnenen Detailuntersuchungen fort. In ihnen tritt sein Ansatz schon recht deutlich hervor, auch wenn seine Einsicht noch nicht ganz entfaltet ist. Er fand heraus, dass gerade der Wechsel von Arbeit und Arbeitslosigkeit die Traditionen zerstörte (1962b: 1039). Die Angst vor Arbeitslosigkeit bestimmte zunehmend das Denken und Handeln der städtischen Bevölkerung (1963: 268). Die in prekären Verhältnissen lebenden Menschen brachen mit der Tradition, obwohl sich ihre Lebensweise auf den ersten Blick nicht von der traditionalen unterschied: unregelmäßiger Wechsel von Arbeit und »Freizeit«, keine Planung der Zukunft, keine Ersparnisse, keine Reflexion auf die Bedingungen und erst recht keine Bemühung zur Veränderung der Bedingungen (1962b). Unter den oberflächlichen Ähnlichkeiten verbargen sich jedoch grundlegende Differenzen: Die traditional Lebenden waren immer »beschäftigt«, auch wenn sie nicht arbeiteten, sie waren in eine Gemeinschaft integriert, sie mussten für ihren Lebensunterhalt keine Schulden machen, sie brauchten sich nicht um ihre Zukunft zu kümmern, während die Tagelöhner, Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten nicht für ihre Zukunft sorgen konnten, unehrenhaft Schulden machen mussten und vereinzelt waren (ebd.). Da sie nicht für die Zukunft planen konnten, entwickelten sie auch kein kapitalistisches Kalkül. Das war nur den Unternehmern und den stabil Beschäftigten möglich (siehe unten; vgl. Rehbein 2004). Hier sah Bourdieu die entscheidende Trennlinie in der algerischen Gesellschaft, zumindest in der städtischen. Sie ließ sich genauer bestimmen als Differenz zwischen fester Stelle und Gelegenheitsarbeit. Quantitativ ermöglichte erst ein Einkommen über 600 Francs eine rationale Planung der Zukunft und damit ein kapitalistisches Kalkül (1963: 361ff). Die Trennlinie wird in Abbildung 1 veranschaulicht. Menschen oberhalb der Trennlinie nahmen die kapitalistische Denkweise an und wiesen den geringsten Unterschied zwischen Ideologie und Verhalten auf. Dennoch machte sich auch bei ihnen noch die Trägheit des traditionalen Habitus bemerkbar. Die Menschen kehrten jederzeit zu wirklichen oder vermeintlichen Traditionen zurück, wenn die kapitalistischen Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten verschwanden (1963: 366).
Der Kapitalismus entwickelte sich also nicht gleichmäßig. Man konnte nicht einmal sagen, dass er auf dem Land langsam und in der Stadt schnell entstand. Eher entwickelte er sich in verschiedenen Klassen unterschiedlich schnell, genauer gesagt: die Entwicklung hing von den Existenzbedingungen der Menschen ab (2000c: 24f). Bourdieu führte das kapitalistische Denken also nicht auf einen Geist und nicht auf eine Klasse zurück, aber auch nicht auf ein Bündel kultureller Merkmale. Er unterschied mehrere Klassen mit unterschiedlich ausgeprägtem kapitalistischen Denken, das wiederum der individuellen Laufbahn und den jeweiligen Bedingungen entsprechend noch einmal variierte.
»Da alles Verhalten das Resultat einer Transaktion zwischen Muster und Situation ist und die Individuen gemäß ihren Fähigkeiten und ihrem Zustand mit sehr unterschiedlichen Situationen konfrontiert sind, wird das System der Verhaltensmuster, das gemeinsame Erbe, tendenziell durch Systeme ersetzt, die für jede Klasse spezifisch sind« (1963: 382; eigene Übersetzung).
Als »Faktoren der Differenzierung« wirken sich dabei die ökonomische Notwendigkeit, die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen, der Kontakt mit der europäischen Gesellschaft, das Einkommen, das Bildungsniveau und die Ideologie der Klasse aus (ebd.). Diese Gedankenfigur kommt der entfalteten Einsicht und dem Ansatz des reifen Bourdieu schon recht nahe.
Auf der Basis seiner »Faktoren der Differenzierung« unterschied Bourdieu in der städtischen Gesellschaft Algeriens vier Klassen: Subproletariat, Proletariat und Semiproletariat (neue Arbeiter und traditionelle Arbeiter), Kleinbürgertum, Bourgeoisie (1963: 365ff). Die Klassen bestimmten sich also nicht allein – wie bei Marx – durch ihren Besitz an Produktionsmitteln, aber auch nicht allein nach ihrem Einkommen. Bourdieu hielt auch nicht an der alten Einteilung in Stadt und Land bzw. westliche und traditionale Gesellschaft fest. Vielmehr überlagerten sich all diese Unterschiede mit weiteren wichtigen Differenzen. Diese differenzierte Betrachtung der Sozialstruktur ist ein wichtiger Beitrag Bourdieus zur Soziologie und hat die Sozialstrukturforschung nachhaltig verändert (siehe 5. Kapitel).
Bourdieu stellte, wie wir gesehen haben, nicht beliebige Fragen. Ihn interessierte das Leiden der Menschen in der Kolonialgesellschaft. Das moralische Elend der Menschen schien ihm dabei noch gravierender als das materielle Elend (2003a: 26).8 Auch wenn er sich diesem Leiden auf eine innovative, eigensinnige Weise näherte, war er dabei alles andere als naiv. Die Frage nach dem Kapitalismus stellte er in enger Auseinandersetzung mit Max Weber. »Es war eine webersche Frage, die ich allerdings in marxschen Begriffen stellte …« (Bourdieu, zitiert in Schultheis 2000: 166) Webers Antwort, dass die ethisch-religiöse Orientierung eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines kapitalistischen Kalküls spiele, verwarf Bourdieu rasch. Algerien habe viel mit nicht-islamischen Gesellschaften gemeinsam, der Islam sei weder Ursache noch Folge der Sozialstruktur (1958: 96). Und die Sozialstruktur fasste Bourdieu in marxschen Begriffen.
Aus heutiger Sicht erscheint der Verweis auf Marx vielleicht etwas irreführend, denn Ausführungen über »Das Kapital« – also Begriffe wie Wert, Arbeitszeit, Profit – sucht man in Bourdieus Frühschriften vergeblich. Mit dem Verweis auf Marx konnte nur der Klassenkampf gemeint sein. Während des algerischen Kolonialkriegs bis weit in die Siebzigerjahre hinein war die Frage nach der Revolution das beherrschende Thema der politischen Linken. Und das war keine Spinnerei Pariser Intellektueller, sondern rund um die Welt Realität. Nachdem das geographisch größte Land 1917 eine sozialistische Revolution erlebt hatte, folgte 1949 mit China das bevölkerungsreichste Land. Die französische Kolonie Indochina verlor 1954 Nordvietnam, während die Vereinigten Staaten die Teilung Koreas akzeptieren mussten. Überall in der »Dritten Welt« entstanden sozialistische Befreiungsbewegungen. Die USA, die 1945 Frankreich noch dafür getadelt hatten, seine Kolonialherrschaft wiederherstellen zu wollen, stellten sich wenig später auf die Seite der Kolonialherren. Nun hieß es für sie, Sozialismus oder Freiheit (Kapitalismus). Für die meisten Pariser Intellektuellen war die Frage längst beantwortet. Ihre Fragen lauteten, wo die Revolution stattfinden sollte, ob sie dem chinesischen oder dem sowjetischen Vorbild zu folgen hätte, ob die Bauern oder die Arbeiter sie vollziehen würden.
Bourdieu konnte sich dem politischen Diskurs, der ja reale Grundlagen hatte, nicht entziehen. Er wollte nur nicht intuitiv Partei ergreifen, sondern die Fragen wissenschaftlich beantworten: »man musste die Frage beantworten, ob die Bauern oder das Proletariat die revolutionäre