Название | Das Tagebuch der Jenna Blue |
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Автор произведения | Julia Adrian |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783959913065 |
Unwillkürlich denke ich an die Bücher, die sich in Scarletts Zimmer türmen, uralte Wälzer mit abgegriffenen Umschlägen und verblichenen Lettern. Sie hortet sie nicht aufgrund ihrer Geschichten, sondern wegen dem, was zwischen den Seiten steckt. Getrocknete Blüten, brüchiges Weidenlaub und pastellgelber Löwenzahn, Vergissmeinnichtstängel und Rosenknospen. Scarlett sammelt Blüten. Sie bricht, trocknet und presst sie. Sie besitzt ganze Alben voll davon, sicher verwahrt vor dem Zerfall.
»Fürchtest du den Tod?«, frage ich in die Stille.
»Ich fürchte das Danach.« Eine Antwort, wie sie nur Scarlett geben kann. »Unsere Körper zergehen, zerfallen, zersetzen sich. Doch was dann? Sind wir dann fort oder existieren wir weiter? Womöglich durch Blumen, die sich von uns nähren; doch was, wenn auch sie vergehen? Was bleibt dann noch?«
»Honig«, rate ich.
Scarlett sieht mich lange an, dann schlägt sie die Beine auf eine Art übereinander, die mich vermuten lässt, dass sie weit öfter hier oben sitzt und über das Leben nach dem Tod sinniert; mir wird allein vom Zusehen schlecht. Wie wir es als Kinder aushielten, auf den Schindeln Fangen zu spielen, ist mir ein Rätsel. Nicht dass ich die Höhe fürchten gelernt hätte, es ist mehr das Bewusstsein darüber, was ein Sturz alles anrichten kann. Kein Kind denkt darüber nach, das Leben ist ein Abenteuer und der Himmel zum Greifen nah.
Wenn ich den Kopf in den Nacken lege, erscheinen mir die violetten Zuckerwattewolken so fern wie die Zeit, da Scarlett und ich sie zu kosten versuchten und Mutter uns aufforderte, höher zu springen …
Wind kommt auf, fröstelnd ziehe ich die Knie an. Da entgleitet mir das Buch. Es schlittert die Schindeln hinab, stolpert über die Rinne, ehe es die Schwerkraft gen Tiefe zieht. Der Aufprall klingt dumpf. Er weckt etwas in mir.
»Ist dir schlecht?« Scarlett betrachtet mich argwöhnisch.
Ihre Worte – und der Klang des Buches – haben eine Tür aufgestoßen, die ich all die Jahre sorgsam verriegelt hielt. Nur ein Abend, ein verfluchter Abend und wenige Momente mit ihr genügen, um sie aus den Angeln zu heben.
Die Erinnerungen stürzen auf mich ein. Mutter am Fenster, wie sie uns über den Sims hebt; wie sie lacht und uns auffordert, es ihr gleichzutun; wie sie die Arme über den Kopf streckt und auf die Zehenspitzen steigt; wie Scarlett es ihr spielerisch gleichtut; und ich selbst wankend im Wind, die Schindeln rau und kalt unter meinen Zehen – und seltsam lebendig, als sie sich in Bewegung setzen. Ich spüre noch den Sog der Tiefe, den Ruck an meinem Arm, als Mutters Finger sich darum schließen.
Jetzt ist es Scarletts Hand. »Jenna, alles in Ordnung?«
Nein. »Ja.«
»Keine Sorge, Papier ist widerstandsfähig.«
»Mir geht’s gut«, würge ich hervor. Dabei wäre es der perfekte Vorwand, diese Scharade abzusagen, ich bräuchte die Übelkeit nicht einmal vortäuschen. Alles dreht sich. Der Himmel, das Dach, die Spukvilla. Ich zwinge den Blick dorthin, zähle meine Atemzüge und kralle mich an die Schindeln. Sie sind warm, ein letzter Gruß der Sonne, bevor die Nacht hereinbrechen und ihre Wärme sich verflüchtigen wird; wie die Erinnerungen. Die Bilder verlieren bereits an Kontur.
Scarlett hält mich fest, als fürchte sie, ich könnte dem Buch folgen. Ihre Berührung überlagert sich mit der von Mutter. Zitternd entwinde ich ihr den Arm.
»Es geht mir gut.« Selbst wiederholt klingt es nicht wahrer, meine Stimme bebt, ich habe einen Kloß im Hals.
Scarlett zündet eine neue Zigarette an, sie mustert mich nachdenklich. »Es gibt einen Spalt, aber er ist zu eng, als dass eine erwachsene Person hindurchpassen könnte. Selbst die meisten Kinder würden stecken bleiben.«
Warum sie jetzt davon anfängt, obwohl ich noch absagen könnte – und kurz davor bin –, erschließt sich mir nur unter der Prämisse, als dass sie darum weiß, oder es zumindest ahnt, und nun ihren Teil der Abmachung erfüllt, ehe ich von meinem zurücktreten kann.
»Warst du im Garten?«, höre ich mich fragen.
Alles ist besser, als an früher zu denken.
Alles ist besser, als zuzugeben, dass ich kaum noch meine Beine spüre. Ich bin wie erstarrt, fürchtend, dass jede Bewegung, und sei sie noch so klein, mich direkt in die Vergangenheit katapultiert, zurück zu ihr.
Scarlett lässt sich Zeit mit der Antwort. »Nein.«
»Du hast gelogen.« Ich ahnte es bereits.
»Erinnerst du dich an Alice? Ich habe ihr von dem Spalt erzählt; sie hat sich hindurchgezwängt.« Die Zigarette verglimmt ungenutzt, ihr Blick ruht auf der Villa.
Ich stutze. »Alice? Ist die nicht … tot?«
Scarlett nickt auf eine Art, die mich irritiert. Sie waren Freunde, damals, bevor Mutter verschwand. Scarlett jedoch wirkt distanziert, als ginge es um den Charakter eines Buches. »Sie starb ein Jahr später an Leukämie. Niemand weiß, dass sie durch das Loch in den Garten schlüpfte; ich habe es nie erzählt.«
»Du glaubst doch nicht an den Fluch?« Zumindest tat sie es früher nicht, stattdessen verspottete sie all jene, deren Furcht zu offensichtlich war.
»Natürlich nicht«, lässt sie mich abschätzig wissen. »Alice war krank. Deshalb starb sie.«
Weshalb hat sie es dann erwähnt? Scarlett sagt niemals etwas leichthin. Ihre Worte sind von einer Präzision, um die ein Chirurg sie beneiden würde. Jeder Spott trifft sein Ziel, keine unbedacht geäußerte Nebensächlichkeit verfehlt ihre Wirkung. Scarlett spielt mit Worten, sie sind ihr Schild und Klinge in einem.
»Hör auf zu grübeln, Jenna. Das steht dir nicht.«
Einer der Gründe, warum ich selten etwas erwidere. Ich denke mir meinen Teil und hasse sie in Gedanken. Hass. Ein starkes Wort. Eines, das positioniert. Scarlett würde es nie benutzen, es wäre zu direkt, zu konfrontativ; sie bewegt sich lieber in den Grauzonen und nutzt das Ungesagte ebenso wie das wohlplatzierte Wort.
»Was fasziniert dich daran?«, fragt Scarlett und nickt hinüber zum Grundstück der Spukvilla. Vom Dach aus können wir den Teil des Gartens überblicken, auf dem sich im Zentrum einer gewaltigen Wiese ein noch gewaltigeres Schachfeld erhebt. Steinquader neben Rasenflächen, die Figuren mannshoch und elbisch anmutend, als wären sie geradewegs aus Lothlórien in diese Welt gestolpert und dabei zu Stein erstarrt. Was mich an mein Buch erinnert. Ich beuge versuchsweise die Knie; das Gefühl kehrt nur partiell zurück. Wackelige Beine, der Schreck fährt in die Glieder – alles Redewendungen, die mein Körper inhaliert hat. Er ist wachsweich, unfähig, meinen Befehlen zu gehorchen.
Gleich, denke ich, gleich hole ich mein Buch.
»Springer auf G5«, ruft Scarlett.
Die Asche ihrer Zigarette rieselt zu Boden. Ich verfolge atemlos, wie sie die Schindeln hinabtanzt und in der Regenrinne unter uns zum Stillstand kommt. Die Sorge, sie könnte das Buch treffen und entflammen, ist übermächtig.
»Irgendwann fackelst du das Haus ab«, fauche ich.
»Wäre kein Verlust.«
»Es ist alles, was wir haben!«
»Ein zerfallender Resthof. Was sind wir gesegnet.«
»Spotte nicht.«
»Selbst ohne die hochherrschaftliche Nachbarschaft der Spukvilla wäre unser Hof eine Zumutung. Kein Wunder, dass Mama es vorzog, auf dem Dach zu sitzen und die Villa zu malen, täte ich auch, besäße ich ihr künstlerisches Talent; aber das hat sie ja dir vererbt, genau wie ihre Pinsel und Farben.« Verbitterung schwingt in ihrer Stimme mit.
Ich bin überrascht, denn sie zeichnet gut. »Du hast nie etwas gesagt.«
Sie hebt eine Braue. »Hättest du mit mir geteilt?«
Nein. Hätte ich nicht. Sie weiß das.
»Manchmal ist die Antwort so naheliegend«, murmelt sie.
Ich