Das Tagebuch der Jenna Blue. Julia Adrian

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Название Das Tagebuch der Jenna Blue
Автор произведения Julia Adrian
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783959913065



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Stirn; hat sie die Tränen doch gesehen? »Sie reicht dir eine Hand, Jenna.«

      »Es ist bloß eine Party«, protestiere ich.

      »Richtig, bloß ein Abend. Was macht das schon?«

      Ja, was macht das eigentlich? Ein Abend. Eine Party.

      »Vielleicht«, gebe ich nach. Ich tue es allein für Anna.

      Veilchenblau

       Ich weiß nicht, wann ich Scarlett das erste Mal des Nachts die Stufen hinunter folgte; die Wände sind hellhörig, mein Schlaf ist leicht und im Gegensatz zu mir hat sie nie gelernt, sich lautlos zu bewegen, eins zu werden mit dem Haus und seinen Schatten. Ich hörte sie in der Küche hantieren und später im Wohnzimmer. Die Dielen verrieten ihren Weg; und wie ich so dastand und mit der Dunkelheit verschmolz – beim ersten und bei allen folgenden Malen –, vernahm ich nichts als das Wispern des Windes, der zärtlich ums Gemäuer strich und sich mit Scarletts Atem vereinte. Ihr Seufzen lockte mich wie das Licht die Motte. Das Wohnzimmer, bestehend aus zwei Teilen, betrat ich durch den hinteren Zugang im Flur. Scarlett befand sich im angrenzenden Teil nahe der Küche; ich konnte sie hören – und schließlich auch sehen. Sie saß auf dem Sofa, die Beine angewinkelt, das Nachthemd gelöst. Erst starrte ich nur auf die Rundung ihrer milchweißen Brüste, die im Gegensatz zu meinen so prall waren, dass ich mich unwillkürlich fragte, weshalb wir uns ausgerechnet in diesem Detail unterschieden. Dass sie sich vor das Fenster mitten in das Viereck aus Mondlicht setzte, vermag ich mir nur so zu erklären, als dass auch sie sich gern zusieht und um ihre Schönheit weiß.

       Sie zu beobachten, wie sie sich selbst berührt, sie für ihre Unbeschwertheit zu hassen und zugleich um ihre scheinbar grenzenlose Freiheit zu beneiden, lässt mich ihr so nah sein wie nur irgend möglich. Wir teilen ein Geheimnis. Das verleiht mir gewisse Macht über sie. Es macht den Alltag in ihrem Schatten erträglicher. Ich weiß, was sie zur dunkelsten Stunde tut. Ich weiß, wer sie dann ist.

      »Ich wusste, dass es dir steht!«

      Scarletts Mund lächelt, doch ihre Augen sind so ausdruckslos wie mein Gesicht. Nebeneinander stehen wir vor dem Spiegel, der jede Ballerina vor Neid erblassen ließe. Wie Scarlett es aushält, sich durchgehend selbst zu betrachten – am Schreibtisch, beim Umziehen, im Bett –, ist mir schleierhaft. Ich würde mich beobachtet fühlen.

      Vielleicht ist es gerade das, was ihr gefällt.

      Vielleicht kann sie nicht mehr ohne.

      »Was sagst du dazu?« Sie zupft den Träger auf meiner Schulter mit spitzen Fingern zurecht. Ich weiß nicht, wann wir uns das letzte Mal so nah waren. Ich erinnere mich nicht einmal daran, wie sie sich anfühlt. Der Gedanke, ihre Hand zu halten, sie gar in den Arm zu nehmen, ist so surreal, dass ich unweigerlich einen Schritt zur Seite trete. Scarlett quittiert es mit einer gehobenen Braue.

      »Gefällt es dir nicht?«

      Nein. »Doch.« Ich betrachte mich im Spiegel.

      Ich trage niemals Rot. Es ist Scarletts Farbe. Ihre Schuhe, ihr Haarreifen, ihr Mantel. Ihre Farbe. Selbst in der Schule wagt niemand darauf zurückzugreifen. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz. Rot liegt ihr im Blut. Oder besser noch: im Namen. Mich in diesem Kleid zu sehen, fühlt sich an, als würde ich ihre Haut tragen.

      »Vertrau mir«, sagt sie und streift sich das Top über den Kopf. »Es ist perfekt.«

      »Was ziehst du an?«

      »Ich gehe nackt«, scherzt sie und stellt sich neben mich, als sei es ihr tatsächlich ernst. Das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, wird durch den Kontrast der Farben verstärkt: sie lilienbleich, ich blutrot. Als wären wir durch den Spiegel in ein verdrehtes Wunderland gefallen, fragt sich nur, wer den Kopf verliert.

      Ich? Oder sie?

      Zu meinem Entsetzen greift sie auch noch zu dem alten Stoffhasen, den sie von Geburt an besitzt. Das Fell, ehemals flauschig weiß, ähnelt mehr dem eines Kadavers, dem Gesicht fehlt ein Auge und Wolle quillt wie Gedärm aus einem Riss, den sie stets verbot zu flicken.

      »Wie spät ist es?«, frage ich.

      »Zu früh«, sagt sie und winkt ihrem Spiegelbild mit der Hasenpfote zu. Wahrscheinlich existiert in jedem Haushalt ein solches Kuscheltier, dessen Ablaufdatum längst überschritten ist, das dennoch nicht entsorgt werden kann; zu viele Erinnerungen sind daran geknüpft, zu viele Tränen hat es aufgesogen, zu viele Nachtmahre in die Flucht geschlagen – falls Scarlett je Albträume hatte.

      Was ich bezweifle. Nicht Scarlett.

      Ich selbst besitze kein solches Tier. Kein Kissen. Keine Decke. Nichts. Anna sagt, ich hätte nie etwas gebraucht, ich hätte gar alles, was sie mir als Kind ins Bett legten, wieder hinausgeworfen. Vielleicht hat sich bereits darin mein Hang zur Einsamkeit angedeutet, so wie in Scarletts Hasen die Eigenheit, ihren Freunden alles abzuverlangen. Zerliebt nennt sie den Zustand, in dem er ist.

      Zerstörerische, vernichtende Liebe.

      Entspannt greift sie nach einem ultrakurzen Paillettenkleid, das ich noch nie an ihr gesehen habe – und auch nicht in ihrem Schrank, dabei kenne ich jedes Kleidungsstück. Beinahe zwanghaft suche ich ihr Zimmer auf, sobald sie das Haus verlässt. Ich weiß, in welcher Schublade sie ihre Unterwäsche aufbewahrt und was sie zwischen den Seidenstoffen versteckt. Ich kenne den Inhalt ihres Schreibtisches so gut wie den ihres Mülleimers oder den der Briefe, die sie regelmäßig an Mutter schreibt. Sie sind kurz und knapp, mehr eine distanzierte Zusammenfassung der Erlebnisse, denn der Versuch echter Teilhabe. Ich weiß nicht, wozu sie die Briefe schreibt; genauso wenig wie ich weiß, woher das Kleid stammt.

      Scarletts Mund verzieht sich spöttisch. »Ein Geschenk.«

      Als wüsste sie, dass ich stöbere. Dass ich sie dafür verachte, wie leichtfertig sie Geld ausgibt. Papas Staatshilfe reicht kaum für die Nebenkosten. Anna führt Buch über alle Ausgaben und einigen Dorfbewohnern den Haushalt, um das Nötigste dazuzuverdienen. Ich trage meinen Teil bei, indem ich den örtlichen Friedhof pflege, das Gras stutze und die Grabsteine säubere.

      Nur Scarlett … ist eben Scarlett.

      »Schau nicht so.« Sie wedelt meinen Vorwurf davon, ehe ich ihn in Worte fassen kann. »Heute Abend haben wir Spaß, du wirst schon sehen.«

      In mir wächst ein kleiner drückender Knoten, den ich verzweifelt zu ignorieren versuche. Sie ist all das, was ich nicht bin. Unbekümmert. Frei. Sorglos. Beliebt. Sie fühlt sich wohl in ihrer Haut, besitzt Freunde, die ihr etwas schenken, und einen Freund, der ihr verfallen ist. Alle sind das, einfach weil sie sie ist. Und ich bin ich.

      Und manchmal ist das einfach scheiße.

      Sie reicht mir einen Lippenstift. »Sie werden dir zu Füßen liegen.«

      Ich widerstehe dem Drang, ihn aus dem geöffneten Fenster zu schmeißen und den Abend zu streichen. Anna zuliebe.

      Während des Abendbrots verlor sie kein Wort darüber, doch ihr Blick sprach Bände. Geh mit. Ob sie wirklich glaubt, dass ein Abend etwas ändert, wage ich zu bezweifeln. Anna ist pragmatischer Natur, nicht umsonst hat sie uns die letzten Jahre getrennt.

       Scarlett, in dein Zimmer, Jenna, ab in den Garten.

       Scarlett, komm mit mir, Jenna, bleib bei Papa.

       Scarlett hier, Jenna da.

      Wir teilen nichts. Kein Hobby, keine Freunde, ja, nicht einmal das Badezimmer. Scarlett nutzt das, welches Papa kurz vor Mamas Verschwinden renovierte, ich das mit der Wanne und dem Fisch. Einzig die gemeinsamen Abendessen fallen aus dem Muster, auf die besteht Anna aus unerfindlichen Gründen und wir nehmen klaglos teil: Anna zuliebe. Auch das hat System. Der Grund, warum wir uns bisher am Leben ließen und die Existenz der anderen stillschweigend dulden: Anna zuliebe.

      Sie