Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen. Gazmend Kapllani

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Название Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen
Автор произведения Gazmend Kapllani
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558054



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und ein Fluchtversuch galt als Hochverrat.

      Eines schönen Tages, ich lebte noch gänzlich in meiner kindlichen, sorgenfreien Welt, verschafften sich die Grenzen auf blutige Weise Zutritt zu meinem verträumten Kopf. Der Tod meines Nachbars Artur brachte sie wie furchteinflößende Gespenster in mein Leben.

      WENN DU TOURIST WÄRST

      Wenn du Tourist wärst, dann klänge dein gebrochenes Griechisch für die Ohren der Zuhörer ganz reizend. Der ganze Unterschied besteht am Ende darin: Wenn ein Amerikaner gebrochen Griechisch spricht, ist er ein sympathischer Amerikaner. Wenn ein Albaner gebrochen Griechisch spricht, ist er nichts anderes als ein Scheißalbaner. Wenn ein Amerikaner sehr gut Griechisch spricht, ist er im Allgemeinen ein bewundernswerter Amerikaner. Wenn aber ein Albaner hervorragend Griechisch spricht, dann bekommt er den Spruch zu hören: »Grieche wirst du trotzdem nie, Albaner bleibt Albaner«.

      Da er also ein beklagenswerter illegaler Einwanderer ist, reizt sein gebrochenes Griechisch die Nerven der Einheimischen. Und das hat er völlig verinnerlicht. Wenn er in einen Bus steigt, vermeidet er es, Fragen zu stellen, und wenn er etwas gefragt wird, fängt er an, vor Verlegenheit zu schwitzen, und antwortet extra leise. Doch die Einheimischen drehen sich trotzdem nach ihm um, wenn sie seine Aussprache hören, und er kommt sich vor wie ein Aussätziger.

       Warum sehen sie mich so voller Angst an, fragt er sich. Er würde gerne in seinem holprigen Griechisch zu ihnen sagen: »Ich diese Land liebe. Was Angst?« Aber diese Frage stellt er nicht, er kennt die Antwort im Voraus: »Hörst du dir eigentlich selber zu? Guckst du denn keine Nachrichten? Ihr habt uns nach Strich und Faden beklaut, ihr habt uns niedergemetzelt! Man sollte euch alle einsammeln und in euer Scheißland zurückverfrachten!« »Jetzt schon?!«, fragt er sich im Stillen, »jetzt schon soll ich in mein Land zurück? Ich habe doch gerade erst Arbeit gefunden und schufte wie ein Ackergaul, von morgens früh bis abends spät, bei Wind und Wetter. Schaut euch meine Hände an, sie sind total zerschunden, ja, ich arbeite, damit eure Hände schön und glatt bleiben. Ich will auch ein Auto kaufen. Nein, zuerst eine große Stereoanlage, dann einen großen Farbfernseher, dann eine richtige Waschmaschine, dann … dann sehen wir weiter …«

      Und in dem Moment wird ihm bewusst, dass ihn die Bezeichnung »Euer Scheißland« gestört hatte. Er kennt die Scheiße seines Landes, darum ist er ja geflohen. Aber deswegen ist es noch lange kein »Scheißland«. Auch dort gibt es Kinder wie hier, auch dort gibt es Mütter, die ihre Kinder lieben, auch dort gibt es Jugendliche, die sich verlieben wie hier. Auch dort gibt es Menschen, die Hoffnungen hegen und die enttäuscht werden. Na ja, wenn wir ehrlich sind, dort nehmen die enttäuschten Menschen immer mehr zu.

       Plötzlich muss der Bus anhalten, und zwei Herren steigen ein. Sie tragen die gleiche Uniform und haben beide einen aggressiven Gesichtsausdruck. Das Blut gefriert ihm in den Adern: »Illegale Einwanderer raus, raus, raus, raus!« Und er steigt aus, die Stufen hinunter, immer weiter abwärts, tiefer geht’s nicht mehr, verdammte Scheiße!

      6

      Das geschah, als plötzlich die Chinesen in unserer Stadt auftauchten. Ganz friedlich, als wären sie vom Himmel gefallen, marschierten sie eines schönen Tages in unserer Stadt ein. Wir wachten auf und sahen sie. Auch sie sahen uns. Zu Dutzenden, alle in blauer Uniform, die rote Mao- Bibel in der Hand, schritten sie geschäftig umher. Zu dieser Zeit war Albanien in leidenschaftlicher Liebe zu China entflammt. Die kleine Stadt beobachtete die vielen Chinesen etwas verwirrt und konnte nicht nachvollziehen, was sie hier zu suchen hatten.

      In den Cafés brodelte die Gerüchteküche, höchst verwegene Hypothesen wurden aufgestellt. Die Einheimischen äußerten vor allem, dass es für sie sehr schwierig sei, einen Chinesen vom anderen zu unterscheiden, da sie sich wie ein Ei dem anderen glichen. Doch immerhin eigneten sie sich ein paar chinesische Namen und Vokabeln an.

      Es hieß, die Chinesen seien gekommen, um eine Fabrik zu bauen, in der Kriegsflugzeuge produziert werden. Eine phantasievollere Variante lautete, sie seien gekommen, um aus Albanien die größte Industrienation Europas zu machen. Am Ende stellte sich heraus, dass sie ganz einfach gekommen waren, um eine Kunststofffabrik im Umland zu errichten.

      Was unsere Lehrer anging, so erklärten sie uns, dass wir jetzt keinen Feind mehr zu fürchten bräuchten, da Mao Tse-tung Enver Hodscha sein Wort gegeben habe und uns, sollte jemand es wagen, Albanien ein Haar zu krümmen, eine Milliarde Chinesen zur Verteidigung unseres Landes schicken würde. Kurz gesagt, aus einem äußerst kleinen Volk von drei Millionen würde aufgrund unserer Freundschaft mit den Chinesen eine Milliarde und drei Millionen werden.

      Eines Morgens jedenfalls kam es zu einer höchst bizarren Begebenheit zwischen den Chinesen und den Einwohnern unserer kleinen Stadt. Die Chinesen hatten den Platz vor ihrem Hotel, dem einzigen in der ganzen Stadt, in Beschlag genommen und vollführten merkwürdige Bewegungen, als tanzten sie Ballett, aber in einem extra langsamen Rhythmus. Ein jeder ganz in sich versunken: Der eine bewegte den Kopf, ein anderer beugte sich ganz langsam hinunter zur Erde, wieder ein anderer zog das Knie zur Brust hoch. Wie sie sich da alle so in ihren blauen Uniformen bewegten, sahen sie aus, als wären sie nicht richtig im Kopf. Wir verstanden überhaupt nichts mehr. Fast die ganze Stadt hatte sich vor dem kleinen Platz versammelt, um die Chinesen anzustarren; und angesichts der großen Menschenansammlung hielt sich die Polizei in Alarmbereitschaft.

      Da sprach sich mit einem Mal herum, dass das, was die Chinesen da machten, nichts anderes war als ihre Art von Gymnastik. Diese Nachricht entlockte einigen den Ausruf: »Allah, beschütze uns vor diesen Leuten!«

      Die ganze Geschichte habe ich nur erzählt, weil sich Artur einige Wochen nach der Ankunft der Chinesen im Dezember am Silvesterabend in ein Dorf an der Grenze in der Nähe von Korça aufgemacht hatte. Dort lebte noch eine Tante von ihm, die er besuchen und gemeinsam mit ihr Neujahr feiern wollte.

      Natürlich musste man eine besondere polizeiliche Genehmigung haben, um die Dörfer in Grenznähe zu besuchen, denn diese Gegend war Teil der »verbotenen Zone«.

      Auf Arturs Beerdigung erfuhr ich, dass er gar nicht zum Dorf der Tante gefahren war, um Neujahr zu feiern, sondern um die Grenze zu überqueren und zu fliehen. Er hatte sich wohl ausgerechnet, dass die Grenzsoldaten in jenen Tagen besonders entspannt und nicht so wachsam wären wie sonst. Da hatte er sich verrechnet. Die Soldaten erwischten ihn und brachten ihn um. Auf seiner Beerdigung hörte ich zum ersten Mal, dass ein Soldat, der einen Menschen auf der Flucht tötete, als Prämie ein paar Tage Urlaub erhielt. Bei der Vorstellung, dass die Grenzsoldaten sich womöglich darum gestritten hatten, wer nun Artur töten durfte und dafür frei bekäme, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.

      Arturs Tod traf mich schwer, regte zugleich aber auch meine Phantasie an. Die Grenzen in meinem Kopf nahmen langsam metaphysische Dimensionen an. Grenzen geisterten durch meine Träume, und im Wachzustand sog ich begierig jede Geschichte auf, die gerade im Umlauf war und von Verhaftungen, Tötungen und Fluchtversuchen handelte – die meisten waren missglückt, die wenigsten geglückt.

      Menschen, denen die Flucht gelungen war, hielt ich für die stärksten und außergewöhnlichsten der Welt. Einige stammten von hier und ihre Namen erfuhr die ganze Stadt und wiederholte sie flüsternd. Nicht allein wegen ihres Tuns, sondern vor allem wegen des Terrors, der auf ihre Flucht gefolgt war. Ihre Familienmitglieder wurden verbannt, ihre Verwandten verloren ihre Arbeit und blieben auf ewig stigmatisiert, weil sie mit dem Volksfeind verwandt waren. Als potenzielle Feinde des Regimes wurden sie, genau wie die Aussätzigen im Mittelalter, auf Lebenszeit unter Generalverdacht gestellt und zu einer beliebten Zielscheibe für die zahlreichen Spitzel unserer Stadt.

      ILLEGALE GRENZÜBERQUERUNG, IMMER WIEDER

      Er wird die Grenze aber wieder passieren, er wird nach Griechenland zurückkehren. Korça – Kalampaka, acht Tage Fußmarsch und die Nacht unter Sternen verbracht, falls welche zu sehen sind. Dreihundert Dollar pro Kopf nimmt der »Führer«, der die geheimen Pfade kennt. Die Gruppe der Illegalen zählt gewöhnlich acht