Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen. Gazmend Kapllani

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Название Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen
Автор произведения Gazmend Kapllani
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558054



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infolge eines spektakulären Sturzes von der Dachterrasse auf den regennassen Boden auf Erdgeschossniveau. Sein Sturz war von einem markerschütternden Schrei begleitet, der die gesamte Nachbarschaft, auch die in den ferner liegenden Häusern aus dem Schlaf riss. Der Genosse Mete war beim Aufprall augenblicklich tot. Es war ein tragischer, viel zu früher Tod. Auf seiner Beerdigung sagte der Parteisekretär, der Genosse Mete sei mutig und wie ein Held an der vordersten Front des Klassenkampfs und beim Aufbau des Sozialismus gestorben. Trotzdem blieben die Hintergründe seines Todes ein Rätsel, was die Phantasie der Einwohner unseres Städtchens weiterhin intensiv beschäftigte.

      DER MIGRANT UND DAS REICH DES MÜSSENS

      Du musst eine Arbeit finden. Irgendeine Arbeit. Du musst überleben. Du musst eine Wohnung finden, irgendeine Wohnung, Hauptsache, sie gleicht einer Wohnstätte. Du musst diese neue Sprache lernen und kannst noch kein Wort, verwechselst »Gute Nacht« mit »Guten Abend«. Du musst lernen, leiser zu sprechen, nicht zu schreien, weil dein Gegenüber sonst erschrickt — hier bist du nicht mehr in deinem Dorf. Du musst dich vor den Mannschaftswagen der Polizei in Acht nehmen, denn du kamst ungebeten und fällst stark auf mit dieser leidgeplagten Miene und der altbackenen Frisur, wie die Menschen dieser Stadt sie seit Jahrzehnten nicht mehr tragen, vor allem mit diesen Klamotten, denen man deutlich ansieht, dass sie dir jemand geschenkt hat – oder hast du sie gar irgendwo geklaut? Du musst lernen, in normalem Tempo zu gehen, denn du läufst noch immer, als wäre der Teufel hinter dir her. Du musst auch die Straßenverkehrsregeln lernen, natürlich nur die für die Fußgänger. Du darfst die hübschen einheimischen Mädchen nicht mit diesem Blick ansehen, der an Quasimodo erinnert, mit dem er Esmeralda in Der Glöckner von Notre Dame anschaut. Müssen … Müssen … Müssen … Ohne Ende, ohne Verfallsdatum. Jeden Tag, jede Nacht, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Du hast nicht das Privileg, etwas zu wollen, du bist dazu verdammt, mit diesem unerbittlichen Müssen zu leben. Denn du musst es schaffen. Vor allem das. Das ist der Eid, den der Migrant vor sich selbst ablegt. Bei Ärzten ist es der Eid des Hippokrates, beim Migranten der Ich-muss-es-schaffen-Eid. Dieser Eid ist von nun an seine wahre Heimat. Er muss es schaffen, nicht nur, weil seine Familie in der fernen Heimat etwas von ihm erwartet. Das ist noch das Geringste. Er muss es schaffen, um nicht als Gescheiterter in diese Heimat zurückzukehren. Der Gedanke ans Scheitern lässt ihn zittern wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet. Er muss es schaffen, aber wie? Genau an dieser Stelle scheiden sich die Wege der Migranten: in die der Erfolgreichen und der Gescheiterten, der Akzeptierten und der Abgelehnten, der Glückspilze und der Pechvögel. Denn so sehr die Migranten sich auch ähneln mögen, unterscheiden sie sich dennoch beträchtlich voneinander, so wie alle Sterblichen auf dieser Welt.

      4

      Es waren zwei Versionen im Umlauf, wie es zu dem Sturz des Genossen Mete vom Dach gekommen war. Die erste, die man sich hinter vorgehaltener Hand zu Hause und in den Cafés erzählte, besagte, dass der Genosse Mete außer unter seiner klassischen Leidenschaft für die Kontrolle der Antennenausrichtung auch noch unter einer anderen, äußerst merkwürdigen Leidenschaft litt. Es hieß, er würde für sein Leben gern Paaren bei der Liebe zusehen. Außerdem liebte er es über die Maßen, heimlich den nackten Hintern der Frauen zu begaffen, wenn sie auf der Toilette saßen oder ein Bad nahmen. An jenem schicksalhaften Abend also, so erzählte man sich, beobachtete er vom Dach aus die Richterin, die im obersten Stockwerk unseres Hauses wohnte, wie sie ihr Bad nahm, und geriet beim Anblick ihres enormen Hinterteils in Verzückung. Gänzlich seiner Leidenschaft hingegeben und bemüht, seinen Genuss um kein Quäntchen zu mindern, hatte er sich, ohne den Neigungswinkel des Dachs zu beachten, in eine gefährliche Position gebracht. Zu seinem Pech hatte es vorher geregnet, und so kam es, dass er abrutschte und dabei den Hintern der Richterin aus dem Blick und sein Leben verlor. So weit die Verfechter der ersten Version.

      Die zweite Version stammte von Onkel Jani. Nach der war der Genosse Mete ein Opfer der Verschwörung der Feinde im Innern des Staates geworden. Onkel Jani schwor, nicht eher aus dem Leben zu scheiden, bevor er den Feind gefunden hätte, der hinter diesem hinterlistigen Mord und dem heldenhaften Tod des Genossen Mete steckte. Eines Tages verkündete er, dass er mit seinen Nachforschungen gut vorankäme und der Feind höchstwahrscheinlich in unserem Haus zu finden wäre. Diese Ankündigung rief unter den Bewohnern große Panik hervor. Keme fürchtete aufgrund der Vorgeschichte seines Sohnes, dass Onkel Jani ihn als Hauptverdächtigen auf die Liste setzen könnte, und verkaufte flugs seinen Fernsehapparat, damit erst gar nicht der Verdacht aufkommen könnte, er würde ausländische Sender schauen. Unser Nachbar Loni wurde wegen ernsthafter psychischer Störungen im Krankenhaus behandelt, nachdem er geträumt hatte, Onkel Jani habe ihm befohlen, die Leiche des Genossen Mete wieder auszugraben. Onkel Jani aber starb völlig unerwartet an einem Herzinfarkt. Nicht wenige Menschen in unserem Haus atmeten erleichtert auf – nur im Verborgenen, das versteht sich.

      EIN NAHEZU LÄCHERLICHER HELD

      Allein das Verlassen seiner Heimat verleiht dem Migranten etwas vom Glanz eines Helden. Im Alltag aber erweist er sich als fragil und verwirrt, ja zuweilen als lächerlich. Er ähnelt einem Kartenspieler, der vom großen Coup träumt und noch nicht einmal die Spielregeln kennt. Er hatte geglaubt, dass im Gastland die Dinge einfacher und alle bereit wären, ihm unter die Arme zu greifen, ihm die Spielregeln beizubringen, ihn loben würden, wenn es ihm gelänge, gegen sie zu gewinnen. Jetzt entdeckt er, dass seine Idole keinen Pfifferling auf ihn geben. Und noch Schlimmeres entdeckt er: Niemand hat ihn, den Migranten, eingeladen, ungebeten ist er in dieses Land gekommen. Und für die anderen ist er wie Luft, als existiere er gar nicht, bestenfalls schenkt man ihm einen Blick voller Bedauern oder voller Abscheu.

      Wenn er doch nur ihre Sprache beherrschte, denkt er, dann könnte er all jenen, die ihn keines Blickes würdigen, zeigen, was er wert ist. Das müssen sie nämlich unbedingt erfahren. Er spricht aber ihre Sprache nicht; er steht unter Schock, weil die Einheimischen so schnell sprechen, dass es wie eine ratternde Nähmaschine klingt. Nein, ausgeschlossen, dass er diese Sprache lernt, sollen sie sich doch zum Teufel scheren, sie und ihre Sprache! Doch lernt er ihre Sprache nicht, findet er keine Arbeit und kann nicht überleben. Also gut, dann lernt er gerade mal das Notwendigste. Die ersten zehn Wörter. Die ersten zehn Sätze. Und er lernt sie, ohne dass ihm richtig bewusst wird, wie er das tut. Überrascht stellt er fest, dass diese Sprache gar nicht so schwer ist. Dann entdeckt er, dass diese Sprache ihm zu gefallen beginnt, denn jetzt, da er die Sprache spricht, ist er keine stumme Erscheinung mehr. Doch rasch verfliegt seine erste Begeisterung. Er spricht die Sprache nicht, er macht sie kaputt, er zersägt sie förmlich. Die weiblichen Namen macht er zu männlichen, die männlichen zu weiblichen, und die meisten Substantive verlieren ganz ihr Geschlecht, werden zu Neutren. Am Anfang war er stumm, nun ist er eine Nervensäge.

      5

      All das geschah zu der Zeit, da das Regime unser Albanien zu einem blühenden Garten und einzigartigen Leuchtturm für die ganze Weltgemeinschaft erklärt hatte. Die Lehrer in der Schule sagten uns immer wieder, dass wir so etwas wie das auserwählte Volk seien. Und wenn man zum auserwählten Volk gehört, ergeben sich zwei Obliegenheiten: Erstens die nicht Auserwählten zu hassen, und zweitens, um jeden Preis glücklich zu sein. Das Glücklichsein ist in einem totalitären System keine Frage der Wahl oder des Zufalls: Es ist eine Pflicht. Sein Unglücklichsein öffentlich kundzutun, erregt Verdacht.

      Um es kurz zu machen, wir waren die einzigen Glücklichen, die durch und durch reinen Menschen, die alleinigen Opfer. Während sich auf der anderen Seite der Grenze die Unglücklichen, die Lügner und Betrüger, die Primitiven, die Verseuchten, die Täter befanden. Schon manches Mal habe ich gedacht, dass wir Albaner so etwas wie das große Los des Weltenglücks gezogen hatten: Alles Glück, alles Echte, die vollkommene Reinheit der Welt fand sich zusammengedrängt auf achtundzwanzigtausend Quadratkilometern, der Fläche Albaniens.

      Da sich die Welt für uns also in das Paradies (wir) und die Hölle (die ganze übrige Welt) gespalten hatte, wurde jemand, der versuchte, die Grenzen des Paradieses zu überschreiten und zu fliehen, automatisch