Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen. Gazmend Kapllani

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Название Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen
Автор произведения Gazmend Kapllani
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558054



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25

       DER SÜNDENBOCK DER ARMEN

       Kapitel 26

       DIE BLEIBENEUROSE

       Kapitel 27

       DEIN KIND SPRICHT NICHT GEBROCHEN GRIECHISCH

       Kapitel 28

       WENN DER MIGRANT KEIN MITLEID MEHR ERWECKT

       Kapitel 29

       DAS GEDÄCHTNIS DES MIGRANTEN

       Kapitel 30

       NACHWORT

       INTERVIEW MIT GAZMEND KAPLLANI

      VORWORT

      Grenzen liebe ich nicht besonders. Aber um ehrlich zu sein, wirklich hassen tue ich sie auch nicht. Ich habe einfach Angst vor ihnen, und mir ist gar nicht wohl, wenn ich ihnen direkt gegenüberstehe. Ich spreche zunächst von den geografischen, den sichtbaren Grenzen, von solchen, die Länder, Staaten und Nationen voneinander trennen.

      Auch heute, da die Grenzen sehr viel durchlässiger geworden sind, überkommt mich bei jedem Grenzübertritt ein merkwürdiges Gefühl: eine Mischung aus Erleichterung und Unbehagen. Vielleicht wegen des Passes, den ich inzwischen mit mir herumtrage. Auf jeden Fall habe ich mich an den misstrauischen Blick der Grenze längst gewöhnt. Sehnsüchtig schaue ich ihr entgegen, kann es kaum erwarten, sie zu überqueren, während sie mir fast immer feindselig oder argwöhnisch entgegenblickt. Ich versuche, sie zu besänftigen, sie davon zu überzeugen, dass ich keine Gefahr für sie bin. Sie hingegen denkt sich immer neue Vorwände aus, um mich zurückzuweisen und ja keine ebenbürtige Beziehung zwischen uns entstehen zu lassen. Aus den genannten Gründen kann ich also zu Recht behaupten, dass ich seit geraumer Zeit von einem Grenzsyndrom befallen bin. Dabei handelt es sich um eine Krankheit, die sich nur schwer klassifizieren lässt; sie ist im Übrigen nicht einmal auf der Liste anerkannter psychischer Störungen aufgeführt, wie zum Beispiel die Platzangst, die Höhenangst oder die Depression. Dennoch kann ich euch einen Eindruck verschaffen von den Symptomen, die damit einhergehen – nicht sofort, ein wenig später.

      Auf jeden Fall weiß ich, dass es außer mir noch viele andere Menschen gibt, die unter dem Grenzsyndrom leiden. Doch – wer nie das Verlangen verspürt hat, eine Grenze zu überwinden, oder sich nie von einer Grenze zurückgestoßen sah, wird schwerlich nur verstehen, wovon ich spreche.

      Meine problematische Beziehung zu den Grenzen hat schon recht früh, in meiner Kindheit, eingesetzt. In der Tat, ob man unter dem Grenzsyndrom leidet oder nicht, das ist großenteils vom Schicksal bestimmt: Es hängt nämlich davon ab, wo einer geboren ist. Ich bin in Albanien geboren.

      1

      Die Grenze eines totalitären Staates, wie Albanien es bis 1991 war, zu berühren oder gar sie zu überqueren, kam einem Wunder oder einer Todsünde gleich. Nur sehr wenige Menschen erhielten die offizielle Erlaubnis, sie zu passieren. Das waren dann die echten Glückspilze, und die waren für uns, für die Mehrheit also, beinahe so etwas wie Außerirdische.

      Wir, die anderen, waren dazu verdammt, entweder nur zu mutmaßen, was auf der anderen Seite der Grenze existierte, oder die Idee, dass es jenseits der Grenze noch eine andere Welt gab, vollständig aus unserem Hirn zu verbannen, was eine gute Methode war, um zu überleben, sowohl seelisch als auch körperlich.

      Bis eines Tages diese Welt-jenseits-der-Grenze im Unterbewusstsein vieler von uns nicht einfach nur die zeitliche und räumliche Fortsetzung unserer gemeinsamen Welt war. Je mehr Jahre vergingen, je stärker Albanien sich vom Rest der Welt isolierte, desto mehr verwandelte sich diese Welt-jenseits-der-Grenze in einen anderen Planeten. Für einige war es ein paradiesischer, für andere ein furchterregender Planet: auf alle Fälle ein völlig anderer Planet.

      WARUM ERZÄHLST DU UNS DAS ALLES?

      Ihr könnt mich jetzt fragen: Warum erzählst du uns das alles? Ehrlich gesagt, wenn du Migrant bist, besonders einer der ersten Generation, ist deine erste Reaktion die, im Schweigen zu verharren. Tief im Innern des Migranten herrschen Angst, Misstrauen und die Gewalterfahrungen während der Flucht und bei der ersten Berührung mit dem unbekannten Land. Und außerdem das Gefühl, unerwünscht zu sein, sowie Groll, Heimweh und gleichzeitig das Verleugnen der Heimat, Schuldgefühle und Wut. Der Migrant ist ein verwirrtes, ein verunsichertes Geschöpf und hat von daher Angst, sich zu bekennen. Es genügt eine ablehnende oder gleichgültige Geste seines Gegenübers, die ausdrücken mag »Was geht mich das an, woher du kommst und was du durchgemacht hast?!«, und schon fühlt der Migrant sich lächerlich, schutzlos und unzulänglich. Infolgedessen geht er lieber kein Risiko ein. Er quält sich einsam und allein mit seinen Erfahrungen und gelangt allmählich zu der Überzeugung, dass seine Geschichte keine Menschenseele interessiert. Schließlich ist seine Bestimmung ja auch nicht das Geschichtenerzählen, denkt er, sondern wie ein Hund ums Überleben zu kämpfen. Die anderen, die können ihn nicht nur, sie wollen ihn auch nicht verstehen.

      Die Alternative ist, etwas zu riskieren, sich zu entblößen und sich zu dem schmerzhaften, widersprüchlichen Lebensweg eines Migranten zu bekennen. Er spürt, dass er Gefahr läuft, neurotisch und nachtragend zu werden, wenn er all das Erlebte für sich behält. Das größte Geschenk, das er sich erhoffen kann, wäre, dass jemand ihn versteht und mit ihm zugleich all jene, die nicht erzählen können, die es nicht wagen oder die einfach keine Zeit dafür haben und ihre Erzählungen in ihrem Inneren begraben. Einen Migranten kann man erst verstehen, wenn man seine Geschichte gehört hat.

      2

      Das Regime unternahm alles, um kein einziges Bild von der Welt-jenseits-der-Grenze zu uns gelangen zu lassen. Es kontrollierte, verhaftete und bestrafte. Ich erinnere mich noch genau an den Tag – ich war damals in der zweiten Klasse – als die Parteisekretärin unserer Grundschule ins Klassenzimmer kam und uns unter anderem mit ernster Miene fragte, wobei sie die größte Anstrengung unternahm, honigsüß zu wirken, ob unsere Eltern denn noch andere Programme als die des albanischen Staatsfernsehens sähen. Mit der Unschuld eines Kindes, das sich vor seinen Mitschülern hervortun wollte, antwortete ich, ja, meine Eltern würden oft den Sender Sabre schauen. Sabre war natürlich kein Fernsehsender, sondern der Name eines Orts in der Nähe unserer kleinen Stadt Lushnja, den ich damals noch gar nicht kannte. Mein Vater war sich der Gefahr, die von meiner grenzenlosen kindlichen Neugier ausging, sehr wohl bewusst und verpasste also den ausländischen Sendern, die er heimlich schaute, verschiedene Pseudonyme. Aber auch das rettete ihn am Ende nicht. Am Nachmittag desselben Tages bestellte ihn die Schulleitung ein und verlangte eine Erklärung: was das denn für ein unerhörter Fernsehsender namens Sabre sei. Wegen derartiger Dinge konnte man ohne weiteres seine Arbeit verlieren. Und das war noch das Wenigste. Man konnte »reaktionärer Handlungen und kleinbürgerlicher Ansichten« beschuldigt werden und, nachdem man »wegen Propaganda gegen das Regime« vor Gericht gestellt worden war, in einem der schrecklichen Gefängnisse für politische Häftlinge oder in einem der Dörfer