Название | Die lustlosen Touristen |
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Автор произведения | Katixa Agirre |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783949558085 |
Der Regen lässt uns einen Gang zulegen. Wir sprechen kaum, ducken uns gemeinsam unter den Schirm, das genügt uns. Fast ohne es zu merken, laufen wir an der Fakultät für Pharmazie vorbei. Wenn nicht gerade Juli wäre, würde es hier von Studenten wimmeln. Wir würden sie am Eingang zur Bibliothek sehen, verzweifelt oder mit verführerischem Gebaren an ihren Zigaretten ziehend. Wenn nicht gerade Juli wäre, würden uns mit ein bisschen Glück zwei hübsche Mädchen aus Azpeitia über den Weg laufen, die in diesem so reinen und hübschen Euskera sprechen. Ich würde dann unauffällig zu dir hinüberspähen und nach Anzeichen für Überraschung suchen. Vor allem bei den ersten Besuchen hast du mich nämlich immer wieder gefragt:
— Ist das Euskera, was die da sprechen?
Und ich folgte mit dem Blick der aus deinem Zeigefinger entspringenden Geraden und spitzte die Ohren.
— Ach was, das muss Russisch oder Polnisch oder was weiß ich sein.
Zehn Minuten später, ein paar Straßen weiter:
— Und die da? Sprechen die Euskera?
Und ich, ohne die Ohren spitzen zu müssen:
— Machst du Witze? Siehst du nicht, dass sie Schleier tragen? Die sprechen Arabisch.
— Aber spricht denn hier keiner Euskera oder was verdammt noch mal ist los?
Du hast aufgehört, mich jedes Mal dasselbe zu fragen, wenn du eine Sprache hörst, die du nicht verstehst. Du hast aufgehört, mich nach Euskera zu fragen. Du hörst es jetzt nur noch, wenn ich mit Joseba telefoniere, und das kommt nicht so oft vor. Es gab eine Zeit, in der es auch die Sprache war, die ich mit meiner Mutter benutzte. Das war in den Jahren, als sie freigestellt war, um es zu lernen. Es war eine Bedingung, die sie mir auferlegte und an der sie unabänderlich festhielt. Nachdem sie die Prüfung dann bestanden hatte, entspannte sich das Ganze langsam wieder. Du liest manchmal Plakate, Schilder und Etiketten laut vor: HI-RI-IR-TE-E-RA, O-SA-SUN-ZEN-TRO-A. Und ich korrigiere dann deine Aussprache, weiter nichts.
Jetzt erst fällt mir auf, dass wir kaum über das Konzert von gestern Abend gesprochen haben. Man könnte meinen, dass wir sogar ein wenig peinlich berührt sind. Uns kam es eher wie ein Popkonzert für Teenies vor und nicht wie eine Jazz-Jam. Gar nicht so sehr wegen der Musik, es lag eher am Publikum. Diese ganzen Fans, die aufsprangen, unrhythmisch klatschten und mit schlechter Aussprache und noch schlimmerer Tongenauigkeit mitsangen. Und »Guapo! Guapo!« skandierten, zuerst bei José James, dann bei Jamie Cullum, die dem schwammigen Kriterium des Publikums nach beide gleich hübsch waren. Ich sage nicht, dass sie nicht gut singen, das tun sie wirklich, auch wenn ich James vorziehen würde, müsste ich mich für einen entscheiden. Nein, diese lautstarke Vergötterung passt einfach nicht zu der Art, wie wir den Jazz verstehen. Abgestandenes Bier in Plastikbechern, verzerrte Gesichter, die nur auf den großen Leinwänden seitlich der Bühne erkennbar sind. Eigentlich glaube ich, dass uns gar nicht der Jazz an sich gefällt, sondern seine unverfälschtesten Nebeneffekte: die dunklen, dekadenten Lokale, die verschlissenen Wandbehänge mit dem Rauchgeruch mehrerer Jahrzehnte, eine abgegriffene Karte mit vierzig Gin-Marken.
Du bist zu freundlich um nachzufragen, warum wir noch einen Tag länger in meiner Geburtsstadt geblieben sind. Der Ausflug ins Tal von Kuartango war interessant, aus Salinas de Añana sind wir mit einer Ladung Salz zurückgekehrt, die ausreichen wird, um sehr viele zukünftige Koteletts zu würzen. Trotz des abgestandenen Biers hat uns das Konzert auch einige Freuden beschert, mittags und abends haben wir ausgiebig gespeist, aber das war’s dann auch. Es gab keinen Grund, den Aufenthalt zu verlängern. Du glaubst, es läge daran, dass ich mich dieser Stadt unverhältnismäßig stark verbunden fühle, eines dieser Gefühle, die mit Worten nicht zu erklären sind und den Basken so häufig zugeschrieben werden. Aber das ist es nicht. Wenn du wüsstest, dass mich mit dieser Stadt eher wenig verbindet, würdest du mir dann zustimmen, dass dieser untätige Tag in Vitoria-Gasteiz etwas verbergen muss? Meine Mutter ist nicht da. Ich habe auch keine Verwandten, die ich besuchen könnte. Sofern ich hier je Freunde hatte, habe ich sie vergessen. Bei deinen früheren Besuchen haben wir schon die Sehenswürdigkeiten in Augenschein genommen, die jeder Reiseführer hervorhebt: das Artium-Museum, das spätgotische Adelshaus Casa del Cordón, die alte Kathedrale. So bleibt uns nichts weiter übrig, als ohne feste Route durch eine der Städte zu spazieren, die auf den vorderen Rankingplätzen in Sachen Lebensqualität steht. Und dann regnet es auch noch.
Okay, vielleicht sollte ich dir erzählen (aber ich werde es nicht tun, noch nicht), dass ich in letzter Zeit begierig die aktuellen Nachrichten verschlinge. Ist dir nicht aufgefallen, wie ich jeden Morgen die Onlinezeitungen durchsehe? Du glaubst natürlich, das mache ich nur, um Zeit zu schinden, eine unter Doktoranden so typische Prokrastinationsübung. Aber das ist es nicht. Ich bin gut informiert, weil ich es sein muss. Ich folge einer bestimmten Art von Presse, aber man kann sagen, dass mein Blick auf die Realität ein ziemlich vielschichtiger ist. Ich weiß von der Demo heute in Bilbao. An dir wird sie unbemerkt vorbeigegangen sein. Du bist im Urlaub, wieso sollte es dich auch interessieren. Wenn wir dann nach Bilbao kommen und schon alles vorbei ist, umso besser. Reine Folklore!, würdest du sagen, wenn ich dir doch davon erzählen sollte. Warum willst du das vor mir geheim halten? Das gehört doch auch zur Reise!
Und du lägst falsch, Gustavo.
So halb.
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EINE »MENSCHENFLUT« GEGEN DIE STRAFVOLLZUGSPOLITIK
»Für einen Frieden, der die Zukunft dieses Volkes möglich macht.« So haben es die Organisatoren der für heute in Bilbao einberufenen Demonstration ausgedrückt. Der Aufruf lautet, »die Straßen mit Solidarität und Volkswillen zu überschwemmen«. Da »der Frieden, nach dem wir uns alle sehnen« womöglich durch die rachsüchtige, grausame Haltung des spanischen und des französischen Staates in Gefahr ist, sei es an der Zeit, so verkündeten sie bei der Pressekonferenz, »dass das Volk öffentlich seine Stärke und seine Würde demonstriert«.
Der heutige Protestmarsch ist von den tragischen Ereignissen in den Gefängnissen von Soto del Real und Albolote in den letzten Wochen geprägt. Ereignisse, die für die Veranstalter zu der vom Staat vertretenen repressiven Strategie gehören. Am vergangenen 2. Juli starb der Häftling Iñaki Ruiz Esteban aus Basauri im Krankenwagen, als er vom Gefängnis von Soto del Real ins Krankenhaus verlegt werden sollte. Iñaki hatte seit den frühen Morgenstunden gesagt, dass er sich schlecht fühlte, wurde aber bis um vier Uhr nachmittags nicht in der Krankenabteilung des Gefängnisses behandelt. Er musste noch eine weitere Stunde warten, bis der Krankenwagen kam, und zu jenem Zeitpunkt »war es schon zu spät für Iñaki«. Ruiz Esteban war fünfunddreißig und seit zwölf Jahren im Gefängnis, unter anderem in den Haftanstalten von Alicante, Extremadura und Soto del Real. Verurteilt dafür, zwei Busse und einen Geldautomaten angezündet und einen Molotowcocktail gegen einen Polizisten der Ertzaintza geworfen zu haben, hätte er im Dezember des Jahres seine Strafe vollständig verbüßt gehabt. Die Autopsie ergab, dass der Gefangene einem Herzinfarkt erlegen ist. Die Familie hat eine zweite Autopsie durch einen Arzt ihres Vertrauens beantragt.
Die heutige Demonstration wird auch im Zeichen der Solidarität mit dem Gefangenen José María Ortiz de Zárate im Gefängnis von Albolote (Granada) stattfinden, der sich seit dem 9. Juni im Hungerstreik befindet. Ortiz de Zárate hätte am 19. Mai dieses Jahres aus der Haft entlassen werden sollen, aber seine Strafe wurde im letzten Moment um weitere sieben Jahre verlängert. Der Häftling aus Vitoria leidet zudem an Prostatakrebs, trotzdem wurde bei ihm nicht der Artikel 92 des Strafgesetzbuchs angewandt. Der Hungerstreik kann bei ihm zu »einem totalen körperlichen Zusammenbruch« führen, weshalb unter Angehörigen und Freunden größte Sorge herrscht. Die Organisatoren der Demonstration appellieren einmal mehr an die »Solidarität