Название | Das letzte Echo des Krieges. Der Versailler Vertrag |
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Автор произведения | Susanne Brandt |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783159614168 |
Die Welt wurde zum Spielfeld der Europäer, und sie zogen die Menschen anderer Kontinente in diesen globalen Prozess hinein. Das im Vergleich zu Deutschland bevölkerungsärmere FrankreichFrankreich rekrutierte in den Kriegsjahren 485 000 Soldaten aus seinen überseeischen Kolonien. Deutschland wurde zwar durch die Seeblockade daran gehindert, aus den Kolonien Kämpfer einzuziehen und nach Europa zu holen. Doch in den Kämpfen in Afrika setzten sie gnadenlos Zehntausende indigener Arbeiter, Träger und Soldaten ein. AustralienAustralien entsandte, um das britische Mutterland zu unterstützen, 331 000 Freiwillige an die Kriegsschauplätze des Nahen OstensNaher Osten und Westeuropas – 60 000 von ihnen kamen um, 166 000 wurden verwundet. Das ist eine Verlustrate von 68 Prozent. 18 000 der etwas mehr als 100 000 Soldaten, die NeuseelandNeuseeland für das Mutterland in den Kampf schickte, starben ebenfalls, unter ihnen viele Maori, die trotz ihrer Leistungen vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt waren. Von den 600 000 kanadischen Soldaten fielen 60 000. Indien unterstützte GroßbritannienGroßbritannien nicht nur mit 1,5 Millionen Soldaten (von denen mehr als 60 000 umkamen), die Kolonialbehörden erzwangen auch Geldsummen in Millionenhöhe, mit denen sich die Kronkolonie an der Kriegführung beteiligen musste.12
Der Krieg führte in den Staaten zu tiefgreifenden Veränderungen. Schnell zeigte sich, dass staatliches Eingreifen erforderlich war, um Lebensmittel gerecht zu verteilen und Höchstpreise festzulegen. Im Verlauf des Konfliktes wurden Verwaltungen geschaffen, die in den Wirtschaftsprozess eingriffen, die Politik führte die Arbeitspflicht für Männer ein, gab Produktionsziele vor und lenkte Rohstoffe. In vielen Bereichen ersetzten Frauen die Männer in den Fabriken, aber auch als Postbotin oder Straßenbahnschaffnerin. Viele Frauen sahen sich einer kräftezehrenden Doppelbelastung ausgesetzt. Sie arbeiteten, versorgten die Familie und ängstigten sich um die Männer an der Front.
Die Furcht vor Spionen und unzufriedenen Bürgern war in jedem Land groß. Politiker wie Militärs überwachten ihre Bürger. Das war zwar kein alleiniger Effekt des Krieges, denn schon im Kaiserreich misstraute man den Sozialdemokraten und ihren möglichen Umsturzplänen. Aber die Kontrolle nahm neue und weitreichende Formen an. Auch die Post wurde kontrolliert, und selbst wenn nicht jeder Brief gelesen werden konnte, veranlasste schon das Wissen um Kontrolleure die Menschen dazu, genau zu überlegen, was sie ihren Angehörigen an die Front und in der Heimat mitteilten. Die Polizei berichtete über Gerüchte und hörte gut zu, wenn Frauen, die in Schlangen vor Geschäften standen, sich unterhielten: Beschuldigten sie die Politiker, nicht mehr Herr der Lage zu sein?
Die Zensurbestimmungen legten außerdem fest, was die Journalisten berichten durften. Militärische Geheimnisse sollten den Gegnern nicht in die Hände fallen, weshalb in Berichten von den Frontabschnitten keine Angaben gemacht wurden, die dem Gegner Informationen über bevorstehende Angriffe liefern könnten. Auch Bilder von Gefallenen der eigenen Armee waren in der Regel tabu. Diesbezüglich waren es allerdings eher die Leser in der Heimat, vor deren Meinungsumschwung sich Politiker und Militärs fürchteten. Sie waren überzeugt, dass sich die Bevölkerung bei zu viel ungeschminkter Information gegen den Krieg wenden könnte. Schon zu Kriegsbeginn hatte Präsident PoincaréPoincaré, Raymond in FrankreichFrankreich ebenso wie Kaiser Wilhelm II.Wilhelm II. in Deutschland die Bürger zur Einigkeit aufgefordert. »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!«, verkündete Letzterer. In den kommenden Kriegsjahren hielt sich das Ideal einer harmonischen Gesellschaft ohne Interessengegensätze und Meinungsverschiedenheiten. Positive Beeinflussung, Verteufelung der Feinde und Zensur waren die Waffen im Kampf für eine geeinte Nation. Unter der Oberfläche schwelten Konflikte und politische Gegensätze freilich weiter, die nach Kriegsende erneut hervortraten.
Die Kämpfe fanden nicht nur an der Front statt: Es war das erklärte Ziel der Kriegführenden, die gegnerischen Zivilisten zu zermürben, damit sie ihre Politiker zu Waffenstillstandsverhandlungen drängten. Auch das Anheizen von Revolten folgte dieser Logik: Aufstände im eigenen Land schwächten den Gegner, und die Kräfte, die er zur Kontrolle von inneren Konflikten einsetzen musste, fehlten an der Front. Aus diesem Grund betrauten die Briten den Archäologen und Schriftsteller Thomas Edward LawrenceLawrence, Thomas Edward, bekannt als »Lawrence von Arabien«, damit, einen Aufstand der Araber gegen die Osmanen anzufachen. Die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) wiederum ermöglichte es dem russischen Politiker Wladimir Iljitsch LeninLenin, Wladimir Iljitsch, zu Beginn der Oktoberrevolution im Jahr 1917 in einem versiegelten Eisenbahnwaggon aus dem Exil nach RusslandRussland zu reisen. Die Revolutionäre, so das Kalkül der OHL, würden nach einem Sturz des Zaren aus dem Krieg aussteigen. Dann wäre es Deutschland möglich, die durch den Friedensschluss mit RusslandRussland frei werdenden Truppen an die Westfront zu verlegen, um dort endlich den Sieg zu erringen.
Den Krieg empfand jede Seite als gerecht: Schon im Juli 1914, nach der Ermordung des österreichischenÖsterreich Thronfolgers Franz FerdinandFranz Ferdinand in SarajevoSarajevo, erwies sich die Frage von Recht und Unrecht als zentral. Zum einen forderten die Bündnisverpflichtungen einen gerechten (Verteidigungs-)Grund für die Unterstützung der Partner. Die Frage von Recht und Unrecht war andererseits auch für die Soldaten, ebenso wie die Zivilisten, von Bedeutung, da sie einen belastbaren Grund brauchten, um in den Krieg zu ziehen. So ist es zu erklären, dass jedes Land für sich beanspruchte, einen Verteidigungskrieg zu führen, wenn auch aus heutiger Sicht mit unterschiedlich überzeugenden Argumenten und selbstverständlich gezielt von den Propagandastellen angefeuert. Nicht nur während der ersten Wochen mussten Bürger und Soldaten von der Rechtmäßigkeit der eigenen nationalen Position überzeugt werden. Auch im Verlauf des Krieges wurden die Bürger und sogar die Kinder immer weiter von der Propaganda traktiert. Der Gegner wurde als brutale Bestie, die eigene Sache als gerecht, der Sieg als sicher und notwendig dargestellt. Presseberichte und Filme schürten gezielt die Angst vor dem Gegner, der folglich unterworfen werden musste. So ist zu erklären, warum es nach dem Kriegsende schwierig war, auch mental zum Frieden zurückzufinden: Weit verbreitete und tief verwurzelte Feindbilder sowie die unermüdlich wiederholte Forderung, bis zum Sieg weiterzukämpfen, wirkten fort und belasteten den Friedensprozess. Die Diskussion um die Schuld am Krieg flammte in ParisParis wieder auf. Für die Deutschen bestand womöglich der gravierendste Schock darin, dass der Versailler Vertrag ihnen die alleinige Schuld am Ausbruch des Krieges zuwies. GroßbritannienGroßbritannien und FrankreichFrankreich wiederum war es unmöglich, die Verletzung der belgischen Neutralität nicht als Beleg deutscher Aggression zu deuten.
Ob ein totaler Krieg überhaupt mit einem Verständigungsfrieden beendet werden kann, darf bezweifelt werden. Hätten die Kriegführenden zu irgendeinem Zeitpunkt noch die Möglichkeit gehabt, zum Vorkriegszustand zurückzukehren? Schon sehr früh, bereits im August bzw. September 1914, war der Weg zur Verständigung blockiert. An der MarneMarne war der deutsche Vormarsch aufgehalten worden, so dass der Schlieffen-Plan gescheitert war. In BelgienBelgien hatte die deutsche Armee, angeblich, weil sie von sogenannten Freischärlern angegriffen worden war, ein Strafgericht verhängt, das sich nicht zuletzt in der Zerstörung von Kulturgut äußerte. Beispielsweise wurde die Bibliothek in der belgischen Stadt LöwenLöwen Opfer eines bewusst gelegten Feuers der Deutschen; in den Flammen verbrannten wertvolle Handschriften aus dem Mittelalter, die zum Kulturgut, zur Geschichte, zur Identität der Belgier gehörten. Für