Wer stirbt, lebt in der Erinnerung seiner Mitmenschen weiter, und er ist erst dann wirklich tot, wenn diese Erinnerung vollständig erloschen ist, sagt man. Man kann Erinnerungen verdrängen und sich bemühen zu vergessen, was einmal war. So, wie die Menschen in Neuvy-sur-Loire die Erinnerung an die Brüder deMougon verdrängten. »Wenn du zwischen den Ruinen stehst, so frage nie, was geschah und wer dort lebte, und trage keinen Streit an jene Stätte, denn dies bringt nur größtes Unheil«, gab eine Generation an die andere weiter. Aber wenn verborgene Erinnerungsfetzen aus den verkapselten Tiefen des Unterbewußtseins hervorbrechen, lebt auch der uralte Fluch wieder auf, und die Gespenster der Vergangenheit finden sich ein zum Höllentanz…
Der Dämon Astardis erschien vor dem Thron des Hölle-Herrschers Luzifuge Rofocale. Dreimal hintereinander verneigte er sich vor dem Gehörnten, wie es die Tradition verlangte, und sah dann den Stellvertreter Luzifers fragend an. Schwefelwolken trieben durch den Thronsaal, für Dämonen ein prachtvoller Duft, wie sie auch das Wimmern verlorener Seelen genossen, das durch die höllischen Sphären drang. »Ich habe erfahren, daß es seit kurzem ein Wesen auf der Erde gibt, das ich nicht einschätzen kann. Freund, Feind, oder nichts von beidem? Nur eine telepathische Nachricht erreichte mich. Sie lautete nur: ICH BIN! Finde heraus, was das für ein Wesen ist, und berichte mir!« Astardis grinste diabolisch. »Das ist eine leichte Aufgabe, Herr. Zu leicht. Weshalb bemühst du mich? Jeder andere Dämon könnte es ebenso gut erledigen.«
Er kannte keine Ungeduld.
Er wußte nicht, wie lange er bereits wartete. Es interessierte ihn nicht. Jegliches Zeitempfinden fehlte ihm. Vielleicht waren es Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende. Er hatte sich nie bemüht, den Verlauf der Zeit zu messen. Es gab auch keine unmittelbaren Anhaltspunkte, an denen er sich hätte orientieren können. In seiner Umgebung veränderten sich weder die hellen noch die dunklen Bereiche; es gab keinen Tag und keine Nacht. Er verspürte weder Hunger noch Durst. Er brauchte keine Nahrung. Er wußte nur, daß er einen Auftrag zu erfüllen hatte: Verhindere, daß unbefugte Eindringlinge diesen Bereich wieder verlassen können! Jedes Mittel ist dazu recht! Und so wartete er. Er lebte nur für den Moment, in welchem er seinen Auftrag erfüllen konnte, ohne zu wissen, ob er es früher schon einmal getan hatte. Er besaß keine Erinnerung außer an seinen Auftrag. Er war der Wächter.
Zum ersten Mal sah Moronthor Sarina daSilva vor mehr als einem Dutzend Jahren. Es war in New York, und sie war eine blutjunge Studentin, die eine von seinen Vorlesungen über Parapsychologie besuchte. Woher sie kam, vergaß Moronthor bald wieder, nicht aber das Gespräch, das er in einer sehr langen Nacht mit ihr in seiner Wohnung führte, in die er sie eingeladen hatte, weil es sich da angenehmer plaudern ließ als in seinem Hochschulbüro. Moronthor behielt den Eindruck zurück, daß dieses bemerkenswerte Mädchen im Unterbewußtsein weit mehr von Magie wußte als damals er selbst, und hielt sie für eine geborene Hexe, deren Fähigkeiten nur darauf warteten, geweckt zu werden. Aber wirklich als Hexe vorstellen konnte er sie sich nicht. Als er sie zum zweiten Mal sah, unterrichtete er längst nicht mehr in New York, wohnte längst in Frankreich. Sarina daSilva war kein junges Mädchen mehr, sondern eine ernsthafte Frau, und sie war das geworden, was er seinerzeit in ihr zu sehen geglaubt hatte. Und sie war seine Feindin.
Dichte, weiße Nebelschwaden krochen über den Boden, saugten das Licht der Autoscheinwerfer förmlich auf. Der blaue Ford Cortina kroch über die vielfach gewundene, nasse Straße. Nur hin und wieder, wenn die wie eine bleiche Decke über dem Wagen liegende Nebelschicht ein wenig aufriß, war die Dunkelheit des bewölkten Nachthimmels zu sehen. Für Juliet Cameron schien nichts in dieser Nacht wie sonst zu sein. Sie fror trotz der Heizung im Wagen, und immer wieder sah sie sich verstohlen um. Ihre Unruhe fiel Stanley Cameron am Lenkrad auf. »Was ist los mit dir?« fragte er leise. Juliet schüttelte sich. »Fahr schneller«, flüsterte sie. »Es holt uns ein.« Er sah in den Rückspiegel. Da war nichts. Nur Nacht und Nebel. »Was holt uns ein? Die Straße ist menschenleer.« Das Wort hallte als Echo in Juliets Bewußtsein nach. Menschenleer… aber es war kein Mensch, von dem sie sich bedroht fühlte. Es war etwas – anderes. »Es verfolgt uns, es kommt näher… senkt sich herab… wie ein Riesenvogel, der Seelen jagt…« Stanley lief es kalt über den Rücken. Juliets seltsame Worte berührten ihn tief. Aber da war nichts! Sie waren allein auf der Straße! »Fahr schneller«, drängte Juliet. »Ich – ich habe Angst! Es kommt, es ist gleich da…« Stanley nagte an der Unterlippe. Er trat das Gaspedal etwas tiefer durch, ließ den Ford schneller werden – hinein in den undurchdringlichen Nebel…
Schwarze Augen wechselten plötzlich ihre Farbe und funkelten in hellem Schockgrün. Die Züge des fein geschnittenen Gesichts, das mit seinen hoch angesetzten Wangenknochen leicht asiatisch wirkte, verhärteten sich. Ein schnelles Kopfschütteln ließ das schulterlange, silberblonde Haar fliegen. Die schlanke Hand der jungen Frau umschloß einen blau funkelnden Kristall. Der Sternenstein glühte auf und offenbarte ihr seine Macht. Er zeigte ihr einen hochgewachsenen Mann und seine Zauberwaffen. »Ein Spiel«, flüsterte die Frau mit den grünen Druidenaugen. »Ein Spiel nach meinen Regeln. Wie auch immer – du kannst diesmal nur verlieren, so oder so, Moronthor, mein Feind…« Das Glühen des Kristalls schwand wieder. Sara Blakmoon, die Schwarze Druidin, erhob sich und verließ ihren Palast in einer fremden Dimension, um den Dämonenjäger Moronthor zum Spielball ihres Rachewunsches zu machen…
Lautlos glitt er durch die Nacht; ein tanzender Schatten unter Schatten, die sich nicht bewegten. Wenn er den Kopf hob und zum mondhellen Sternenhimmel aufsah, glühten seine Augen in rotem Licht auf. Aber das bleiche Mondlicht war nicht in der Lage, das Gesicht zu erhellen. Nur schattenhafte Umrisse waren zu erkennen, mehr nicht, und in diesen Umrissen das rote Glühen. Weiß blitzten Zähne auf. Spitz und lang waren sie. Die Zähne eines Vampirs! Er war auf der Suche nach einem neuen Opfer. Die unmenschliche Gier trieb ihn an. Er näherte sich einem Haus. Schon von weitem spürte er die Nähe warmer Menschenkörper, in denen der kostbare Lebenssaft pulste. Er konnte den Herzschlag durch Wände und Fenster hindurch hören. Das Haus stand einsam. Es war wie geschaffen für den Überfall des Vampirs. Kein Nachbar konnte etwas bemerken, niemand konnte helfen. Der Vampir war auf der Jagd, und seine Beute hatte keine Chance…
So also sieht der Tod aus, dachte Moronthor. Der Tod trat auf in der Gestalt eines Druiden vom Silbermond. Er war weißhaarig und uralt. Er trug eine dunkle Kutte, deren Kapuze er jetzt zurückgeschlagen hatte. Aus kalten Mordaugen sah er Moronthor und seine Gefährtin Nicandra Darrell an, die reglos vor ihm lag. Hellwach, aber durch Magie an jeder Bewegung gehindert. Sie waren nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen. Sie waren dem Tod in die Falle gegangen. Und jetzt war er gekommen, um zu ernten. Sie hatten ihn gesucht, um ihn zu besiegen, und nun waren sie verloren. Der Tod hatte auch einen Namen. Coron – der MÄCHTIGE!
Sibyl Darrow erstarrte. Aus dem Wohnzimmerfenster ihres Apartments im dreizehnten Stock des New Yorker Hochhauses sah sie das Drama, das auf der anderen Straßenseite begann – rund zwanzig Meter entfernt, in gleicher Höhe. Es war wie in einem Alptraum, und sie hatte keine Möglichkeit, einzugreifen. Ein Mann zerschmetterte ein Fenster und schwang sich über die Fensterbank nach draußen! Er flankte einfach über die Kante, als befände sich hinter dem Fenster fester Boden – aber dieser feste Boden war fast vierzig Meter tiefer! Sibyl schrie entsetzt auf. Aber dann glaubte sie ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Der Mann stürzte nicht. Er ging. Als befände er sich zu ebener Erde. Er ging durch die Luft! Schritt einfach vorwärts, über den gähnenden, tödlichen Abgrund hinweg. Und… er kam direkt auf Sibyls Fenster zu!
Dr. Horst Eilert ließ den Schädel sinken, den er sorgfältig freigelegt und aus seinem Fundort aufgehoben hatte. »Merkwürdig«, murmelte er. Im nächsten Moment glaubte er seinen Augen nicht mehr trauen zu dürfen. Wie in einer Filmüberblendung veränderte sich die umgebende Landschaft vor den Augen des verblüfften Archäologen. Von den Leuten seines kleinen Studenten-Teams war niemand mehr zu sehen. Das Seeufer mit den gründelnden Enten war fort – über hundert Meter weit zurückgetreten. Und hier, direkt vor Dr. Eilerts Augen, wuchs eine auf Pfählen gestützte Holzhüttensiedlung förmlich aus dem Nichts! »Nein«, keuchte er. »Das gibt’s nicht! Ich träume!« Aber es mußte echt sein, denn vor ihm lag immer noch der Schädelfund mit den beiden Goldzähnen. Trotzdem roch die Luft jetzt anders, irgendwie frischer, trotz der brütenden Hitze…Er sah Menschen, die sich zwischen den Häusern bewegten. Er sah Tiere. Er sah primitiv angelegte Felder. Eine steinzeitliche Pfahlbausiedlung wie aus dem Lehrbuch! Aber wie war das möglich…? Den Mann, der hinter ihm aufgetaucht war, sah er nicht. Als er die Bewegung spürte, war es schon zu spät. Ein wuchtiger Schlag löschte das Bewußtsein des Archäologen aus, der sich unversehens in einem anderen Zeitalter wiedergefunden hatte…