Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit. Alexander Reeh

Читать онлайн.
Название Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit
Автор произведения Alexander Reeh
Жанр Личностный рост
Серия
Издательство Личностный рост
Год выпуска 0
isbn 9783954887729



Скачать книгу

im Leben. Gewohnte Wertvorstellungen, die ursprünglich hilfreich und dadurch bedeutungsvoll waren, können im Verlauf des Lebens an Bedeutung verlieren beziehungsweise sich sogar zu Blockaden entwickeln, die persönlichem Wohlbefinden eher im Wege stehen. Gleichzeitig entwickeln sich oft neue Überzeugungen, Werte und Grundhaltungen. Dieser Prozess stetiger Veränderung und Entwicklung, der normalerweise sehr langsam von statten geht, wird unglaublich deutlich und dynamisch während eines kurzen Segeljahres, in dem sich so viel und rasch entwickelt. Es mag fast erschreckend klingen, dass man sich so stark verändern kann, aber wir begrüßten unsere neue Weltanschauung, die unsere grundlegenden Bedürfnisse zutiefst befriedigt und unserer Persönlichkeit entspricht. Die innere Reise von partieller Fremdbestimmung und Selbstentfremdung hin zur Selbstverwirklichung haben wir erfahren dürfen.

      Nach der Rückkehr aus unserem Sabbatical wurde es sehr deutlich, dass nicht alle Menschen um uns herum ihr hochprivilegiertes Leben zu genießen schienen. Viele kamen uns doch recht unglücklich und unzufrieden vor und schienen in Zwänge eingeknotet. Sie »mussten« so viel und »nur noch schnell«, wie sie sagten. Wo blieb die Muße? Sich Zeit nehmen für eine Aufgabe? Sich Zeit schenken, sich über das Ergebnis freuen? So wie der Künstler, der sein Bild liebt und sich nur ungern und unter Schmerzen davon trennt, da er sich so innig damit beschäftigt hat, es mit Geduld, Einfühlungsvermögen, Hingabe und Liebe zu schaffen. Sind deshalb Künstler die glücklicheren Menschen?

      Viele Leute um uns herum hatten weder das Verständnis für noch das Bedürfnis nach Zeit und Muße. Es ging ihnen oft schlecht. Gleichzeitig empfanden sie sich aber alle als völlig normal und konnten vor lauter Streben nach scheinbar notwendiger Gewinnmaximierung, Effektivität und Produktivität die schleichende Entfremdung von sich selbst und ihren Bedürfnissen nicht erkennen. Es fehlte ihnen offensichtlich an gesunder, selbstkritischer Distanz zu sich selbst. Und immer diese Hetze! Wie soll man das auch aushalten, ohne langsam abzustumpfen und sich eine Hornhaut auf der Seele wachsen zu lassen?

      Das Leben ist schon sehr kurz – da muss man doch ganz langsam leben!

      Heute weiß ich, wie durchführbar eine ersehnte Auszeit doch oft sein kann. Man braucht nur eine Portion Mut und Hilfestellung von jenen, die es schon geschafft haben.

      Um andere zum Segelsetzen zu inspirieren, habe ich das Buch »Sabbatical auf See« geschrieben. Es beschreibt uns als eine ganz normale Familie, die vierzehn Monate lang ohne viel Dramatik die klassische Route über den Atlantik in die Karibik und zurück segelt. Es ist ja nichts weiter dabei, würde ich heute sagen, denn über tausend andere Boote tun es ja auch – und zwar jedes Jahr. Es ist die Geschichte eines genussvollen Familientörns nach Norwegen, Schottland, Irland, Portugal, Karibik und wieder zurück. Wir stellten uns mit unseren Kindern Jessica (11) und Jonathan (9) auf unserer 40-Fuß-Segelyacht der Herausforderung, unseren abgesicherten Alltag gegen eine neue Erfahrung einzutauschen. Für uns wurde es zum äußeren und inneren Wendepunkt – voller Spannung und völlig angstfrei.

      Und noch etwas ist interessant: Es braucht scheinbar nicht viel Überzeugungskraft, um es wirklich zu wagen. Manchmal ist es nur ein Gespräch oder ein Buch, das einem die letzten Zweifel wegwischt und plötzlich ist man über Nacht gereift: aus dem Träumen wird Planen.

      Trotzdem werde ich immer wieder von der Wucht überrascht, mit dem das Buch »Sabbatical auf See« zum Loslassen inspiriert. Nicht selten erhalte ich heute Danksagungen aus allen Ecken der Welt, dass sie es schlussendlich doch geschafft haben, einen Ausstieg auf Zeit zu wagen. Das freut mich sehr und gibt mir die Kraft weiterzuarbeiten, um anderen zum Sabbatical auf See zu verhelfen.

      Schon längst habe ich den Wiedereinstieg aufgegeben und stattdessen meine Passion zum Beruf gemacht: Ich arbeite heutzutage nur noch mit dem Ziel, Menschen zum Fahrtensegeln zu bringen und ein dafür geeignetes Schiff für die große Fahrt auszurüsten. Zwar habe ich meinen Ingenieursberuf an den Nagel gehängt, das technische Verständnis und die Pädagogik kommen mir aber trotzdem noch zugute. So bin ich zu einem Royal Yachting Association (RYA) Yachtmaster Ocean Instructor erkoren worden und habe eine Hallberg-Rassy 46 gekauft, die ich Regina Laska nenne. Auf diesem bequemen Blauwasserschiff können nun Interessenten mitsegeln, die an der Schwelle zwischen Träumen und Planen stehen; sei es für Leute mit begrenzten Segelerfahrungen, die das Leben an Bord erst einmal testen wollen oder für diejenigen, die schon so weit fortgeschritten sind, dass sie die international anerkannte Yachtmaster-Prüfung ablegen wollen.

      Für mich ist Fahrtensegeln eine Lebenseinstellung, die mit einem Sabbatical sehr gut in Einklang zu bringen ist. Das seglerische Können ist dabei viel leichter zu erlernen als die sozialen Komponenten und die Entdeckerlust, die für ein Sabbatical viel mehr gefragt sind. Es gibt so viele Möglichkeiten, das Fahrtensegeln interessant, erlebnisreich und persönlich erfüllend zu gestalten. Gerade das ist das Besondere: Fahrtensegeln bietet die größtmögliche Freiheit, die eigene Individualität in Harmonie mit anderen Menschen, Natur und Umwelt auszuleben. Genau das ist es, was wir daran so lieben.

       Leon Schulz

      Das Buch »Sabbatical auf See” – Eine Familie setzt die Segel (erschienen im Delius Klasing Verlag), das so manchem zum Sabbatical verholfen hat, gibt es in jeder besseren Buchhandlung oder im Internet bei Amazon. Mehr Informationen, auch zum Mitsegeln, unter www.reginasailing.com

       Eine Familie wagt das große Abenteuer, verkauft all ihren Besitz und segelt für fünf Jahre um die Welt, um ausgerechnet in Deutschland »Schiffbruch« zu erleiden …

      Der Atlantik ist das Ende aller Ausreden. Vor uns liegen 5 000 Kilometer Wasser. Bis zu den Kanarischen Inseln hatten wir uns von Bremen an der Küste entlang gehangelt. Aus Frust über unser bequemes aber langweiliges Leben als Kleinfamilie hatten wir uns die Frage gestellt, wie wir denn »eigentlich« gerne leben würden. Der Wunsch meiner Frau Carola war ein naturverbundenes Leben auf einem Bauernhof. Ich wollte einfach mal ein paar Jahre auf einem Schiff leben und aus Deutschland raus. Die Entscheidung fällt durch meine Frau: »Lieber ein verrücktes Leben auf einem Boot, als ein verzweifelter Mann in einer schönen Wohnung an Land.« Wir wollen die Zeit bis zur Schulpflicht der Kinder nutzen (damals 3 Jahre und 18 Monate alt). Verkaufen all unseren Besitz und tauschen Job und Versicherungen gegen ein kleines Boot und eine Reisekasse von 50 000€.

      »Wollt ihr das Leben eurer Kinder aufs Spiel setzen?« ist die nicht sehr ermutigende, aber typische Reaktion unserer Umgebung. Selbst mein segelbegeisterter Vater wiegt bedenklich den Kopf: »Die See ist ein großer Gleichmacher …« Das er Recht behalten wird, merken wir erst sehr viel später. Auf den Ozeanen der Welt trifft man tatsächlich nur eine bestimmte Sorte Menschen: Die, die ihre Träume zu verwirklichen versuchen. Die Bedenkenträger bleiben zuhause. Nur unser Hausarzt ist begeistert: »Was, um die Welt fahren wollt ihr? Ist ja toll.« Dabei wollten wir zu Anfang der Reise gar nicht um die Welt segeln, sondern nur zwei Jahre raus aus Deutschland. Er stattet unsere Bordapotheke für alle erdenklichen Notfälle aus. Wir sind keine Draufgänger, eher vorsichtige Menschen, und die Beschäftigung mit all den Dingen, die auf dem Meer passieren könnten, lässt uns mehr als einmal an unserem Entschluss zweifeln. Wir suchen uns ein älteres, sehr seetüchtiges und stabiles Schiff aus, kaufen neben der üblichen Sicherheitsausrüstung noch ein Satellitentelefon, um notfalls auch mitten auf dem Atlantik einen akuten Blinddarm per Fernanleitung operieren zu können. Am Ende brauchen wir auf der ganzen Reise aber nur ein paar Klammerpflaster.

      Nun ist die Angst wieder da: Wir liegen startklar am Pier in La Gomera, bis unters Dach ist das Boot vollgepackt mit Lebensmitteln und Wasser für die kommenden vier Wochen auf dem Atlantik. Die Verantwortung lastet schwer auf meinen Schultern. Habe ich das Recht, meine Familie einer solchen Belastungsprobe auszusetzen? Woher nimmt meine Frau nur ihr Vertrauen in mich und das Schiff? Die Kinder bleiben gelassen: Segelt man halt mal über den Atlantik.

      Sie hatten sich von uns allen am schnellsten an das Leben auf einem Schiff gewöhnt. Falls wir mal gerade nicht vor einem der vielen schönen Strände ankern, die auf der Reise als Ersatz für die heimische Sandkiste herhalten müssen, vertreiben die zwei sich die Zeit auf unserem ca. 10 Quadratmeter großen schwimmenden Zuhause mit Knetwachs,