Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit. Alexander Reeh

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Название Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit
Автор произведения Alexander Reeh
Жанр Личностный рост
Серия
Издательство Личностный рост
Год выпуска 0
isbn 9783954887729



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Klöstern ist jeder herzlich eingeladen, allerdings müssen Angehörige nicht-orthodoxen Glaubens im Vorraum der Kirche verharren. Besonders hier hat man viel Zeit zum Nachdenken und Innehalten. Ruhe und Meditation lösen hier das sonst dominierende Effizienz- und Leistungsdenken ab. Gleichzeitig gab mir dieser Aufenthalt mit außergewöhnlichen Erlebnissen auch die Möglichkeit, drei Menschen näher kennenzulernen, die ich vorher eigentlich nur flüchtig kannte. Besonders spannend war für mich auch die Tatsache, dass ich damit Freunde gewonnen habe, die beruflich gar nichts mit der Medizin zu tun haben.

      Athos bildete ganz klar den Höhepunkt meines Sabbaticals – daneben gab es aber auch eine ganze Reihe von weiteren prägenden Erlebnissen, die meine viermonatige Auszeit kennzeichneten. Selbstverständlich habe ich mich auch chirurgisch fortgebildet – ohne diesen direkt greifbaren medizinischen Inhalt wäre mein Sabbatical vonseiten des Verwaltungsrates des Spitals gar nicht bewilligt worden. Im Rahmen von zwei 14-tägigen Gastarzt-Aufenthalten an Spezialkliniken für kolorektale Chirurgie habe ich fachlich viel profitieren können. Daneben habe ich teilweise hautnah miterlebt, wie einerseits KollegInnen und andererseits PatientInnen in andere Gesundheitssysteme eingebettet sind – das National Health Service (NHS) und der Einblick in die Arbeit an einer deutschen Universitätsklinik waren geeignet, sehr kontrastreiche Eindrücke zu vermitteln: Behandlungsqualität, Patientensicherheit und Behandlungsabläufe sowie Hierarchie, Weiterbildungsqualität, Entlohnung und Lebensqualität sind nur ein paar wichtige Parameter, die zum Nachdenken Anlass gegeben haben. Neben fachlichen, organisatorischen und gesundheitspolitischen Inputs vermochten diese Aufenthalte auch immer wieder die im chirurgischen Alltag eines Chefarztes teilweise als sehr anstrengend und mühsam empfundene Probleme etwas zu relativieren. Grundsätzlich banale Erkenntnisse wie »So schlecht geht es uns gar nicht« oder »Die kochen auch nur mit Wasser« wirken äußerst wohltuend.

      Nabelschnur abgeschnitten

      Ich war in der glücklichen Lage, dass für die Dauer meiner Abwesenheit von der Spitaldirektion ein erfahrener (externer) Stellvertreter bewilligt wurde, der dann zusammen mit dem langjährigen Chefarztstellvertreter die Klinik führte. Nach einer einwöchigen Einarbeitungszeit dieses Stellvertreters habe ich das Spital mit einem etwas mulmigen Gefühl verlassen: Es hätte ja noch einige Pendenzen gegeben, die ich vor meiner Abwesenheit dringend regeln wollte und zudem gab es ein paar frisch operierte PatientInnen, die mir am Herzen lagen. Deswegen habe ich mich nach ein paar Tagen telefonisch gemeldet, um nach dem Stand der Dinge zu fragen. Ich bekam eine eher knappe und zugegebenermaßen auch etwas brüske Antwort: »Es geht alles gut, ich glaube Du musst nicht mehr anrufen…«. Damit war die »Nabelschnur« zum Spital endgültig durchtrennt und ich musste mich auf einen anderen Alltag einstellen, was dann aber doch relativ rasch und gut gelang.

      Nach meiner Rückkehr stellte ich erleichtert und erfreut fest, dass tatsächlich alles gut gegangen war. Mein Stellvertreter genoss eine hohe Akzeptanz und war beliebt, ja sogar sehr beliebt. Selbstverständlich musste er als »Außenstehender« nicht so viele vielleicht unangenehme Entscheide fällen oder schwierige Mitarbeitergespräche führen. Sehr bald habe ich realisiert, dass es aber auch andere Dinge gab, die ihm Achtung und Wertschätzung verliehen. Glücklicherweise durfte ich in der Folge während mehrerer Wochen mit ihm zusammenarbeiten, da mein langjähriger chirurgischer Partner und Chefarztstellvertreter ebenfalls die Gelegenheit für eine Auszeit bekommen hatte. Während dieser Zeit kam es teilweise zu angeregten und fruchtbaren Diskussionen, bei denen der befreundete Gast und Kollege nicht selten in der Lage war, mir sozusagen von extern gewisse Dinge zu beleuchten oder gar einen Spiegel betreffend meiner Rolle als Chefarzt vorzuhalten. Hier sei nur ein Beispiel erwähnt: Während ich früher im Schnellzugtempo die Chefarztvisite abspulte und dabei eigentlich am Schluss immer selbst frustriert war, pflege ich diesen Akt heute sehr viel intensiver und bewusster als wichtigen Moment für Teaching und Kommunikation. Gleichzeitig bemühe ich mich vermehrt darum, ein einfühlsamer Ratgeber für PatientInnen und ein Vorbild für MitarbeiterInnen zu sein.

      Fazit und Ausblick

      Rückblickend hat mir das Sabbatical vor allem eins gegeben, nämlich Zeit – Zeit für die Familie und auch einmal Zeit für mich selbst, Zeit zum Innehalten. Daran muss man sich zuerst gewöhnen – nach jahrelangem ziel- und karriereorientiertem Dauerlauf ist dies nicht ganz einfach. Ruhe und die Halbinsel Athos haben mir dabei geholfen. Ohne Zeit geht nichts – nur sie erlaubt es, sich auch an heiklere Fragen heranzuwagen, wie zum Beispiel: »Was habe ich bis jetzt gemacht oder erreicht« oder »Soll es genauso oder anders weitergehen?« Fast vier Jahre später gibt mir die Realität folgende Antwort: »Das bisher Erreichte ist gut und prinzipiell geht es auf dem gleichen Wege weiter«. In der Zwischenzeit habe ich aber einige Veränderungen des beruflichen und persönlichen Lebensstils vorgenommen und gelegentlich nehme ich mir auch bewusst Zeit für ein »Mini-Sabbatical«.

      Aus eigener Erfahrung ist ein Weg aus dem Operationssaal zu den Mönchen dringend empfehlenswert. Ich gehe davon aus, dass der Alltagstramp grundsätzlich für alle Chirurgen weitgehend identisch ist. Den persönlichen Weg aus dem Operationssaal zu einem erfolgreichen Sabbatical muss sich jedoch jeder selbst suchen und gestalten – es lohnt sich!

       Prof. Dr. Gian A. Melcher, Swiss Knife, Mitgliedermagazin der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie

       Ein Erfahrungsbericht von Daniela Scholl, die eine Auszeit Agentur leitet

       © Nepomuk Karbacher Bilder.n3po.com

      Ich fahre zum ersten Mal in meinem Leben in ein Kloster. Es ist das Kloster der Dominikanerinnen in Rickenbach bei Luzern. Ich nähere mich in abnehmenden Tempo: ab Frankfurt fährt der schnelle ICE nach Basel, ab dort der deutlich langsamere InterRegio nach Sursee und den Rest des Weges lege ich mit dem Postbus zurück, der mich in Rickenbach am Kirchplatz aus seinem gelben Bauch entlässt.

      Das Kloster liegt ländlich am Rande des Ortes Rickenbach. Gleich nebenan ist ein Bauernhof mit Milchwirtschaft, so dass das sanfte Glockengebimmel der Kuhglocken mich durch den Tag und die Nacht begleitet.

      Das Gebäude selbst ist ein eher nüchterner Bau aus den 80er Jahren und stimmt rein optisch gar nicht mit den Bildern überein, die ich mir von Klöstern mache. Erstaunlicherweise erleichtert diese architektonische Tatsache das Ankommen ungemein: das Kloster ist ein ruhiger, aber sehr lebendiger Ort. Es gibt nicht vor, etwas Besonderes zu sein, sondern besticht durch seine Lebensnähe und seine Alltagstauglichkeit. Das Ankommen ist daher einfach: Ich bin für einige Tage ein herzlich willkommener Gast in familiärer Atmosphäre.

      Das Abendessen nehmen alle Gäste gemeinsam an großen Tischen sein. Es gibt ein kleines kaltes Buffet mit leckeren Salaten. Und ich weiß sofort, was ein anderer Gast meint, der sagt: »Hier würde es auffallen, wenn jemand nicht zum Essen kommt«. Ich bin Teil einer Gemeinschaft. Es ist nicht aufdringlich, ich habe meine Freiheit, aber es tut mir gut, dass es einen Unterschied macht, ob ich da bin oder nicht. Im Kloster Rickenbach gibt es tägliche Angebote für Gäste und zusätzlich ein festes Programmangebot, welche durch zwei Seelsorger liebevoll erstellt und durchgeführt werden. Ich nehme gleich nach dem Frühstück an einer Stunde Körperarbeit teil. Bei der Eutonie geht es um Körperwahrnehmung und Dasein im Hier und Jetzt, und ich erlebe die Dreiviertelstunde des Einfühlens in mich selbst als sehr wohltuend. Ich will gar nicht mehr aufstehen, sondern (gefühlt) tief eingesunken im flauschigen Teppich verweilen. Danach besteht die Möglichkeit, an einer Meditation teilzunehmen. Ich bin kein besonders gläubiger Mensch und verspüre anfangs eine gewisse Abneigung gegen den Impuls aus dem Buch Jesaja: »Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen« und dem Thema dieser Meditation: »Wer bin ich?«. Doch dann passiert etwas mit mir, das ich gar nicht erwartet habe: während der Kopf noch denkt, dass dieses Angebot vielleicht nicht so zu mir passt, hat ein zweiter Gedankengang angefangen, sich zu entwickeln. »Wie nennen mich die Menschen, welchen Namen geben sie mir?« Und ich merke nicht, wie die Zeit verstreicht, bin voll und ganz gefangen von meinem Gedanken und mentalen Aufzählungen der Namen, die ich von anderen bekomme. Wer bin ich? Vielleicht ist es an der Zeit, darüber tiefer nachzudenken, denn ich habe keine passende Antwort parat, nur Bruchstücke.