Licht aus!. André Storm

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Название Licht aus!
Автор произведения André Storm
Жанр Языкознание
Серия Ben Pruss
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783954415694



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zu allem, wirklich allem anderen im Raum, staubfrei und blitzblank. Der Typ setzte Prioritäten, ging es Ben durch den Kopf. Unter der Mörderglotze standen mehrere Gerätschaften, die wild untereinander und mit dem Fernseher verkabelt waren. Ein Gegenstand, der weitgehend vom Bett verdeckt war, erregte Kais Aufmerksamkeit, und er zoomte ihn ran. Beide erkannten gleichzeitig die breit ausgestreckten Beine einer gelblich blonden Gummipuppe, die ihren Mund zu einem immerwährenden, wollüstigen O verzogen hatte.

      »Äääääh!«, machten beide gleichzeitig, als Kai die Kamera instinktiv wieder auf den Kalender lenkte, der mit einer jungen Blondine, die nichts weiter als einen gelben Helm, eine blaue Latzhose und High Heels trug, weitaus gefälliger auf die beiden wirkte.

      »So hochauflösend müsste die Kamera gar nicht sein, wenn du mich fragst«, sagte Ben angeekelt. »Flieg mal ans nächste Fenster.«

      Kai drückte den Hebel nach rechts, und einen Moment später rückte die Küche ins Bild, deren Anblick ebenfalls nicht die Lust weckte, sich spontan eine Schürze umzuwerfen und mit Gusto ein pikantes Szegediner Gulasch zu zaubern. Bergeweise schmutziges Geschirr, offene Ravioli-Dosen, eine vertrocknete Scheibe Mortadella, die man in ihrem Zustand wunderbar als Türkeil verwenden konnte, weitere drei, nein, vier, fünf Pizzakartons und ein Kühlschrank, der schon von außen so versifft aussah, dass Ben dankbar war, dass er dessen garantiert äußerst vitales Innenleben nicht sehen musste … Sechs Pizzakartons.

      »Zum Glück ist das nächste Fenster Riffelglas. Sein Scheißhaus will ich mir, ehrlich gesagt, nicht ansehen«, sagte Kai.

      »Dann lass uns auf die andere Seite gehen, vielleicht sehen wir im Wohnzimmer was Interessanteres.«

      »Entspann dich«, sagte Kai und blickte hoch zur Drohne, die er soeben über das Dachniveau hatte steigen lassen. »Ich bin auch ein Ass im Blindflug.« Er senkte den Blick zurück auf den Monitor, und Ben sah, wie das Fluggerät hinter dem Dach in Richtung Straßenseite verschwand. »Mit der geilen Cam geht das wie geschmiert.«

      Kaum ausgesprochen, kamen nach wenigen Sekunden, in denen nur vermooste Dachziegel zu bestaunen waren, die Fenster ins Bild. Dahinter ein Raum, der nach Vorstellung von Architekt und Vermieter wohl das Wohnzimmer sein sollte. Es gab hier sogar eine Couch und einen weiteren Großbildfernseher, doch der eigentliche Blickfang war die Wandseite gegenüber den Fenstern. Ben und Kai schauten ungläubig auf das Bild des Monitors. Die Wand war über und über mit Fotos beklebt. Großformatige, kleinformatige, einige gerahmt, der Großteil direkt auf die Wand geklebt.

      Ben stieß ein tonloses Pfeifen aus. »Das müssen ja Hunderte sein.«

      »Ziemlich genau dreihundert.«

      »Wie kommst du denn da drauf?«

      Kai schaute Ben mitfühlend an. »Zwanzig Stück in der Breite und fünfzehn in der Höhe. Macht dreihundert. Etwas weniger wegen den paar Gerahmten und den Großen. Ich kann zählen.« Er blickte wieder auf den Monitor. »Und rechnen.«

      »Du guckst wie Bambi«, sagte Ben schnippisch und fuhr fort: »Wie es aussieht, hat unser Freund echte Probleme mit Frauen.«

      »Zumindest mit einer Frau«, antwortete Kai, der näher an die Fotos heranzoomte. Jetzt wurde deutlich, dass es sich bei allen Motiven um ein und dieselbe Frau handelte. Eine junge Dame mit langen, platinblonden Haaren. Auf einigen Fotos trug sie sie offen, auf anderen zu einem Zopf oder zwei Zöpfen gebunden, manchmal locker, manchmal streng gescheitelt. Auf wieder anderen trug sie einen Dutt. Hin und wieder war sie in aufregender Abendkleidung zu sehen, dann in Schlabberlook. Auf einigen Bildern trug sie nur Unterwäsche oder nichts weiter als ein Badehandtuch um die Brust. Die meisten Motive wirkten, als wüsste die Frau nicht, dass sie fotografiert wurde. Ben und Kai sahen sich mit hochgezogenen Brauen an.

      Dann meinte Kai: »Ich fotografiere den Kram mal ab. Vielleicht finden wir raus, wer das ist.«

      Einige Minuten starrten sie beide nur auf den Monitor, während Kai die Drohne millimetergenau justierte und einzelne Abschnitte der Wand fotografierte. Dann hob er das Fluggerät wieder über Dachniveau und ließ es langsam zur rückwärtigen Hausseite und wieder in ihr Sichtfeld gleiten.

      »So, runter das Teil und ab nach Hause.«

      »Warte noch«, sagte Kai und lenkte die Drohne zurück an das Schlafzimmerfenster. »Ich will noch dieses Mädel in Latzhose fotografieren, die sieht echt Hammer aus!«

      »Ach hör doch auf mit diesem Kinderkram! Lass uns abhauen. Sei froh, dass wir nicht gesehen worden sind.«

      »Was machen Sie denn hier?«, gellte eine hohe Frauenstimme jenseits ihres Sichtfeldes hinter den Bettlaken. Kai zuckte vor Schreck zusammen und drückte instinktiv den Schalthebel nach vorne. Ben sah, wie die Drohne gegen die Fensterscheibe im fünften Stock prallte, einen Moment in der Luft taumelte, um dann, gemächlich, aber unweigerlich, seitlich abzusacken.

      »NEIN«, schrie Kai, der panisch auf das Fluggerät stierte und hektisch mithilfe des Steuerknüppels versuchte, sein schwankendes Lieblingsspielzeug vor dem sicheren Tod zu retten. Als er erkannte, dass es sinnlos war, rannte er mit weit ausgestreckten Armen in Richtung Hauswand. Dabei riss er zwei Bettlaken mit sich und stieß beinahe noch die mit Lockenwicklern und Wäschekorb bewaffnete Frau um, die sich nur mit einem beherzten Sprung nach hinten in Sicherheit bringen konnte.

      »Strömungsabriss. Scheiße!«, schrie Kai verzweifelt in den Himmel.

      Ben war komplett erstarrt. Er sah das Fluggerät eine letzte waghalsige Rollenkehre vollführen, dann prallte es mit einem ungesunden Pong an die Regenrinne und stürzte ungebremst zu Boden. Direkt neben Kai, der ein weiteres »NEIN!« kreischte und nach wie vor die Arme gen Himmel reckte, als wollte er Gott nach einer dreimonatigen Dürre um ein Tröpfchen Regen anflehen. Ben spürte beim Aufprall einen Schmerz, als wäre die Drohne nicht auf die Waschbetonplatten, sondern ihm direkt auf den Kopf gefallen. Kai sank auf die Knie und stieß ein herzzerreißendes Heulen aus, bei dem er sich mit beiden Armen selbst umarmte. Dann drehten sie gleichzeitig ihre Köpfe in Richtung der Dame, die mit wenigen Worten, ausgesprochen im feinsten Dorstfelder Ruhrdeutsch, großes Leid über Bens Mitbewohner gebracht hatte.

      Auch sie stand wie angewurzelt da und verzog das Gesicht in blankem Entsetzen. »Ach du Scheiße«, stieß sie atemlos aus und versuchte ein unschuldiges Grinsen.

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      »Mmmh. Dieser Typ kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Ben, als sie, zurück im Büro, die Bilder von Kais Drohne auf dem Monitor betrachteten. Die Kamera war beim Absturz genauso draufgegangen wie der Rest des Fluggeräts, doch zu Bens Erleichterung konnte die SD-Karte unversehrt geborgen werden. »Ich habe die Blackbox gefunden«, hatte Ben triumphierend ausgerufen, als er noch am Absturzort die Karte aus dem zerbrochenen Kameragehäuse entfernt hatte, und sich damit einen vernichtenden Blick von Kai eingehandelt. Dieser hatte in Windeseile die fünf Phasen der Trauer nach Kübler-Ross hinter sich gebracht:

      1. Das Leugnen (noch bevor er die Absturzstelle erreicht hatte): »Das kann nicht sein, Alter! Das, das, das … Scheiße! Das kann nicht sein, Alter!

      2. Der Zorn (auf Knien, die Drohne in seinen Armen; ein Rotor bewegt sich noch leicht, um dann für immer zu stoppen): »So ein verfickter Scheiß! Ich raste aus! Wegen deinem Scheiß, du Penner!«

      3. Das Verhandeln (wieder aufgerichtet, ein leicht verrücktes Glimmen in den Augen, an Ben gewandt): »Bestimmt krieg ich die wieder hin. Was meinst du? Die krieg ich doch wieder hin, oder? Krieg ich die wieder hin?«

      4. Die Depression (der komplette Rückweg in Bens Auto; Kai fühlt sich nach diesem traumatischen Ereignis nicht fahrtauglich): leises Wimmern. »Das geht doch nicht. Die war ganz neu. Was soll ich bloß machen? Ich halte das nicht mehr aus …«

      Gerade war er glücklicherweise bei Phase fünf angekommen, der Akzeptanz. Es war zwar erst Mittag, trotzdem hatte er sich eine Flasche Bier aufgerissen – heute sei er ohnehin nicht mehr arbeitsfähig, hatte er Ben erklärt, als er vom Kühlschrank zurückkehrte – und wirkte wieder halbwegs entspannt. Ein Umstand, der neben dem Bier