Licht aus!. André Storm

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Название Licht aus!
Автор произведения André Storm
Жанр Языкознание
Серия Ben Pruss
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783954415694



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Ihr Inhalt wartete nicht mit viel mehr Information auf als der Google-Schnipsel, enthielt aber zusätzlich die Adresse und Telefonnummer. Er griff zum Hörer seines ockerfarbenen Telefons, welches er ein paar Monate zuvor in einem Second-Hand-Laden gekauft hatte. Neben vielen geheimnisvollen Zusatzknöpfen besaß es ein kleines, graues Display. Ben hatte zwar keine Ahnung, wofür das ganze Zeug gut war (zumal weder das Display noch die Knöpfchen irgendeine Funktion zu haben schienen), doch er fand, dass es veritabel nach Chef aussah. Er tippte die Nummer ein, die auf dem Monitor angezeigt wurde.

      »Ja?«, meldete sich eine gereizt klingende Männerstimme. Ben fand den Klang durchaus verständlich, zog man in Betracht, dass es sich bei dem jungen Mann höchstwahrscheinlich um einen Studenten handelte und der Tag noch recht jung (mittlerweile 9:36 Uhr) und ungemütlich kühl war.

      »Hallo, Ben hier«, eröffnete er und gab sich Mühe, wie ein Studienkollege zu klingen. »Ich wollte Ivo sprechen.«

      »Ist nich da. Hat eigentlich Dienst seit acht Uhr heute, aber der Arsch ist nich jekommen. Ick musste einspringen. Hab eben offen jemacht. Die ham mich hier aus dem Bett jeklingelt. Schlange vor de Tür bis zur Mensa. Elende Scheiße. Hab jar keine Zeit für so wat. Der Sack liecht mit Sicherheit wieder unter irgend nem Balkon.«

      Ben hielt den Hörer beim Monolog des offenbar aus Berlin stammenden Herrn ein Stück weit vom Ohr entfernt. »Na jut. Äh, na gut«, antwortete er und sparte sich die Frage, warum Ivo Sunstein »unter irgendeinem Balkon« liegen sollte. Stattdessen fragte er: »Hast du vielleicht seine Telefonnummer?«

      »Nee. Hab ick nich, deswejen ham ja alle bei mir anjerufen. Seine Adresse kannste von mir aus haben. Wohnt inner Bornstraße 92, det weeß ick. Direkt neben den Hannibal. Hau ihm eine rein von mir, wenn de ne siehst.«

      Ben bedankte sich und legte auf. Das von den Dortmundern Hannibal genannte Hochhaus kannte er. In seiner unvergleichlichen terrassenförmigen Bauweise war es eine der berühmtesten Bausünden der frühen Siebziger.

      Sobald die Zeitungen voll waren von der Story über den jungen Privatdetektiv Ben Pruss, der den Varieté-Killer zur Strecke gebracht hatte, trudelten fast täglich irgendwelche Anfragen bei ihm ein. Vorwiegend von gehörnten Ehefrauen und -männern oder betrogenen Firmenbossen, die sich sicher waren, dass sich ihr »kranker« Mitarbeiter in Wirklichkeit nebenbei den ein oder anderen Euro dazuverdiente, während in der Firma jede Woche ein neuer gelber Schein hereinflatterte. Ein weiterer positiver Nebeneffekt war, dass auch die Zauberei plötzlich wieder prächtig lief. Es schien als schick zu gelten, sich seinen sechzigsten Geburtstag von dem Mann bespaßen zu lassen, der drei Leute vor dem nahezu sicheren Tod gerettet und einen Mörder überführt und dingfest gemacht hatte. Doch wie es meistens im Leben ist, dauern die angenehmen Zeiten nicht ewig an. Nach knapp zwei Monaten ebbte das Interesse an Ben und seinem Dienstleistungsspektrum wieder ab.

      Genau das war der Grund, warum er die Zeit und Muße hatte, an diesem Morgen vor Haus Nummer 92 in der Bornstraße aufzutauchen und der Frage nachzugehen, warum der Kerl, der um neun einen Termin mit ihm ausgemacht hatte, unverschämterweise nicht aufgetaucht war. Während Ben auf das verwitterte Tastenfeld mit den zehn Klingeln starrte und nach dem Namen Sunstein fahndete, stellte er sich die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit sei, dass dies gar nicht sein Ivo Sunstein war, sondern ein ganz anderer? Schließlich hatte seiner ja ein Hotel erwähnt.

      »Trotzdem. Nicht sehr groß bei dem Namen«, murmelte er vor sich hin, als er das schwarze Schildchen mit den eingestanzten weißen Buchstaben I. Sunstein oben links im Tastenfeld ausmachte. »Na bravo, ganz oben.« Ben klingelte und wartete. Dann klingelte er erneut und wartete wieder. Niemand öffnete.

      Er ging zurück auf den Bürgersteig und blickte an der verwitterten, grauen und in den ersten zwei Metern mit einem farbenfrohen All Cops Are Bastards verkündenden graffitbeschmierten Hauswand hinauf. Das Treppenhaus teilte das Haus in zwei Hälften mit jeweils fünf Wohnungen auf beiden Seiten. Ben nahm an, dass Ivo im Dachgeschoss links wohnte. Die Fenster auf der rechten Seite glänzten, als wären sie von Meister Propper persönlich gewienert worden, während die Fenster auf der linken Seite schon seit Langem keinen Putzlappen mehr zu Gesicht bekommen hatten. Gardinen waren ebenfalls Fehlanzeige – genau wie bei Ben zu Hause. Er rümpfte die Nase, immer noch den Blick nach oben gerichtet, und überlegte, was zu tun sei, als sich die Haustür knarzend und quälend langsam nach innen öffnete. Eine gepflegt wirkende, ältere Dame in weißer Bluse, altrosa Daunenweste und hautenger Jeans verließ das Haus und musterte Ben. Sie kam um einiges leichtfüßiger auf ihn zu, als er es nach der umständlichen Türöffnungszeremonie erwartet hatte.

      »Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«

      Ben erwiderte ihr verschmitztes Lächeln und antwortete: »Ich suche Herrn Sunstein. Wissen Sie zufällig, wo der ist?«

      »Nein, tut mir leid. Ich teile mir nur eine Etage mit diesem Herrn, ansonsten pflegen wir keinen Kontakt.« Ihr Gesichtsausdruck war in dem Moment einen Hauch finsterer geworden. Die Art, wie sie »mit diesem Herrn« ausgesprochen hatte, fachte Bens Interesse weiter an. »Sie mögen ihn wohl nicht besonders?«

      »Sind Sie ein Freund von ihm?«

      »Ich kenne ihn gar nicht. Ich habe jetzt eigentlich einen beruflichen Termin mit ihm, deswegen wundere ich mich, dass er nicht zu Hause ist.«

      Die ältere Dame verdrehte die Augen und zog ihre Stirn in Falten. Dann sagte sie mit einer Stimme, die deutlich pikiert klang: »Vielleicht sollten Sie es mal bei der Polizei versuchen? Dort hält er sich hin und wieder auf.«

      Polizei? Das passte! Ivo Sunstein hatte ihm gegenüber angedeutet, dass er eine Geschichte zu erzählen habe, mit der er sich nicht an die Polizei wenden könne. Er lachte. »Oh. Auf welcher Seite der Gitterstäbe denn?«

      Nun lachte auch die Frau und trat ein Stück näher an Ben heran. Mit konspirativer Stimme, obwohl sich weit und breit keine weitere Person in Hörweite befand, raunte sie: »Sowohl als auch. Sie müssen wissen, dass der Herr nicht ganz richtig im Kopf ist.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, drehte sie eine imaginäre Kurbel an ihrer rechten Schläfe. »Ständig ruft der die Polizei an und zeigt irgendwelche Frauen an. Wegen Falschparken oder wenn die den Hundedreck nicht vom Bürgersteig nehmen. Nur Frauen! Ich hab das genau gehört.« Sie zwinkerte Ben geheimnistuerisch zu. »Durch die Tür. Zwei Polizisten waren neulich da und haben ihm klipp und klar Bescheid gegeben, dass er das sein lassen soll, weil sie andere Dinge zu tun hätten, als ihm hinterherzurennen. Und er sollte sich von irgendeiner Frau fernhalten, der er nachgestiegen ist, wissen Sie? Nachgestiegen!« Sie schüttelte empört den Kopf.

      »Nachgestiegen?«, wiederholte Ben.

      »Ja! Gestalkt hat der die. So was gab’s früher gar nicht. Hab ich neulich noch bei Aktenzeichen XY gehört. Deswegen war der auch mal im Knast.«

      »Da haben Sie ja so einiges mitbekommen«, antwortete Ben und gab sich Mühe, die Anerkennung, die er empfand, möglichst kraftvoll zum Ausdruck zu bringen.

      »Ich finde immer, wenn es was Interessantes gibt, muss man die Ohren spitzen, oder?«

      »So ist es«, erwiderte Ben und fragte: »Hat er Sie auch belästigt?«

      »Mich? Nee. Ich bin ihm wohl zu alt. Oder zu hässlich … Zum Glück.« Wieder zwinkerte sie Ben zu.

      »Kann gar nicht sein«, sagte Ben lächelnd. »Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal gesehen?«

      »Jetzt klingen Sie selber wie einer von der Polizei. Warten Sie mal.« Sie überlegte einige Sekunden, bevor sie antwortete: »Das war am Montag. Montagnachmittag.« Und als könnte Ben nicht wissen, welcher Tag heute war, schob sie hinterher: »Vorgestern war das. Vorgestern Nachmittag.« Sie nickte und trat zwei Schritte zurück. »So, ich muss dann auch los, sonst verpass ich den Bus.«

      Ben bedankte sich und lief zurück zu seinem in die Jahre gekommenen Ford Fiesta, den er nicht weit vom Hauseingang entfernt in einer Parklücke abgestellt hatte. Von hier aus war es möglich, den Eingangsbereich perfekt einzusehen. In den letzten Monaten hatte er einige Erfahrungen mit Observationen gemacht und festgestellt, dass er diese für einen Privatdetektiv absolut unerlässliche Arbeit gar nicht so übel fand.