Название | Dämmer und Aufruhr |
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Автор произведения | Bodo Kirchhoff |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783627022631 |
Der Unschuldsschlummer meiner frühen Jahre endete in diesen Mittagsdämmerstunden der Jahre, an die es nur verwischte Erinnerungen gibt, Bilder von sprachloser Wahrheit, die, in Worte gefasst, eine Brücke zum Wahrscheinlichen bilden: Ja, wahrscheinlich ist es so gewesen, alle Bilder sprechen dafür. Und doch könnte ich nicht einmal sagen, ob ich im Alter von drei, von vier, ein eher glückliches oder eher unglückliches Kind war; sicher ist nur das Alleinsein in diesen Jahren, das Fehlen eines Alltagsanderen und damit die so großartige wie traurige Idee, dass einem kein fremdes Wesen die Welt streitig macht. Wer oder besser gesagt: was war dann aber dieses alleinselige Kind in seinem Zimmer? Ich weiß es nicht. Ich kann nur vermuten, dass es sich selbst genug war. Es summte sich zum Beispiel oft ein Lied vor, das es nur von der Mutter gehört haben kann – In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee –, eine Melodie von universeller wehmütiger Leere, die mir noch immer, sobald sie irgendwo anklingt, nahegeht. Und es tat, was ich heute noch tue, wenn ich mich langweile, auf einem Stück Papier etwas kritzeln.
Gab es also den, der sich hier erinnert, bereits als das Kind, an das er sich kaum erinnert? Den, der im Moment in einem kleinen Hotel in Alassio schreibt, woran er schon länger sitzt, es nun aber beenden will in dem Hotel, das seine Eltern im Spätsommer 1958 nach einem Geschäft in Nizza, ihrem letzten finanziellen Aufatmen innerhalb der Ehe, für einige Tage bewohnt hatten – ich denke, ja. Es gab den, der hier zurückblickt, schon zu der Zeit, als er Kind war, ein Alleiniger auf der Welt, der noch in ihm steckt, ihn denken lässt, dass die eigene Geschichte auch eine allgemeine sei und er es sich herausnehmen könne, von seiner Welt und Zeit zu sprechen. Das ist das eine; das andere ist die stete Sorge jedes Infanten, unberechtigt das letzte Wort zu haben, als Regent (oder Chronist) also irgendwann zwangsläufig aufzufliegen.
2
Das kleine alte Hotel am schmalen Strand von Alassio an der Riviera dei Fiori heißt Beau Sejour, Schöner Aufenthalt, und war für ein paar Tage der Traumplatz meiner Eltern, so heißt es im Ehebericht für das Jahr achtundfünfzig: Wir hatten etwas Traumhaftes in Alassio gefunden, das kleine Strandhotel Beau Sejour, und verbrachten dort die letzten unbeschwerten, märchenhaften Tage, für die wir dem lieben Gott danken. Wir saßen auf unserem Balkon im zweiten Stock, sahen auf das blaue Meer und wussten, dass wir wieder etwas Geld im Rücken hatten, die Firma wenigstens bis Jahresende gerettet wäre. Und danach? Daran durfte man gar nicht denken.
Sie hatten in Nizza die Lizenz für das am zuverlässigsten arbeitende medizinische Gerät aus einer nie ganz auf die Beine gekommenen Apparatebaufirma, in der ihrer beider Träume steckten, nach Frankreich verkauft, das von meinem Vater mitentwickelte handliche Tastotherm, ein immerhin schon elektronisches Instrument für die sofortige Messung der Körpertemperatur – ein kleiner warmer Regen für die bedrängte Firma, ein Teil davon bar auf die Hand. Der Überschwang meiner Mutter rührte wohl auch von dem sichtbaren Geld und war ansteckend genug, damit sie beide unbeschwert über die nahe Grenze nach Alassio fuhren, damals wie heute ein mondänes Seebad in einer von Bergen umgebenen Bucht, bekannt für ein mildes Klima, mit fast noch sommerlichen Tagen bis in den Oktober. Ja, es waren die letzten schönen Tage, ein im Jahresrückblick unterstrichener Satz, als hätte die Verfasserin damit auch die Tage mit ihrem Mann gemeint, während der Sohn, fast ein Menschenleben später, nur das gute Wetter aufnimmt, darin aber verborgen die Melancholie der letzten schönen Tage, mit dem Bangen, wie lange es noch so weitergehe. Jeden Morgen ist es ein Ausschauhalten nach ersten Wolken beim Hinaustreten auf den einzigen Balkon im zweiten Stock des alten Hotels, einst Ferienvilla einer italienischen Familie, dem Balkon des inzwischen begehrtesten Zimmers, schon im Jahr zuvor gebucht, nachdem ich in den Kladden meiner Mutter auf das Beau Sejour in Alassio gestoßen war. Über den Aufenthalt selbst steht dort kaum etwas, nur eben dass er märchenhaft gewesen sei und es im Hotel einen Leseraum gebe (den es noch gibt), man auf einer Terrasse mit Meerblick frühstücken könne und das Zimmer klein sei, mit auch schmalem Bett – alles in allem aber unbeschreiblich schöne Tage, auch wenn mein geliebter Mann oft etwas Fernes hatte, mit einem Wein und einer Zigarette auf dem Balkon, sein ohnehin schon dunkles Gesicht in der Sonne.
Das Bett in dem Zimmer ist inzwischen breiter, ein französisches Doppelbett, kein Kingsize, zumal in das Zimmer nachträglich Dusche und Toilette eingebaut worden sind, während alles Übrige, der Schrank, der Schreibtisch, die Bilder, auch die Balkonstühle und der kleine gusseiserne Außentisch, alt ist oder mir so alt erscheinen will, dass schon meine Eltern diese Stühle genutzt haben könnten, meine Mutter mit Kissen im Rücken, dabei die Füße an der Brüstung, wie einst auf dem Holzbalkon in dem Gasthof oberhalb des Schwarzsees, wenn sie ihre nächste Rolle memoriert hat oder einfach nackt in der Sonne saß, zwei rote Blüten auf den Lidern. Aber was ist das, sich am vermutlich letzten Glücksort seiner toten Eltern aufzuhalten, diesen Raum einzunehmen, ja darin zu schreiben? Eine stille Übertretung, als hätte man als Kind, nachts von rätselhaften Lauten geweckt, die elterliche Schlafzimmertür geöffnet; aber auch eine Verbeugung vor ihren Tagen hier, die sie sich aus dem Leben geschnitten hatten, den Kämpfen um den Erhalt der kleinen Firma – Unternehmer sein, Traum meines Vaters, der als Habenichts mit einem Bein aus dem Krieg kam – und den Kämpfen um den Erhalt der Ehe: Traum meiner Mutter, das Liebesglück mit dem idealen Mann bis ans Ende aller Tage. Die erste Nacht in dem Zimmer war noch zerrissen, traumzerfurcht, und in der zweiten Nacht hat schon das Meer geholfen, die Geräusche der Wellen, ihr Anrollen und Brechen am Strand vor dem Hotel; der alte Sohn einst junger Eltern, die das Zimmer bewohnt hatten – sein Vater zweiundvierzig, die Mutter vierunddreißig –, hat tief geschlafen und war am nächsten Morgen von einer Wachheit wie unter einer Droge, wenn sich das Chronologische auflöst, Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen nebeneinanderstehen und es keine Grenzen der Erinnerung mehr zu geben scheint.
Mit meinem vierten Geburtstag endete das Zweisame und zugleich Einsame der Mittagsschlafstunden in dem Dachzimmer mit dem Geruch des aufgeheizten Moorsees, der in Wellen hereinzog. Wir wechselten wieder in den Gasthof Vordergrub, damit Das Menscherl, wie die Wiener Großmutter ihr Einundalles nannte, auch gefeiert werden konnte. Sie, meine Hüterin, hatte für Gratulanten gesorgt, die Kinder der Wirtsleute eingeladen, einen Buben und ein Mädel, beide mit Spangen im frisierten Haar – Gott, wie adrett,