Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff

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Название Dämmer und Aufruhr
Автор произведения Bodo Kirchhoff
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783627022631



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R nachsprechen kann, Kaiserschmarrn. Er teilt ihn sich mit der Mutter, und noch mit pudriger Süße im Mund fällt er in einem Zimmer unter dem Dach ins gemeinsame Bett. Halbschlaf und Schlaf verschwimmen ihm, er ist wach und träumt zugleich, und irgendwann taumelt er, traumtrunken, auf den Holzbalkon, und da sitzt Damemammi nackt auf der Bank, die Füße an der Brüstung mit Blumenkästen. Sie sonnt sich, auf jedem Lid eine rote Blüte, als hätte ihr wer die Augen ausgestochen.

      Die ersten Stunden, der erste Tag, mit einem Abend, an dem es kaum abkühlt, gipfelnd in einem Unwetter mit Wind und Blitzen, noch ohne Regen, als man schon im Bett liegt, nur unter einem Laken, Kopf an Kopf, und das Läuten des Glöckchens ausbleibt. Dafür redet die Mutter, sie flüstert – was Blitze anrichten könnten, großer Gott, sogar einen Mann in der Mitte spalten. Sie nutzt die Pausen zwischen dem Donner, spricht von erschlagenen oder brennenden Menschen auf freiem Feld, um ihren kleinen Zuhörer am Ende beruhigend in den Schlaf zu summen, während es vor dem überdachten Balkon endlich schüttet. Wie aus Kübeln, sagt sie und singt für ihn Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein.

      Und am anderen Morgen der gültige Alpensommer mit dem Frühstück im Freien; es gibt frische Semmeln und Honig, es gibt Fliegen und Wespen und eine Klatsche – Aber mach sie richtig tot, sagt die Mutter. Und später geht es durch die Wiesen zum Schwarzsee hinunter, das Kind trägt die Badetasche, mit der anderen Hand köpft es Pusteblumen. Sie lösen Karten für die Badeanstalt, aber nicht für die nahe gelegene, wo es laut sein soll, sondern für die auf der anderen Seeseite, nach einem Weg durch Tannenwald. Das Seebichel, wie man zur dortigen, kleineren, ganz in Holz gefassten Anstalt sagt, ist das Bad der Kitzbüheler Gesellschaft, zu der die junge Schauspielerin Anschluss sucht, gleich durch ein deutliches Grüß Gott auf dem Weg zu den Umkleidekabinen. Schon riecht man das moorige Wasser neben dem Duft des erwärmten Holzes, dazu kommt die Süße von Tiroler Nussöl auf all den Beinen und Schultern, den Armen und Wangen, die das Kind im Vorbeigehen sieht. Die Leute liegen auf ihren Handtüchern oder flach auf den Planken, sie dösen oder lesen oder winken denen zu, die im Wasser sind. Es gibt ein Sprungbrett für die Großen, und es gibt ein holzumrandetes Kinderbecken. Aber zuerst eincremen, die Brust, die Bäckchen, die Stirn, den Rücken. So macht man das, sagt die Mutter im weißen Badeanzug, und ihr Begleiter macht es gleich nach, cremt ihr die Schultern ein, den Nacken, die Schenkel. Ach, wie gut er das schon kann, von wem er das nur gelernt hat? Sie möchte eine Antwort, hörbar für alle im Umkreis, und der kleine Kavalier ruft: Von dir, von der Mammi! Es ist ein Fest der Selbstlaute, und so von der eigenen Sprache umgarnt, liegen sie auf dem warmen Holz, vor ihnen der dunkle See mit Waldrand, hinter den Tannen, leicht ansteigend, eine gestaffelte Landschaft, aus der in einiger Ferne, fast wie ein Bühnenbild, der Wilde Kaiser aufragt, seine Zinnen, seine Tore, ein strahlender Felsgarten, darüber der gewaschene Himmel. Damemammi liegt auf dem Bauch, sie liest in einem Buch, bald ist ihr einer Fuß in der Luft, bald der andere, und das Augenkind, gelegentlich auch Augenstern genannt, frei nach dem Lied Du bist mein Augenstern, verfolgt, wie sich aus dem Wechsel der Füße Falten im Badeanzug ergeben oder die Kniekehlen straffen. Aber es hat auch etwas anderes im Blick, ein anderes Kind – das erste andere Kind, das sich überhaupt in seinem Gedächtnis festsetzt –, einen schon gebräunten Jungen, der angelt und sogar einen kleinen am Haken peitschenden Fisch fängt, ihn packt und den Haken aus dem Maul zieht, samt rötlichen Fetzen, und ihn auf die Planken wirft, wo er noch ab und zu mit dem Schwanz schlägt. All das steigt dem Kind zu Kopf, es löst die Zeit auf. Schon ist es Mittag, und sie kehren zurück zu dem Gasthof, endlich läutet auch das Glöckchen, und man geht gleich zu Tisch, wie es heißt, zu den Tellern mit den Abteilungen. Das Essen sättigt, nur macht es auch müde, man will jetzt liegen, will faul sein. Also geht es über knarrende Treppen, vorbei an Geweihen und einer ausgestopften Eule, in das Zimmer unter dem Dach. Dort ist die Luft erdrückend, und die Schauspielerin ruft Ich ersticke! Aber sie erstickt gar nicht, sie zieht sich aus. Ich muss mir die Kleider vom Leib reißen, sagt sie, nur ist es auch kein Reißen, es ist ein Pellen und Fallenlassen. Sie bückt sich nach Rock und Bluse und einem langen Tuch, das auch am See dabei war, nach einer blassen Unterwäsche, und legt alles über den einzigen Stuhl; danach legt sie sich selbst auf das einzige Bett. Komm, sagt sie, auch ausziehen, ja? In ihrer Stimme ist etwas Atemloses, als hätten die Stunden am See und das Essen sie zwar erschöpft, aber doch nicht gänzlich erschöpft, eher etwas Unausgeschöpftes zurückgelassen. Und ihr kindlicher Begleiter zieht sich aus, wie verlangt, das Hemdchen, die kurze Lederhose, und was er darunter trägt, nur die Sonnenbrille behält er auf. Na, da schau her, wie schick, sagt die, die schon im Bett liegt, auf der Decke, nicht darunter, aber das möchte er selbst sehen und stellt sich vor einen Spiegel in der Schranktür. Er tänzelt, er macht Faxen, und vom Bett kommen Laute der Missbilligung, die zugleich ermunternde Laute sind, ja was denn nun, er darf es sich aussuchen, die Ermunterung reizt ihn mehr, sie bringt ihn auf eine Idee. Da ist das Tuch der Mutter auf dem Stuhl, das nimmt er und schlingt es sich um, für erneute missbilligend ermunternde Laute, wie Klapse in Richtung Spiegel. Also tritt er wieder vor den Schrank, zupft sich am Mund, am Haar, am Tuch, ein einsamer kleiner Geck. Und von der Mutter eine hastige Anweisung: den Vorhang zu schließen, das Fenster aber weit zu öffnen; beides geschieht, und der Geruch des aufgeheizten Moors zieht in Wellen herein. Vom geschlossenen Vorhang geht das Dienerkind zum Bett, dort wird ihm das Tuch gelöst und die Sonnenbrille abgenommen, ein vorläufiger Platz am Fußende zugeteilt, und ein Theaterseufzer kündigt eine Mittagsstunde jenseits der gewöhnlichen Welt und ihrer Gesetze an.

      Fast ein Menschenleben später, wieder im Sommer, starb die Mutter im Alter von neunundachtzig, und in den Wochen danach sah der Sohn erstmals in eines ihrer Tagebücher, die eigentlich nur Jahresberichte über die Ehe mit seinem Vater sind, festgehalten in zwei Kladden, anfangs noch in flattriger Mädchenschrift. Und dort kommen die Kitzbüheler Tage im Bericht über das siebte Ehejahr nur am Rande vor: Der Sommer kam, die Ferienzeit, und Omi (meine wienerische Großmutter mit einer monatlichen Pension durch ihren gefallenen Mann, einen Major der Wehrmacht) lud mich nach Österreich ein. Mein über alles geliebter Mann konnte die Firma in Hamburg nicht im Stich lassen, und nach vielen Debatten – und einem Intermezzo, das zu erwähnen ich mir schenke – fuhren wir, mein Augenstern, Omi und ich, für vier Wochen nach Kitzbühel.

      Dem Sommerintermezzo mit dem Augenstern ist also ein anderes vorausgegangen, für die Verfasserin nicht der Erwähnung wert und damit eben doch erwähnt, in einer Schrift der bald Achtundzwanzigjährigen, die immer noch etwas Instabiles zeigt, und der Seufzer hat dieses gar nicht erwähnte, still übergangene Zwischenspiel eingeleitet, dafür die Bühne frei gemacht: Ein knapp Vierjähriger kniet zwischen den Fersen der Mutter, die nackt auf dem Bauch liegt, das Gesicht in der Armbeuge; er folgt der Trägheit seiner Augen und kann etwas vom Geheimen sehen, wo die Schenkel sich treffen, von den Fältchen dort, dem dunklen Gras der Haare, den Mulden und den Kräuselungen, und was er sieht, gräbt sich ein, als leeres Schlüssellochbild. Er sieht Allesundnichts, aber ehe er sichs versieht, ist die Schlüssellochsicht schon die bleibende. Es ist ein fast lautloses Geschehen, nur mit Schleif- und Knistergeräuschen, als sich die Schläfrige ein Kissen unter den Schoß schiebt, um den Bauch zu entlasten (sie ist im vierten Monat, aber davon weiß der kleine Sohn nichts). Etwas aufgebockt liegt sie nun da, und ihr Augenstern erkundet die Kniekehlen und die weichen, im Halblicht so schimmernden Backen und was sich dazwischen verbirgt. Warme Luft drückt ab und zu gegen den Vorhang, bläht ihn, einzige Bewegung neben der der Finger, ihrem Tun in der Mittagsruhe; nur manchmal ist eins der Hühner auf der Wiese vor dem Gasthof zu hören, die kurze Erregung im Hals, wenn der Hahn es scheucht. Das Kind thront jetzt auf den Fersen der Schläfrigen, ein Infant, gekürt in aller Stille; seine Augen, schwimmend vor Wonne, folgen jeder Bewegung der Finger, und die tun, was sie wollen. Der Mutterleib ist ein vaterloses Gebiet, der Sohn reißt es sich unter den Nagel und prüft seinen Wert, kostet von den Fingern, wie auf Spaziergängen mit der Großmutter, wenn er die fingernagelkleinen wilden Himbeeren gepflückt hat, einen ganzen Strauch geräubert. Die Tage der Sommerfrische sind grenzenlos, zuerst im Gasthof Vordergrub, wo die großmütterliche Hüterin ihm erlaubt, zum Wiener Schnitzel schon etwas Bier zu trinken, das macht schön müde, dann in dem Gasthof mit Damemammi, da ist es erlaubt, auf ihr zu sitzen, an ihr zu spielen, sie zu erkunden, das macht schön neugierig. Der kleine Sommerkavalier trinkt schon und begehrt auch; er trinkt sogar bei der Mutter, seine Augen trinken und die Fingerkuppen.

      Mehr als einmal sitzt er in diesen Tagen, in der Mittagsruhestunde, zwischen ihren Fersen