Название | Kate Glory Lie |
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Автор произведения | Stefan Scheufelen |
Жанр | Языкознание |
Серия | Debütromane in der FVA |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783627022778 |
Am nächsten Morgen
Mein Wecker klingelt. Ich betätige meine Lieblingstaste: Snooze. Das Ganze wiederholt sich in der Regel vierzehnmal. Alle drei Minuten. Ich muss ein unglaublich gutes Gehör entwickelt haben. Ohne die Augen zu öffnen, treffe ich genau den Button. Drehe mich wieder zur Seite. Zupfe mir die Schlafbrille zurecht und beginne leise zu schnarchen. Wie merkwürdig das ist, wenn man im Halbschlaf schnarcht und das mitbekommt. Schmatze. Schulkinder laufen unten am Haus vorbei. Was für eine Energie die am Morgen schon haben. Ich bin beeindruckt. Sie schreien. Sie spielen. Ich bin genervt. Dann sind sie vorbeigezogen. Endlich. Atme durch. Komme langsam wieder zur Ruhe. Alles wird leicht. Ich stürze in diesen dunklen Tunnel und plötzlich wieder Kinder.
»Hey Ahmet!«
»Ja?«
»Schau mal!«
»Was machst du mit dem Stein?«
Ein lauter Knall. Ich zucke zusammen. Reiße mir die Brille vom Gesicht und springe auf.
»Was zur Hölle?«
»Scheiße, renn!«
Sie lachen und flitzen weg. Ich gehe ans Fenster und schaue raus.
»Nee, echt jetzt?«
Eine fette Beule im Auto. Schüttele den Kopf. Ahmet und sein kleiner rothaariger Komplize springen kichernd um die Ecke. Na wartet, das nächste Mal trifft euch der Stein. Soll ich mich noch mal hinlegen? Ja. Oder lieber nicht. Wobei? Für die Schönheit. Bringt das noch was? Ach egal. Ich bin schön genug. Kratze mich am Kopf und öffne das Fenster. Frische Luft. Dazu noch der süße Duft der japanischen Blütenkirsche. Heute Abend stecke ich mir eine Blüte ins Haar. Das wird wundervoll aussehen. Schmunzle. Oh, ich sollte noch die Geldscheine einsammeln, die im ganzen Bett verteilt liegen. Ja, ich hab eine Macke. Aber was soll’s. Lege sie zurück in meine Spardose, die mittlerweile einen Wert von mehr als 32.000 Euro haben muss, und schließe sie. Wie viel wirklich drin ist, weiß ich nicht. Ich komme nie so weit. Einmal bis 32.000, aber das ist auch schon eine Weile her. Seitdem ist noch einiges dazugekommen. Vielleicht hat sich das Ganze sogar schon verdoppelt. Ich sollte ein Konto in der Schweiz eröffnen. Aber dieser Akzent. Oder spricht man von einem Dialekt? Ich versteh die einfach nicht. Wie peinlich mir das immer ist, wenn ich einen Schweizer bitten muss, mit mir Englisch zu sprechen. Die halten mich für verrückt. Na ja, bin ich ja auch irgendwie. Aber trotzdem.
Jetzt steht die Arbeit an. Fahre mir über das Gesicht. Es ist nicht einfach, eine Drag Queen zu sein. Gut auszusehen, zu lächeln und charmant zu sein. Über den Charakter lässt sich natürlich streiten. Alle Drags sind so unterschiedlich. Die eine mit derbem Humor. Die andere liebevoll und warmherzig. Für mich soll es Glamour sein. Eleganz und Bewunderung. Ich möchte die ganze Aufmerksamkeit und entscheide selbst, ob und mit wem ich sie teile. Alles hört auf mein Kommando. Ich locke mein Publikum aus dem Alltag und imponiere ihnen. Das ist mein Job. Dafür muss alles passen. Und dazu gehört leider Gottes auch Sport. Wenn ich wählen könnte zwischen einer stets guten Figur, dafür dreißig Jahre weniger leben, oder einem langen Leben, doch dann mit Sport, würde ich mich für die dauergute Figur entscheiden. Eigentlich würde ich alles für eine gute Figur in Kauf nehmen. Was interessiert mich schon das Drumherum. Bereite mich auf meinen Überlebenskampf vor. Ich gegen die zwei Zigarettenschachteln am Tag. Manchmal auch drei. Je nachdem, ob Alkohol im Spiel ist oder nicht. Mein Arzt versucht jedes Mal, mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Ich verdrehe dann nur die Augen. Was für ein Komiker. Mehr Teer in der Lunge als auf der Straße. Ich sollte ihn glatt in meine Show einladen. Er könnte die meterlange Pergamentrolle mit meinen Krankheiten auspacken, was man sich halt in so einer Großstadt alles einfängt. Und das Ganze dann als Bingo: Wer auf die richtigen Krankheiten getippt hat, gewinnt drei Tage Wellnessurlaub. Ich bin mal wieder von meinen eigenen Ideen beeindruckt.
Fertig angezogen. Noch die Mütze auf. Perfekt! Beim Joggen sehe ich ganz normal aus. Neonpinke Schuhe. Leopardenleggins. Ein alter grauer Pulli und eine weiße Mütze. Schlicht und langweilig. Ausnahmsweise sieht man meinen Schritt. Das stört mich nicht. Das müssen die Leute um mich herum akzeptieren. Ich bin sowieso nur am Keuchen und Rennen. Total auf mich selbst konzentriert. Gehe noch schnell in die Küche. Ein kleiner Energieschub wäre gut.
»So. Was haben wir denn da Feines?«
Sebastião betritt die Küche.
»Na Süße, alles gut? Gehst du joggen?«
»Ja. Ich such nur noch …«
»Warte! Probier das hier mal aus.«
Er kommt näher und stößt mich zur Seite. Wühlt in dem bunten Farbenmeer aus Pillen und Kapseln herum und pickt ein paar heraus.
»So … schwarz, gelb und grün. Jamaika.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich wie Jamaika fühlen möchte.«
»Sei nicht so schüchtern. Das ist alles harmloses Zeug.«
Ich schaue ihm in die Augen. Er lächelt mich an.
»Ach, was soll’s.«
Schnappe mir Jamaika und kippe alles mit einem Glas Wasser herunter.
»So! Jetzt kann’s losgehen.«
»Viel Spaß, meine Kleine.«
Ich gebe ihm einen Kuss auf die Backe und stelle mir vor, ich wäre Rocky Balboa. Höre sogar die Musik in meinem Kopf. Meine Vorstellungskraft. Unfassbar. Verlasse das Gebäude.
»Der Leopard ist auf der Straße, Baby!«
Acht Minuten später
Ich sterbe! Ich kann nicht mehr. Ich breche gleich zusammen. Atme wie wild. Muss husten. Spucke auf die Straße. Scheiße! Meine Lunge tut weh. Mein Rücken. Auch die Beine. Die Gelenke. Mein Kopf. Einfach alles! Versuche, meine Mitmenschen auf mich aufmerksam zu machen. Humple auf sie zu und flehe sie an.
»Krankenwagen. Krankenwagen.«
Doch sind die Worte so leise und mein Keuchen so laut, dass ich mich selbst nicht verstehen kann. Sie laufen besorgt davon. Ich werfe mich auf einen bärtigen Mann. Er wird sauer und schubst mich weg.
»Verpiss dich, Alter!«
Ich bin fassungslos. In Momenten größter Not ist das die Reaktion meines sozialen Umfelds. Werde wütend und beiße die Zähne zusammen. Entwickle Hass gegen die menschliche Spezies. Irgendwie hilft mir das immer. Fühle mich schon etwas besser. Atme durch.
»Wow. Das war knapp.«
Mein Herz rast immer noch. Wie ein Presslufthammer. Rattattat. Oder ist das der neben mir? Zwei Männer bohren gerade ein Loch in den Boden. Einer schaut mich an. Er lächelt. Ich muss mich übergeben. Es kommt nicht viel raus. Ich hab heute noch nichts gegessen. Oh Mann. Das muss noch von der Party sein. Zum Glück nicht auf die Schuhe. Richte meinen Blick wieder nach oben. Jetzt lächelt der Typ nicht mehr. Er sieht etwas verwundert aus. Ich versuche zu lächeln, doch es kommt mir wieder hoch. Diesmal hat es die Spitze meines linken Schuhs erwischt. Huste. Mein Bauch tut weh. Mein Kopf langsam auch. Ziehe die Nase hoch und reibe mit dem Ärmel meines Pullis das Gesicht trocken. Wenn ich kotze, muss ich aus irgendeinem Grund immer weinen. Warum eigentlich? Das hab ich noch nie verstanden. Drehe mich um und laufe halbtot auf den Fernsehturm zu. Touristengruppen ziehen an mir vorbei. Der Geruch von Currywurst liegt in der Luft. Wieso jogge ich eigentlich zum Alex? Wundere mich über mein eigenes Verhalten. Ein asiatisches Pärchen wird auf mich aufmerksam. Der Finger der Freundin zeigt auf mich. Ihr Freund nimmt in Windeseile seine Waffe zur Hand: den Fotoapparat. Er schießt ein paar Bilder. Was für Fotos das wohl gibt? Ein fast zwei Meter großer Mann in pinken Schuhen und Leopardenleggins. Kotzend und weinend neben einer Currywurstbude direkt am Alex. Das könnte eine Postkarte sein. Darauf fett gedruckt: Berlin!
Ich gehe weiter. Auf einmal fühle ich mich merkwürdig. Ja, so ein Gefühl von Leichtigkeit. Alles wird plötzlich so leise um mich herum. Menschenmassen eilen an mir vorbei. Ich kann nichts mehr wirklich erkennen. Einzelne Gesichter, unscharf.