Der Bauernknecht und andere Geschichten. Hans Ernst

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Название Der Bauernknecht und andere Geschichten
Автор произведения Hans Ernst
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783475548918



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Mädchenklasse die Treppe herunter, die zum Turnsaal ging. Siedend heiß fiel mir ein, dass die Marille dabei sein könnte, und ich rannte in den Abort hinein, weil ich mich nicht schämen wollte. Im Abort habe ich lange geschussert. Wie ich mich dann einmal hinausschleichen wollte, ging gerade der Lehrer Stockerl aus seinem Klassenzimmer heraus und hustete zweimal hintereinander laut. Daraufhin kam auch das Mopserl heraus, und dann hat sie der Stockerl gleich in den Mund gebissen, was aber nicht weh getan hat, weil die Elfriede furchtbar kichern musste und zu ihm ›Xaverl‹ sagte, worauf er zu ihr ›Spatzerl‹ sagte. Dann hat sie ihn gebissen, und das hätte ihn beinahe umgeworfen, denn er hebte sich ganz fest an ihren Hüften ein.

      Wie die Pausenglocke geläutet hat, sind sie schnell wieder auseinandergelaufen. Im Schulhof draußen, wo sie im Kreis der andern Lehrkräfte stand, gab es ihr plötzlich einen Riss, als sie mich sah. Sie kam auf mich zu und sah mich ängstlich an, bis sie mich fragte: »Hab' ich dich nicht vor die Türe stellen lassen? Ich hab' dich aber nicht gesehn.«

      »Ich schon«, grinste ich.

      Flammend rot ist sie geworden, das gute Fräulein, und sie hat mir schnell ihr Pausebrot geschenkt, wo eine Wurst drinnen war.

      Hernach dann, als Fräulein Elfriede die Aufsätze durchlas und an den meinen kam, wechselte sie die Farbe. Bald wurde sie rot und dann wieder blass. Dann rannte sie schnell hinaus. Ich glaube, sie hat geweint. Und mir tat das so leid. Ich hätte mich am liebsten geohrfeigt. Aber ich hatte doch nur geschrieben, was ich beobachtet hatte.

      In der Folgezeit war ich dann ehrlich bemüht, sie nicht mehr zu ärgern. Nach den Ferien kam sie nicht mehr zu uns. Sie war an eine andere Schule versetzt worden, und ich hörte nie mehr etwas von ihr.

      Zu meinem fünfzigsten Geburtstag aber, über den der Rundfunk und auch die Presse berichteten, bekam ich einen Brief von Elfriede Fuchs. Sie schrieb mir, dass sie es wage, an mich zu schreiben. Sie hätte schon einige Bücher von mir gelesen und habe dabei immer an einen Schüler gleichen Namens denken müssen, den sie vor vierzig Jahren einmal in der vierten Klasse gehabt habe. Ob ich vielleicht mit dem identisch sei. Wenn nicht, so erlaube sie sich, mir trotzdem alles Gute zu meinem fünfzigsten Geburtstag zu wünschen und verbleibe mit freundlichen Grüßen, Elfriede Fuchs.

      Die Fuchsin, dachte ich, mein Gott, die Fuchsin. Und mir fielen all meine Streiche wieder ein. Ich antwortete ihr, dass ich schon derjenige sei, den sie meine und dass ich mir gestatten würde, sie einmal zu besuchen, wenn es ihr recht sei.

      Es wäre ihr sehr recht, schrieb sie zurück. Und so nahm ich eines meiner Bücher aus dem Regal und zwar den Roman »Der Lehrer von Tschamm« und schrieb als Widmung hinein:

      »Meiner hochverehrten Lehrerin aus der vierten Volksschulklasse in der Fürstenrieder Schule, in Dankbarkeit von Ihrem Hans Ernst.«

      Ich kaufte sieben Nelken und fuhr an einem sonnigen Märztag bei ihr vor. Sie wohnte noch in demselben Haus und in derselben Wohnung. Als ich läutete, klopfte tatsächlich mein Herz ein wenig schneller.

      Es öffnete mir eine alte Frau mit schneeweißem Haar. Aber ich erkannte sie sofort. Aus ihren Augen strahlte immer noch diese wunderbare Güte. Nur ihre Hände waren welk geworden und zitterten ein wenig, als sie in meinen Händen lagen.

      Dann saßen wir in ihrem Wohnzimmer. Nichts hatte sich verändert seit damals. Der große Ventilator hing noch an der Wand, der hohe, braune Kachelofen war noch da, unter den ich immer die Holzscheit' geschichtet hatte. Nur der Papagei war nicht mehr da. Wir sprachen von damals und nannten es die »goldene Zeit« womit wir wohl unsere entschwundene Jugend meinten, denn gar so golden war die Zeit damals auch nicht. Plötzlich fragte sie, ob ich mich noch manchmal an sie erinnert hätte.

      »Ja«, sagte ich, »besonders an ihre Güte.«

      »Nein, ich habe gemeint, ob du dich auch an meine Prophezeiung erinnert hast, dass doch niemals etwas Gescheites aus dir würde.« Plötzlich hielt sie sich die Hand vor den Mund, als sei sie über etwas erschrocken.

      »Verzeihung, ich sag' da ganz einfach Du zu Ihnen.«

      Ich weiß nicht, ob es andern auch so ergeht. Aber je später ich in den Abend hineinkomme, desto klarer steigen die Bilder der Vergangenheit in mir auf, beginnen zu glänzen und bewegen mich mit starker Eindringlichkeit, so dass ich meine, dies oder jenes sei erst gestern gewesen. Zum Beispiel, dass es bei uns daheim recht arm zugegangen ist. Wenn größere Anschaffungen zu machen waren, dann studierte meine Mutter immer die Stellenangebote in der Zeitung nach einem Zugehplatz. Und so ging meine Mutter in die Häuser reicher Leute zum Putzen. Mich nahm sie als Kind immer mit.

      Bei so feinen Leuten ging es viel nobler zu als bei uns. Die ließen uns schon spüren – nicht alle zwar, dass wir sozial unter ihnen standen. Aber es waren auch nette Leute darunter, die dem Buberl der Putzfrau auch einmal ein Bonbon schenkten.

      Einmal waren wir im Haus eines Bankdirektors. Meine Mutter sagte, dass man zu der Frau auch Frau Direktor sagen müsse. So klein ich auch war, aber ich dachte doch darüber nach, warum man zu der Frau auch Frau Direktor sagen müsse, wenn doch ihr Mann diesen Beruf ausübte. Außerdem war diese Frau Direktor gar nicht schön. Sie hatte ein Doppelkinn und eine Stupsnase, und ich konnte sie vom ersten Moment an nicht leiden, weil sie meine Mutter gleich fragte, ob sie nicht auch meine, dass fünfzig Pfennige in der Stunde für eine Putzfrau zu viel wären.

      Die Stupsnase hatte auch ein Töchterlein, das Mausi gerufen wurde. Die Mausi mochte mich und konnte so herzlich lachen, wenn ich sagte, sie solle nur Obacht geben, dass sie von keiner Katze gefressen werde, weil besonders die Kater die Mäuslein gern mögen zum Abendbrot. Aber ich würde sie schon in Schutz nehmen, wenn sie mir die Hälfte ihrer Schokoladentafel schenkte. Das tat sie dann auch.

      Ich durfte meist in der Küche in einem Winkel sitzen. Die Mausi war viel bei mir, aber das sah ihre Mutter nicht gerne. Aber die Mausi beharrte eigensinnig darauf und schrie:

      »Ich will beim Putzfraububi bleiben.«

      Ich mochte sie auch und lehrte sie sagen: »Bis dich der Teifi holt.«

      Damit meinte ich aber ihre Mutter, die ein rechter Geizkragen war. Der Bankdirektor war ein großer Mann mit einem dicken Bauch, einem blonden Vollbart, einer vaterländischen Gesinnung und einer tiefen Bassstimme. Manchmal setzte er sich ans Klavier, spielte und sang dazu »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« oder »Fern bei Sedan, auf den Höhen«.

      Einmal fragte er meine Mutter, welche Parteirichtung ihr Mann vertrete. Ob er vielleicht gar ein Sozialdemokrat wäre.

      »Nein«, sagte meine Mutter, »mein Mann ist Eisenbahner.«

      Meine Mutter verstand von der Politik nichts. Sie war mit der Lehre Christi zufrieden und mein Vater ein Königstreuer. Ihre Politik hieß Arbeit, Arbeit und wieder Arbeit. Sie kniete am Boden und schrubbte mit Wurzelbürste und Seifenlauge die Böden. Manchmal hing ihr eine Strähne ihres blonden Haares über das Gesicht. Dann schob sie die Unterlippe vor, blies die Strähne weg und kühlte damit auch ihre schweißtriefende Stirn. Sie tat mir immer in der Seele leid, meine schöne, zierliche Mutter, dass sie am Boden knien und fremder Leute Böden schrubben musste, und ich schwor mir, wenn ich einmal groß bin und Geld verdiene, dann braucht sie nie mehr zum Putzen gehen.

      Dann fuhren die Bankdirektors vier Wochen in Urlaub auf die Insel Sylt. Die Mausi weinte, weil sie lieber bei mir geblieben wäre. Aber ihre Mutter sagte, dass sie jetzt dringend der Erholung bedürfe. Ich verstand zwar nicht, warum sie Erholung brauchte, denn alle Dreckarbeit musste doch meine Mutter tun. Meine Mutter sagte nie, dass sie einen Urlaub brauche.

      Als ich mich von der Mausi verabschiedete, sagte ich zu ihr, dass sie nur Obacht geben solle, damit sie auf Sylt kein Kater fresse. In ihrer kleinen Herzensnot schenkte sie mir eine ganze Tafel Schokolade und bat, dass ich sie nicht vergessen solle, und sie würde mir aus Sylt schon was mitbringen, eine Muschel vielleicht oder ein Krebstierchen. Kinderliebe nennt man das. Manchmal ist so eine Kinderliebe sogar von Dauer. Manchmal fällt sie schnell wieder auseinander. Es ist auch schon vorgekommen, dass aus einem Kinderpaar ein Ehepaar geworden ist.

      Mir wäre himmelangst