Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2. Rudolf Walther

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Название Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2
Автор произведения Rudolf Walther
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895843



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zu behaupten, Hitler habe »das ganze Volk zum Werkzeug« seines Judenhasses gemacht und die industrielle Menschenvernichtung habe »in der Hand weniger« gelegen. Eine restlos trübe Passage war geeignet, den Revisionseifer der Historiker zu beflügeln: »Während des Krieges hat das nationalsozialistische Regime viele Völker gequält und geschändet. Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk«. Die Deutschen als Opfer ihres eigenen Krieges? Wenn dem so wäre, gäbe es hierzulande nur noch Opfer. Weizsäckers abgründigen Satz verrät ein Webfehler: Die anderen Völker erscheinen gleichsam als Komparativ (»gequält und geschändet«), wir aber sind der Superlativ (»gequält, geknechtet und geschändet«). Die anständig zelebrierte präsidiale Trauer hat ein vermeintliches Super-Opfer im Hinterkopf, um das sie vor allem trauert – und demaskiert sich allein damit als verlogen.

      Von Gustav Heinemann wissen wir, dass er seine Frau liebte, seine Kinder und seine Freunde, aber nicht den Staat, das Land oder gar die nation introuvable. Nach 1989 und speziell bei B. Seebacher-B. ist das natürlich ganz anders. Nichts findet sie süßer als den Traum, auch hier wieder einmal mit »Trauer« und Horaz’ obligatem »Stolz« vor einem jener meist grässlichen Kriegerdenkmale stehen zu dürfen, die man tatsächlich in jedem französischen Nest antrifft und auf denen für 1870/71, 1914/18, 1939/45, 1946/54, 1958/62 unentwegt »pour la patrie« gestorben wird. »Die« Franzosen brauchen den Firlefanz nicht. Aber die französischen Regierungen jeder Couleur beherrschen die Klaviatur des nationalistischen Pathos, mit dem man je nach Lage der Dinge gegen Einwanderer aus dem Maghreb, »boches«, Maastricht oder die deutsche Bundesbank mobil macht, um von der hausgemachten Misere abzulenken. B. Seebacher-B. nimmt den versteinerten Schwachsinn (mort pour la patrie) als Vaterlandsliebe ernst, »ohne die nichts oder nicht viel gelingen und kein noch so großer Geldtransfer Wirkung zeigen kann«. Als Frau hat sie eine etwas größere Chance, sich an Heldengedenktagen vom süßen Traum an tote, aber virile Kerle durchschütteln lassen, während man als Mann aller historischen Erfahrung nach halt nur zu jenen gehören dürfte, die im »Ernstfall« bereits von unten her zuschauen, wie die oben wieder einmal auf »Volkstrauertag« machen.

      Aber wir sind dankbar: Seit uns K. H. Bohrer während des Falklandkrieges der Baronin Thatcher daran erinnerte, woran es uns Schlappschwänzen gebricht (»höheres Ethos, letzte causa und brinkmanship«), haben wir derlei nicht mehr gelesen, nicht einmal in der FAZ, die uns anlässlich des Golfkriegs »härtere Zeiten« (16.2.91) androhte.

      Aber das ist nur der harmlose Anfang des Volkstrauerspiels. B. Seebacher-B. rückt den Toten und den Lebenden direkt auf den Leib, vor allem aber dem Volk, das seine »innere Einheit, die zeitlos ist und anderes bedeutet als die Angleichung von Lebensverhältnissen«, einfach vergessen hat. Kaum aus der Volksgemeinschaft der Nazis und der Zwangskommune DDR entkommen, verleugnet doch dieses deutsche Volk (nebenbei: eine sehr zeitgebundene Erfindung von 1813), unter der »geistigen Herrschaft« des Antifaschismus (Globke, Oberländer, Filbinger, Kiesinger e tutti quanti?) die »innere Einheit«, die vor allem deshalb den Stempel »zeitlos« verdient, weil es sie gar nie gegeben hat. Mit der Verabschiedung vom Trugbild Nation und Volksgemeinschaft sind die BRD-Deutschen nicht etwa normal geworden nach ihrem Horror-Trip seit 1871, sondern haben sich ein »Ausnahmebewusstsein« zugelegt, »das uns noch heute wie Blei auf der Seele liegt und nicht nur die Selbstvergewisserung nach außen behindert, sondern auch nach innen«.

      Spätestens mit dem Blei wird die Sache ernst, denn dabei denken wir eher an die Millionen Toten, denen das Blei vielleicht auch »auf der Seele liegt«, aber mit Sicherheit vorher den Körper zerfetzt hat. Die Normalität, die B.Seebacher-B. beschwört, ist ganz anders: »Stolz«, »Vaterland«, »Härte« und – mit »Blei« und der Logistik von Verteidigungsminister Rühe – »Selbstvergewisserung nach außen«. Von der wilhelminischen Parole vom »Platz an der Sonne«, mit der man Bürger und Proletarier nach 1900 verblendete und zu Hurra-Patrioten machte, steigen wir jetzt um ins Kanonenboot »Seebacher-Rühe« und brechen auf zur »Selbstvergewisserung nach außen«.

      Der Antifaschismus, der nicht illegitim wurde, weil ihn die SED als Herrschaftsmittel und Staatsideologie instrumentalisierte, verleitete nach B. Seebacher-B. die westlichen Sonderweg-Deutschen zum Grübeln über die Vergangenheit und obendrein dazu, »sich am eigenen Unglück zu weiden«. Statt forsch loszumarschieren und »sich auf Sinn und Zweck des Ganzen zu verständigen«, um nach innen und außen »Selbstvergewisserung« zu betreiben, »klammert man sich« hausbacken an Antifaschismus. Die Antifaschisten verhindern also direkt, dass es mit der Finanzierung der Einheit vorangeht; sie sind verantwortlich dafür, dass »nicht gelingen kann, was nicht gelingen darf«, wie sie noch einmal – in direkter Anlehnung an Nolte – formuliert.

      Über einen zwanzigzeiligen Abschnitt, in dem B. Seebacher-B. sechs Mal mit dem Begriff »Normalität« herumfuchtelt, kann ich gar nichts sagen, außer dass ich ziemlich froh bin, nicht zu den Normalen zu gehören, denen der syntaktisch vertrackte und total-normale Rat gegeben wird: »Wer sich nicht als Deutscher fühlt, wird nie lernen, ein Europäer zu sein und der Welt zugewandt«. Albaner, Finnen und Portugiesen sollen bereits wie verrückt Deutsch lernen, Le Monde, Times und der Corriere della Sera erscheinen ob dieser Drohung ab sofort in deutscher Sprache, damit deren Leser nicht ausgebürgert werden aus dem Seebacher-B.-Europa.

      Alpinisten wissen: Wer einen steilen Einstieg wählt, stürzt eher ab. B. Seebacher-B. nahm die Vaterlandsroute und strauchelte schon beim fünften Schritt über die vermeintlich unbeantwortbare Frage, »für welches deutsche Vaterland ... die Armee preisgegeben« worden sei. Preisgegeben? Wer wen? Dass Teile der Armee sich keiner bis jetzt bekannt gewordener Verbrechen schuldig gemacht haben, ändert natürlich gar nichts an der wissenschaftlich erhärteten Tatsache, dass zwischen Hitlers Herrschaft und dem ganz überwiegenden Teil der Wehrmachtführung kein Haar Platz hatte. Der mainstream arrangierte sich nach unwesentlichen Reibungen zu Beginn bestens mit dem Gefreiten als neuem Chef. Der Widerstand war ehrenwert, aber doch bescheiden.

      Weil der Widerstand so minimal war, versuchen Pfiffige immer wieder den Umweg über den »nationalen Verrat«. Wie allerdings die tonangebende »nationale Opposition« (wie NSDAP und Deutschnationale sich nannten), die im Juli 1932 fast 45 % der Stimmen erreichte, ausgerechnet »nationalen Verrat« begehen sollte (an sich selbst?), nachdem sie im Januar 1933 an die Macht gekommen war und unter dem Beifall einer nicht mehr messbaren, aber auf jeden Fall deutlichen Mehrheit Deutschland zügig deutscher machte, bleibt ein Geheimnis. Im Detail liegt B. Seebacher-B. fernab von Tatsachen und behauptet z. B., sozialdemokratische Opfer des Terrors fehlten in »jeder Aufzählung«. Das Gegenteil ist richtig: Jedes halbwegs anständige Buch über die Naziherrschaft enthält detaillierte Angaben – verleugnet oder vergessen werden da schon eher andere (Sinti, Roma, Russen, Polen, Kommunisten und Schwule).

      Schon vor derlei Proseminar-Kapriolen stürzte die Rednerin ins Bodenlose, wie jeder, der noch glaubt, mit der Nation festen Boden zu betreten: »Aber zu gedenken ist – aller Opfer, die in diesem Jahrhundert in deutschem Namen gebracht wurden«. Wem hat zunächst die kaiserliche Armee, dann die Wehrmacht welche denkwürdigen »Opfer gebracht«? Die jetzt zu erwartende erneute historische Revision, dieses Mal unter dem Banner der »Ideen von 1989« kündigt sich einigermaßen flott an mit der Umwidmung deutscher Angriffskriege zum Opfergang. Genau diesen Verdacht hatten wir immer schon bei den Veranstaltungen unter der Firma »Volkstrauertag«. Es ging nie um die wirklichen Opfer, weder um die eigenen und schon gar nicht um die fremden, sondern um ein staatliches Trauertheater, in dem die Niederlagen in zwei selbst provozierten Kriegen »zustimmungs- und gemeinsinnsfähig« (Lübbe) inszeniert wurden. Und weil man an Niederlagen ungern einfach als Niederlagen erinnern mochte, wählte man namenlose Opfer als Staatsfeierstunden-Dekoration. Diese kann man – Schützen und Erschossene amalgamierend wie in der verlogenen, seit 1969 offiziellen Formel von den »Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« – risikolos als die »in diesem Jahrhundert in deutschem Namen gebrachten Opfer« instrumentalisieren. Das erklärt auch die von B. Seebacher-B. pompös als Ouvertüre präsentierte Fanfare von der Einzigartigkeit der Veranstaltung (»Kein anderes Volk der Welt hat sich je vorgenommen, an einem einzigen, regelmäßig wiederkehrenden Tag seine Toten zu betrauern«). Welcher andere (Nachfolger-)Staat muss einen ganz und einen maßgeblich verschuldeten Weltkrieg als Opfergang kaschieren?