Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2. Rudolf Walther

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Название Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2
Автор произведения Rudolf Walther
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895843



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rechnen dürfen, wenn die Bonner – unter Mithilfe der SPD – erst einmal die Verfassung ausmisten oder einfach umgehen. Genau wie bei dem von Jürgen Habermas zum Thema gemachten Bestreben von konservativen Historikern zur »Entsorgung der Vergangenheit« geht es jetzt um die Verklappung des historisch bedingten Verfassungs-»Ballasts« im Meer des Vergessens.

      Man kann das getrost Normalisierung nennen, denn das historisch ahnungslose Geschwätz, es gehe heute darum zu vermeiden, dass die BRD auf einen »Sonderweg« gerate, meint ja nur: Was den USA, Großbritannien und Frankreich recht ist, soll uns endlich billig sein. Bonn als gleichberechtigter Co-Sheriff? Klar! Lamers, der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, redet bereits von »großer innerer Stärke« (taz 25.1.93), die erforderlich sei, deutsche Soldaten irgendwo in der Welt für bestenfalls unklare Ziele und allemal trübe Interessen sterben zu lassen. Wer noch nicht völlig trunken ist vom »Verantwortungs«-Fusel, sollte sich von einem zurechnungsfähigen nordamerikanischen Intellektuellen sagen lassen, was man drüben unter »Verantwortung« versteht – ungefähr seit der Präsidentschaft von Monroe (1817-25): »Bei jenen Amerikanern, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, den Rest der Welt über seine Pflichten aufzuklären, bedeutet Verantwortung schlicht bedingungslose Unterstützung jedweder Politik, die Washington gerade betreibt – Unterstützung auch dann, wenn diese Politik von einem Augenblick auf den anderen in ihr Gegenteil verkehrt wird« (Norman Birnbaum, Die Zeit 21.6.1991).

      Schon im Januar/Februar 1991, als Saddam Hussein auf Wunsch von deutschen Intellektuellen als Hitler auftrat, mahnte die FAZ ganz nüchtern »härtere Zeiten« an. Lange bevor ein deutscher Professor »den Lehrmeister Krieg« aus dem Bücherregal kramte und ein anderer im Versagen von Elternhaus und Schule die Ursache für die brennenden Häuser in Mölln fand, stellte die FAZ den Wegweiser auf: »Welcher Politiker, gar welcher Lehrer denkt darüber nach, wie man Kinder erzieht in einer Kultur, die sich behaupten muss? Welche Tugenden, die in härteren Zeiten nötig sind, haben die Deutschen noch nicht verächtlich gemacht?« (FAZ 16.2.1991). Wie gesagt, nicht Militärs und Politiker reden vom nächsten Krieg, sondern akademisches und journalistisches Meinen schwadroniert schon mal über die präventive Einübung kriegstauglicher Tugenden. Lehrpläne mit interventionsgerechten (und ausländerresistenten) Tugenden sind schnell hervorgekramt: »nationale Interessen«, »positive Werte«, »Blut und Eisen«, »deutsche Ehre«, »Pardon wird nicht gegeben«, »Erziehung in Langemarck« und in »Stahlgewittern« – auf zum nächsten Gefecht. Die intellektuelle »Selbstverstümmelung« (Lothar Baier), schon seit der Wende Anfang der 80er Jahre unter dem Label »Ende der Utopie« propagiert, ist der Hit in der laufenden Spielsaison des Meinungsbetriebs.

      Als die Baronin Thatcher noch regierte, konnte man regelmäßig hören, dass es Individuen und Staaten gebe und sonst nichts: »Ich kenne keine Gesellschaft.« Der digital konditionierte Verstand der gelernten Chemikerin duldete nur Eindeutiges, das heißt Zweipoliges: organisch oder anorganisch, basisch oder sauer. Politisch gewendet: privat oder staatlich. Nichts war ihr deshalb so suspekt wie die Zone des Dazwischen, zum Beispiel die gesellschaftliche Macht von Gewerkschaften. Die gesellschaftliche Macht von Privateigentümern an Grund und Boden, Produktionsmittel – kurz Kapital – entging ihr freilich.

      Die Verachtung der Gesellschaft teilt Baronin Thatcher mit den deutschen Rechten, denen die Gesellschaft notorisch als Ausgeburt der Französischen Revolution galt und deshalb von Adam Müller bis Carl Schmitt gar nicht oder herablassend behandelt wurde. In den Köpfen der zeitgenössischen Publizisten und Wissenschaftler hat die Gesellschaft dagegen einen Stammplatz. Allerdings geht es heute nicht mehr um die Gesellschaft telle quelle, mit der sich die Theoretiker seit Comte, Hegel und Marx herumschlugen. Den heutigen Autoren hat es die Gesellschaft mit dem kleinen Unterschied angetan – die Gesellschaft als Kompositum.

      Nach der Konjunktur der Bindestrich-Soziologien in den sechziger Jahren begegnet uns nun eine Inflation von Titeln, die zusammengesetzte Wörter mit Gesellschaft wie eine Flagge gehisst haben. Komposita zu bilden, ist ein Legospiel mit Begriffen: Erlebnis-, Auto-, Männer-, Konsum-, Zweidrittel-, Surfer-, Industrie-, Versöhnungsoder Kommunikationsgesellschaft. Die Gesellschaften-Inflation ist umso erstaunlicher, als substantielle gesellschaftliche Verbindungen zwischen Individuen in Vereinigungen, Vereinen, Clubs und so weiter überall von der Übermacht der herrschenden Verhältnisse bedroht sind. Staatliche, wirtschaftliche und mediale Großagenturen walzen gesellschaftliche Beziehungen platt oder unterwerfen sie von oben oder von außen, diktieren Spielregeln und Zwecke. Die Pointe: Die Konjunktur der Bindestrich-Gesellschaften läuft parallel mit der »Entgesellschaftung« der Realität und Vereinsamung vieler Menschen.

      Weil das Ganze der Gesellschaft diffus geworden ist, greift sich jeder einen Teil und erklärt diesen im Handstreich zum Ganzen. Das ist zwar wissenschaftlich gesehen grobianisch, gereicht aber den Autoren zur Ehre, gemessen an der Zahl ihrer Veröffentlichungen. So erfahren wir von Saison zu Saison neu, in welcher Gesellschaft wir leben. Und weil es die marktwirtschaftliche Konkurrenz so will, existieren wir gleichzeitig in mehreren, sich nach Preis und Niveau gegenseitig über- und vor allem unterbietenden Komposita-Gesellschaften. Wo die einen noch auf die Arbeitsgesellschaft schwören, tummeln sich andere bereits in der Erlebnisgesellschaft; Ökologen beklagen noch die Wegwerfgesellschaft, während ein Professor schon in den Zug Richtung Reparaturgesellschaft umgestiegen ist.

      Das Planungsdezernat einer Stadt schwärmt für die Vorturner der Dienstleistungsgesellschaft, aber im Kulturdezernat projektiert man lieber nach den Imperativen der Kulturgesellschaft. Oder auch umgekehrt. Ganz vorne marschiert wie immer die Harvard Business Review. Sie proklamiert die »post-capitalist society«. Die Grammatik erlaubt die Konstruktion beliebiger Komposita und – als deutsche Spezialität – deren fugenlose Verleimung. Womit das Wort Gesellschaft zusammengelegt wird, ist ebenso sekundär wie gleichgültig. Kein noch so dünner Gedanke nistet zwischen den Bestandteilen. Bis hin zum dreifach aufgepeppten Weißest-Schimmel der »zivilen Gesellschaftsgesellschaft« ist noch allerlei drin an product-design. Wir warten einstweilen auf Ulrich Becks »Na-und-Gesellschaft« als Ersatz für die angestaubte »Risikogesellschaft«. Ein paar akademische Prachtblüten sind im Folgenden zu besichtigen.

      Was schlüsselte uns die »Informationsgesellschaft« besser auf als deren Verkleidung als »keyboard society«? Damit wissen wir zwar immer noch nicht, was das Getriebe zusammenhält und wovon wir Keyboarder leben, aber der Society-Designer Norbert Bolz hat den Durchblick: »Man trifft nur noch auf Benutzeroberflächen«. Die aufklärerische Warnung, Menschen niemals als Mittel zu betrachten, ist vom Tisch. In der »keyboard society« sind wir uns selbst und allen anderen gegenüber gleichberechtigte »Tasten« oder »Benutzeroberflächen«. Das Zeitalter »reflexiver Modernisierung«, das man uns ausmalt, fordert seinen Eintrittspreis. Offenbacher Professoren der Hochschule für Gestaltung trieben es bunter beim Fischen im Trüben. Sie angelten die Idee der »Schnittstellengesellschaft« von der Festplatte. Allerdings ist diese Gesellschaft vorerst mehr Wunsch denn Realität; der »Schnittstellengesellschafter« soll »schräg denken und handeln«. Warum hat man sie nicht gleich »Gesellschaft« oder »backslash society« genannt – kürzer, prägnanter und weniger deutsch, international verwertbar? Hinreißend fanden wir auf Anhieb die »ruderale Trittgesellschaft«, aber die Rückfrage bei einer kundigen Biologin klärte uns darüber auf, dass es sich dabei nicht um ein Pflänzchen aus dem Soziologengarten handelt, sondern um einen wissenschaftlichen Terminus aus dem Bereich der Geobotanik. Schade.

      Besonderer Beliebtheit erfreute sich die »Zivilgesellschaft«. Die unbegriffene Gegenwart sollte gebannt werden im begriffslosen Wort. Kritisch gesehen war die »Zivilgesellschaft« eine Totgeburt, nur die Hebammen und Geburtshelfer wollten es nicht glauben und versuchten verzweifelt, dem Konzept Leben einzuhauchen.

      Zur Herkunft: Mit einer Hand schöpfte man aus der amerikanischen Debatte um Autoren wie Charles Taylor, Michael Walzer und anderen über die Rekonstruktion der »civil society« angesichts von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Trends in der US-Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Die als »communitarians« / »Gemeinschafter« bezeichneten Autoren erarbeiteten für die von Gesellschaftsauflösung bedrohten amerikanischen Zustände Rezepte, um das demokratische Gemeinwesen wiederzubeleben. Alte und neue normative Begriffe