Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2. Rudolf Walther

Читать онлайн.
Название Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2
Автор произведения Rudolf Walther
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895843



Скачать книгу

dem Untergang von Parteiherrschaft und Staatssozialismus. Die kommunistische Herrschaft akzeptierte – wie die Baronin Thatcher – nur Staat und Individuum. Die beiden Debattenstränge haben nur wenig gemeinsam und orientieren sich an grundsätzlich verschiedenen Verhältnissen, Problemen und Zielen. Die eilfertige Übernahme des Diskurs-Jetons »Zivilgesellschaft« war deshalb von Anfang an höchst problematisch. Obendrein spielten reale Interessengegensätze und wirtschaftlich-kapitalistische Zwänge, auf die jede Demokratisierung aufläuft, in der hochgradig ideologisierten deutschen Debatte praktisch keine Rolle.

      Erst recht zum Rohrkrepierer wurden die historischen Anleihen, mit denen die Diskussion aufgepeppt werden sollte. Schon die Übersetzung von »civil society« mit »Zivilgesellschaft« ließ mehr schlechten Geschmack als historische Bildung erkennen. Wer käme auf die Idee, analog dazu, das »bellum civile« / »Bürgerkrieg« mit »Zivilkrieg« wiederzugeben? Drall-Deutschen fiel auch noch das Wort »Zivilheit« ein, obwohl das unübersetzbare italienische »civiltá« von seinem realen Kern »civis« / »Bürger« natürlich nicht abzutrennen, sondern nur im jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext einzulösen ist.

      Alle Versuche, der »Zivilgesellschaft« mit dem Hinweis auf den alten Begriff »societas civilis« / »bürgerliche Gesellschaft« höhere Weihen anzudienen, scheitern an dem schlichten Tatbestand, dass die alte »societas civilis« bzw. »politiké koinonía« von Aristoteles bis zur Französischen Revolution mit der modernen Gesellschaft gar nicht, mit den zwischen Antike und Ancien Regime entstandenen diversen Staatsformen jedoch sehr eng zusammenhängt. Vereinfacht gesagt: Bis dahin war die »bürgerliche Gesellschaft« die Vereinigung der rechts- und politikfähigen Männer, virtuell der »Staat«. Soweit »Zivilgesellschaft« also auf die vorrevolutionäre »societas civilis« / »bürgerliche Gesellschaft« zielt und dort staatsfreie Räume ausmachen möchte, ist das Konzept nichts weiter als eine Projektion. Da taugt auch der Hinweis auf Adam Fergusons »Essay on the History of Civil Society« (1767) nichts, weil »civil society« dort fast durchweg den Staat meint und nur ganz selten auch das, was heute bürgerliche Gesellschaft heißt.

      Mit der historischen Situation, in der die Debatte hier begann, hängen ihre politischen Implikationen zusammen. Der Chip »Zivilgesellschaft« diente Protagonisten mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen theoretischen Vorstellungen als Krücke. Die einen brauchten diese, um sich von ihren ehedem sozialistischen Vorstellungen ins Post-Stübchen westlicher Gemütlichkeit verabschieden zu können, weil sie nach 1989 mit jenen Vorstellungen nichts mehr zu tun haben wollten. Andere benützten die Krücke, um ihre überkommenen Vorstellungen kundenfreundlich aufzupolieren und sprachen vom »zivilgesellschaftlichen Sozialismus«, der nun an die Stelle des abgehalfterten zu treten habe.

      Die gesellschaftlichen Realitäten und die ihnen täglich entweichende Gewalt haben das Konzept »Zivilgesellschaft« nun in den Orkus befördert.

      Dass wir als Tote Gleiche sind, darf nicht verlängert werden zur Vorstellung, dass jeder Tod gleich sei. Ein Skandal ist, wie Elias Canetti meint, jeder Tod. Aber das setzt Hingeschlachtete noch lange nicht gleich mit den – wie es heißt – »im Krieg Gefallenen«, und sei es als »Verteidiger« Gefallene. Für die meisten Kriege und für alle Bürgerkriege ist die Unterscheidung von – militärisch verstandenen – Angreifern und Verteidigern so ideologisch borniert wie jene zwischen guten und schlechten Nationalisten, guten und schlechten Faschisten, guten und schlechten Stalinisten oder guten und schlechten Nationalsozialisten. Es mag der zum Kriegsdienst eingezogene Landser so schuldlos sein wie nur denkbar, sein Tod ist nicht identisch mit jenem von generalstabsmäßig oder durch marodierende Soldatenhaufen ermordeten Zivili sten.

      Und dass ein Gewehr ein Gewehr bleibt, unabhängig davon, wozu es gebraucht wird, darf nicht zur Vorstellung werden, dass jede Gewaltanwendung gleich sei. Pazifismus bedeutet nicht Gewaltlosigkeit à tout prix. Konsequenter Pazifismus muss Gewalt in Kauf nehmen – allerdings in klar bestimmten Relationen von politischen Zielen und Mitteln, in kalkulierbarer militärisch-politischer und humaner Verhältnismäßigkeit.

      In welcher Relation politische Ziele, verwendbare Mittelarsenale und humane Verhältnismäßigkeit in der Konstellation des Bürgerkriegs auf dem Balkan stehen, hat bislang niemand klar dargelegt – weder von politischer noch von militärischer Seite. Von alldem unberührt zeigen sich berufsmäßig Alarmierte. Politiker und Talker mit Flair fürs notorisch Falsche (»jetzt oder nie«) sowie fürs historisch Schiefe wie dem Vergleich der Belagerung bosnischer Städte durch die serbische Soldateska mit der nationalsozialistischen Vernichtung des Warschauer Ghettos. Selbst wenn der alternde Marek Edelmann solche Vergleiche anstellt, werden sie nicht stichhaltiger.

      Die vom Krieg und Bürgerkrieg heimgesuchten Menschen benötigen vieles. Am entbehrlichsten sind Aufrufe. Den bedrängten und bedrohten Menschen hilft man nicht mit Aufrufen, sondern mit der Organisation von Hilfe, mit der Aufnahme von Flüchtlingen und mit der Mobilisierung der hiesigen Bevölkerung gegen die Regierungspolitik (zunächst des forschen Anerkennens, dann des allzu langen Abwartens). Rechtzeitige militärische Ultimaten, kombiniert mit einer intelligenten Einbindung der Medien, wie sie der französische General Morillon auf dem Balkan pflegte, haben den Menschen mehr und wirksamer geholfen als die Entrüstungsrituale hierzulande. Dagegen stumpfen die dramatisierenden, brutale Bilder des Fernsehens noch überbietenden Parolen in der Presse (»Völkermord«, »Genozid«, »Warschauer Ghetto«) nur ab und bieten keinerlei Aufklärung über Krieg und Bürgerkrieg.

      Was für ein Bild der Zustände haben in den letzten Wochen die Medien vermittelt? Aus trüben, restlos unüberprüfbaren Quellen kam die Meldung von Tausenden von Ermordeten in Gorazde (»von Leichen bedeckte Straßen, wohin man sieht«; »Blutbad in den Straßen«); ein verständlicherweise dramatischer Hilferuf des Bürgermeisters von Gorazde und ein paar andere Funksprüche wurden medial verstärkt. Als die Blauhelme endlich in die Stadt gelangen konnten, korrigierten sie die Opferzahlen zuerst auf 715 (Frankfurter Rundschau vom 26.4.94), dann auf 250 (Süddeutsche Zeitung vom 27.4.94). Das macht das Verbrechen der serbischen Soldateska zwar geringer, aber nicht tolerierbarer. Von höherer Warte erschallen die rechtfertigenden Gesänge: »Der britische UNO-General Rose ärgert sich über die bosnischen Muslime in Gorazde: Sie hätten die Zahl ihrer Toten und Verwundeten übertrieben ... In einer umzingelten Stadt breitet sich eine Psychose aus, die nach einer Weile auch zu verkehrten Vorstellungen über die Opfer in den eigenen Reihen führt; anders kann es nicht sein« (FAZ vom 29.4.93).

      Statt aufklärender und gegenüber allen Quellen kritischer Information boten die Medien Bürgerkriegs- beziehungsweise Kriegspropaganda. Sie lieferten damit der serbischen Seite das Rohmaterial für die Durchhalteparolen und die Behauptung frei Haus, die westlichen Medien hätten sich gegen Serbien zu einer mit allen Mitteln kämpfenden Front verschworen. Und beim hiesigen Leser und TV-Zuschauer erzeugt man mit solcher Nachrichtenzurüstung keine Solidarisierung und Mobilisierung, sondern allenfalls Ohnmacht und Resignation. Übertriebene Schreckensmeldungen sensibilisieren das Publikum nicht für das, was passiert ist, und das, was dagegen getan werden müsste – also forcierte Hilfe, Flüchtlingsaufnahme, Verhandlungen und kalkulierte Androhung militärischer Gewalt –, sondern entmutigen es. Erst recht seltsam berührt in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die weit größeren Zahlen an Opfern in den Kriegen und Bürgerkriegen im Sudan, in Ruanda und anderswo nur kurzfristig in unsere Medien gelangen. Hängt dies damit zusammen, dass diese Schauplätze fernab Europas liegen, oder sollte für jene Opfer gar gelten, dass sie uns doch nur schwarze, ungleiche Tote sind?

      Geschichte ereignet sich zweimal – einmal als Tragödie, dann als Farce. Wird dieselbe Geschichte mehrfach erzählt, darf man sich wundern oder nach den Motiven fragen. Mit der Eröffnung der Neuen Wache als zentraler Gedenkstätte (»mies, medioker und provinziell«, Reinhart Koselleck) und einer Rede von B. Seebacher-B. zum Volkstrauertag werden die Bemühungen zur Begradigung der deutschen Geschichte erneut aufgenommen. So viel zum unausgesprochenen Teil der Motive. Der Rest spricht für sich selbst.

      E. Nolte schrieb 1986 einen Artikel (FAZ 6.6.86),