Nur der See sah zu. Herbert Dutzler

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Название Nur der See sah zu
Автор произведения Herbert Dutzler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783709939499



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hole tief Luft und sehe mich in der Gruppe um. Vom Feeling her würde ich sagen, wir sind auf die Hälfte geschrumpft. Ich vermisse neben dem Numismatiker und dem karierten Flanellhemd den Schlacks mit den Golferhosen und das nette Ehepaar aus irgendwo hinter Wien. Na, man kennt das ja, bei Führungen kommen immer mal wieder welche abhanden, weil ihnen die Puste ausgeht oder weil sie tot im Baum hängen oder weil die Führung jetzt nicht so wahnsinnig prickelnd ist. Man könnte auch einfach das Faltblatt des Achensee-Tourismusbüros mitnehmen und unterwegs selber nachlesen, was man sieht, da hätte man mindestens ebenso viel davon und müsste nicht mit völlig Fremden Schritt halten, aber das sage ich natürlich nicht. Fremdenführer und -führerinnen wollen ja schließlich auch leben und ihr Auskommen finden. Wo immer die Abgängigen geblieben sein mögen, es ist mir egal – alle haben im Voraus auf dem Parkplatz bezahlt, und Rückerstattungen gibt es nicht.

      „Ich frage mich, wo mein Herrmann bleibt“, ruft die Numismatikergattin. „Vielleicht sollte ich mal nach ihm sehen.“

      „Nein, bitte, die Gruppe muss zusammenbleiben.“ Ich packe sie fest am Ellbogen und hoffe, es gibt keine blauen Flecke. „Ihr Mann wird uns schon einholen. Und der Weg ist ja exzellent ausgeschildert. Sehen Sie, dort.“

      Ich zeige auf das Schild. BESINNUNGSWEG.

      Zögernd nickt sie.

      Um sie abzulenken, sage ich: „Durchzählen!“

      „Wie bitte?“, ruft die Greisin.

      „Durchzählen!“, wiederhole ich lauter.

      „Das ist doch albern“, erklärt ein Anfangdreißiger in stylischer, atmungsaktiver Designer-Sportswear.

      „Durchzählen!“ Ich kann auch streng.

      „Eins“, entfährt es dem Anfangdreißiger verschreckt.

      Wir kommen auf vierzehn. Jetzt bin ich mir sicher, dass wir unterwegs sechs verloren haben, denn bezahlt haben zwanzig.

      „Und wir gehen weiter!“, rufe ich und treibe meine Herde voran.

      Nächste Station: Wir sind alle in Gottes Hand. Stimmt, denke ich, während die anderen wie wild das Panorama fotografieren. Die Hand ist rot angerostet, blutrot. Das bekümmert aber sichtlich keinen. Oh, diese Ahnungslosen.

      Carpe diem, kann ich da nur sagen, nutze den Tag. Man sollte jeden Morgen so aufstehen, als wäre es der letzte. Schneller, als einem lieb ist, tritt dieser Fall nämlich tatsächlich ein.

      Im Faltblatt steht für diese Station: Er lässt die Sonne aufgehen über Gute und Böse. Ich kenne ja jetzt die einzelnen Mitwanderer nicht persönlich, aber ich tippe mal, von denen sind nicht alle gut. Ich bin es beispielsweise nicht. Dass ich hier und heute die Führerin abgebe, ist allein darin begründet, dass ich beim Streichholzziehen das kürzeste Streichholz gezogen habe. Aber das lasse ich meine Gruppe nicht merken. Ich bin ja Profi. Ich spiele quasi oscarreif die engagierte Besinnungswegführerin.

      „Haben alle die sensationelle Aussicht fotografiert?“, rufe ich und zähle durch. Dreizehn. Ja, definitiv, es fehlt schon wieder einer. Ich tue natürlich so, als wäre nichts. Die Seniorin guckt misstrauisch, sieht mich an und schüttelt den Kopf. Vermutlich denkt sie, die Leute hätten sich klammheimlich abgeseilt, weil sie meine Führung so furchtbar finden. Die kann mich mal, die Alte. Die wird schon noch merken, dass ich mit dem Verschwinden dieser Leute nichts zu tun habe.

      Forsch rufe ich: „Und wir gehen weiter!“

      Beim Gekreuzigten bleiben wir wieder kurz stehen. Zwei junge Frauen haben Blumen mitgebracht und stecken sie der Holzfigur jetzt in die ausgestreckte rechte Hand. Eine nette Geste.

      Der Gekreuzigte sieht anders aus, als man ihn sonst so kennt, ist glatt rasiert und trägt ein Goldkäppi. Er erinnert mich irgendwie an einen Ägypter aus dem Hollywoodkolossalstreifen Die zehn Gebote. Der Mitwanderer im Pastellpoloshirt hat entfernte Ähnlichkeit mit dem Hauptdarsteller Charlton Heston. Ich lächele ihm erneut kokett zu. Man darf ja bei der Arbeit auch mal Mensch sein. Immerhin er ist noch übrig. Der Bommelmützenmann mit der Kamera ist jetzt nämlich auch weg. Da waren’s nur noch zwölf. Das fällt auch der Lehrerin auf.

      „Fehlt da nicht einer?“, ruft sie laut. „Der mit der Kamera?“

      Ich nicke lässig. „Ja, er wollte sicher noch ungestört ein paar Aufnahmen vom Panorama machen. An der Hütte wird er uns schon einholen.“

      „Bestimmt wartet er auf meinen Herrmann. Einer muss es ja tun“, sagt die Numismatikergattin, und es klingt vorwurfsvoll.

      Der Vorwurf ist gegen mich gemünzt. Das kratzt mich nicht. Ich lächele sie milde an, weil ich so eine Ahnung habe, dass Herrmann, der Numismatiker, längst genüsslich mit einem Schweizermesser filetiert wurde und tot über der Schale mit den Münzen liegt. Den Bommelmützenmann vermute ich erschlagen unter einem Steinhaufen. Fröhlich rufe ich: „Und wir gehen weiter!“

      „Bitte aufschließen!“, rufe ich an der nächsten Station, weil wieder ein paar ins Bummeln geraten sind. Mir liegt aus verschiedenen Gründen wirklich viel daran, dass die Gruppe als solche zusammenbleibt.

      „Ach, wie herrlich!“, tönt die Seniorin. Wir sind an die Pension Dienmut gelangt, einen Holzverschlag mit Ruhebank. „Hier mache ich eine kleine Pause.“ Sie setzt sich und packt ein Käsebrot aus. Ich sage nichts, obwohl wir ohnehin gleich bei der Rodlhütte sind. Jeder hat schließlich ein Recht auf eine letzte Einkehr. Und die schwerhörige Alte wird mir ganz gewiss nicht abgehen.

      Auf dem Schild vor der Hütte steht: Fünf waren geladen, zehn sind gekommen. Andersrum wird bei uns ein Schuh draus. Zwanzig waren gekommen, nicht ganz zwei Handvoll sind jetzt noch übrig.

      „Und weiter!“, rufe ich.

      „Also, ich bin jetzt sicher, dass da welche fehlen!“, erklärt die Lehrerin, hager und grauhaarig und spitzmündig. Sie schaut sich um.

      „Möglich. Es biegen immer ein oder zwei an dem Schild ab, wo es zur Bärenbadalm hochgeht. Das ist ein Weg von etwas über einer Stunde, und samstags gibt es dort handgetriebene Zillertaler Krapfen, das verlockt manch einen.“ Das habe ich heute früh in der Morgenpost meines Hotels gelesen und mich jetzt Gott sei Dank daran erinnert.

      „Was ist ein Zillertaler Krapfen?“, will die Seniorin mit vollem Käsebrotmund wissen.

      Hm. Ich habe keine Ahnung. Da ich kein Pokerface beherrsche, sieht man mir das auch an.

      „So, das wissen Sie gar nicht. Wissen Sie überhaupt etwas?“, lästert die Alte.

      Ehrlich, um die wird es nicht schade sein.

      „So langsam kriegen wir auch Appetit“, erklären die beiden Blumenmädchen unisono und schielen auf das Käsebrot der Seniorin.

      „Wir haben es gleich geschafft“, verspreche ich und schiebe die Mädels vom Pensionsverschlag weg, bevor es hier zu einer Meuterei kommt und die Seniorin mit ihrem Käsebrot die Fütterung der Fünftausend nachstellt. „Und wir gehen weiter!“

      Der Lift öffnet Höhen, Dienen den Himmel! Zwei meiner Schäflein wollen stehenbleiben und den Blick ins Tal fotografieren, wo gerade die Karwendelbahn heranrauscht. „Weitergehen!“, dränge ich. „Wir haben es gleich geschafft. Dort oben über die Kuppe, dann rechts bei den drei Steinen sammeln wir uns.“ Die Gruppe schreitet brav voran. Gut erzogen!

      Aus dem Tal nähern sich weiter fast lautlos die fünf Kabinen der Karwendelbahn. Aus der letzten Kabine wird, als sie direkt über mir ist, ein Seil mit einem Haken herabgeworfen. Ich fange es und hake das Eisen in den