Nur der See sah zu. Herbert Dutzler

Читать онлайн.
Название Nur der See sah zu
Автор произведения Herbert Dutzler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783709939499



Скачать книгу

      Ich zeige auf das enge Holztor mit der Aufschrift Geh durch das enge Tor, es führt zum Leben. Für manche von uns trifft das nicht zu, ganz im Gegenteil, aber das wissen die Betroffenen noch nicht. Alle schreiten fröhlich voran.

      Das Tor – bezeichnenderweise gestiftet von Sport Wöll – ist nicht nur niedrig, sondern auch schmal. Der lange Schlacks mit den karierten Golferhosen muss sich fast in der Mitte knicken, um hindurchzugelangen, das adipöse Ehepaar aus Amerika passt beim besten Willen nicht hindurch. Die Frau versucht es noch, bleibt aber stecken, und ihr Mann und ich müssen sie an den Armen rückwärts herausziehen. „Sie können über den Parkplatz und dann außen herum gehen“, sage ich und deute. „Wir machen etwas langsamer, da holen Sie uns bequem ein.“ Die beiden gucken nicht glücklich, und wären wir in Amerika, würden sie jetzt schon in Gedanken die Klageschrift vorbereiten von wegen Diskriminierung übergewichtiger Wanderer. Leichter kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Dicker auf den Besinnungsweg.

      Die beiden Amerikaner kehren in Richtung Parkplatz um. Wir sehen sie nicht wieder und gehen alle davon aus, dass sie beleidigt sind und jetzt lieber allein am See entlangspazieren, wo man so breit sein kann, wie man will. Ein Irrtum, aber das weiß ebenfalls noch keiner.

      „Und wir gehen weiter!“, rufe ich und führe meine Herde an.

      An der Futterhütte sammle ich meine Schäfchen wieder um mich.

      „Wenn im kalten Winter das Reh, die Gämse und der Hirsch kein Gräslein mehr finden, kein Salz, kein Heu und kein Leck, müssen sie verhungern“, lese ich von meinem Faltblatt ab. „Diese Besinnungsstation will uns erinnern, dass wir den Tieren und den Menschen zu essen geben sollen. Für das Wild Futter, für die Menschen Geld. Darum die Münzschale da oben. Als Symbol dafür, dass wir unsere Börse denen öffnen sollen, die weniger haben. Und wir gehen weiter.“

      Ein älterer Herr ruft: „Ich bin Numismatiker. Ich schaue mir die Münzen kurz einmal an … rein interessehalber.“

      „Aber Herrmann!“, schimpft seine Frau.

      „Geh halt mit den anderen, ich komm schon nach“, pampt er und stapft zu der Holzschale hoch, in die gutherzige Wanderer einen symbolischen Obolus deponieren.

      Ich treibe meine Schäfchen voran. Hinter mir höre ich Münzen klappern. Schaut der sich wirklich nur die Münzen an, oder steckt er sich welche ein?, überlege ich, drehe mich aber nicht um. Wird schon alles seine Richtigkeit haben. Jeder kriegt, was er verdient. Am Ende …

      „Also, Entschuldigung, mir geht das zu langsam“, ruft ein Rotblonder im karierten Flanellhemd. „Ich geh schon mal vor.“ Er läuft los.

      „Gern, nur zu“, rufe ich seinem entschwindenden Rücken hinterher. Er wird schon sehen, was er davon hat. Dann wende ich mich lächelnd an meine Wandergruppler und sage: „Und wir gehen weiter!“

      Gibt’s im Land koa Liebe mehr, stirbt die Quell, der Brunnen leer. Wir stehen vor dem Brunnen, und er ist leer – noch so ein Umstand, der der Gruppe hätte zu denken geben müssen. Tut er aber nicht. Meine Schäfchen stehen nur da und machen ah und oh.

      Ich keuche derweil. Ich bin ja nicht von hier, komme aus dem norddeutschen Flachland, wohne erst seit einer Woche im Posthotel drüben in Achenkirch und habe in dieser Zeit nichts anderes getan, als viermal am Tag zu essen – Frühstück, Lunch, Kuchentafel, Abendessen. Meine Hose spannt, und die Lungen pfeifen. Ich hätte mehr sporteln sollen, aber diese Erkenntnis kommt jetzt zu spät. Hier war eigentlich gar kein Halt vorgesehen, aber ich muss erst mal zu Atem kommen. Um die Gruppe zu beschäftigen, zitiere ich ein Besinnungsgedicht. Auch aus dem Faltblatt. „Warum ist der Brunnen leer? Warum fließt kein Wasser mehr? Wenn jeder nur noch an sich selber denkt, dem andern keine Liebe schenkt, versiegt auf Erden jede Quelle und in den Menschen alles Helle.“ Ich schaue auf und improvisiere auf Teufel komm raus. „Die heilige Notburga kann uns da ein Vorbild sein. Sie hat ihre Liebe immer großzügig anderen zukommen lassen. Deswegen wurde sie ja auch heiliggesprochen, die Gute. In diesem Jahr feiern wir übrigens 700 Jahre Notburga mit zahlreichen Veranstaltungen und Feierlichkeiten. Der Höhepunkt ist im September, die Notburga-Prozession.“

      Ich frage mich, wer von meinen Schäfchen das noch erleben wird … „Was wäre die Welt ohne Liebe. Wir sollten alle mehr Liebe verströmen“, flöte ich. Plattitüden kann ich gut.

      Apropos Liebe … Ich zwinkere dem gut aussehenden Mann im pastellfarbenen Polohemd zu. Dabei sind Pastelltöne bei Männern eigentlich ein Deal Breaker für mich, aber die Auswahl in der Gruppe ist nicht berückend.

      Mehr Liebe für die Welt, da sind sich alle einig. Die Gruppenköpfe nicken synchron, der Bommelmützenmann schießt mit seiner Hochleistungskamera ein Foto vom leeren Brunnen. Dann scharren aber schon alle ungeduldig mit den Hufen. Das Besinnen ist aus der Mode gekommen, und oben auf der Hütte wartet der Imbiss auf uns.

      „Wo Herrmann nur bleibt?“, fragt die Frau des Numismatikers und schaut den Weg zurück, den wir gekommen sind.

      Weit und breit kein Herrmann.

      „Der holt uns schon noch ein“, beruhige ich sie. „Und wir gehen weiter.“

      Leitet und sichert einander wie dieses Geländer. Wir halten wieder inne. Eigentlich nur, weil ich neuerlich verschnaufen muss. Keuchend will ich auf den Blick hinweisen, auf dieses prachtvolle Panorama, will etwas über den Achensee mit seinem fast karibisch türkisblauen Farbspiel erzählen, der zehn Kilometer lang und bis zu 133 Meter tief ist, Trinkwasserqualität hat und exzellente Windverhältnisse für Surfer und Segler bietet, aber da sehe ich unten am Hang einen, der sich in den Bäumen verhakt hat. Kein Freestyle-Wanderer, der abseits des Weges gestolpert ist und sich jetzt Halt suchend in eine Birke verkrallt hat, sondern ein – aufgrund der Gliedmaßenverrenkung – sichtlich Toter, der wohl den Hang hinuntergekullert wurde und versehentlich hängen blieb. Es ist der Rothaarige im Flanellhemd, dem es nicht schnell genug gehen konnte. Jetzt nur keine Panik in der Gruppe. Meine Schäfchen dürfen nicht hysterisch werden. Sonst laufen noch alle in Panik zurück, womöglich stürzen die Älteren und brechen sich die Hüfte. Nein, ich muss ruhig und besonnen vorgehen. Das ist das A und O einer guten Wanderführung.

      Bevor einer den Toten bemerkt, zum Beispiel der Bommelmützenmann mit der Kamera, zeige ich rasch hangaufwärts, wo es eigentlich nichts weiter zu sehen gibt. „Die Flora und Fauna der Achenseeregion“, jubiliere ich gekünstelt, „Naturparadies der Alpen, unvergleichliches Refugium für Tiere und Pflanzen, Rückzugsgebiet für höchst bedrohte Arten, wie Sie sie dort sehen.“

      „Ich sehe nichts“, ruft die Kniehosenseniorin mit dem schlechten Gehör.

      „Doch, da!“, insistiere ich und zeige wahllos ins Grün. „Die höchst seltene Almrose, die nur noch im Karwendelgebirge zu finden ist.“

      „Ich bin Biologin, meine Guteste, und da ist nichts Seltenes zu sehen“, widerspricht die Alte hartnäckig. „Und das, worauf Sie da zeigen, ist ein Baum, und zwar der hier für die Region ganz typische Bergahorn.“

      Ich schaue die anderen schulterzuckend an. Ach, diese senilen Alten, was die immer so reden, will mein Schulterzucken sagen.

      Blöderweise interpretiert das auch die Alte korrekt. „Sie machen das hier nicht oft, oder?“, fragt sie frech.

      Sie hat ja recht. Aber taktlos ist es trotzdem.

      Na, wenigstens hat keiner die Leiche bemerkt.

      Schmollend rufe ich: „Und wir gehen weiter!“, und stapfe los.

      So ungefähr nach der halben Strecke kommt man an ein Plateau und eine Kreuzung. Ich schaue im Faltblatt nach.