Die Rose im Staub. Sarah Skitschak

Читать онлайн.
Название Die Rose im Staub
Автор произведения Sarah Skitschak
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783964260604



Скачать книгу

über hundert Städter hatten sich vor der eingelassenen Bodenlinie aus blauen Glasscherben gesammelt und achteten penibel auf ihre Standposition, als wagten sie ohne mein Eingeständnis nicht einmal, das Grenzmosaik mit den Füßen zu berühren. Ihre Körper drängten sich dicht aneinander, sparten allerdings die äußeren Glaskreise großzügig aus und wippten in sicherer Entfernung von einem Bein auf das andere. In den Augen lag ein fiebriger Glanz – Durst, Ungeduld, Furcht vor möglichen Fehlern.

      Sie ahnten nicht, wie wenig ich zu Strafen in der Lage gewesen wäre.

      Oder wie gern ich in ebenjenen Momenten die Latrinen am Rande des Platzes aufgesucht hätte …

      Da sich aufgrund einer unnötigen Diskussion die Eröffnung des Brunnens um einige Minuten verzögert hatte und ich um die rasenden Herzen in den Brustkörben hinter den Gewandungsschleiern wusste, eilte ich mit schnellen Schritten zur Einlassmarkierung. Der gerade Olivenholzstamm ragte wie ein Mahnmal aus dem gepflasterten Boden, wartete mit allerlei eingeritzten Wassergesetzen auf und erinnerte einen jeden Besucher, dass Gier am Brunnen nicht als Tugend galt. An ebendiesem Punkt hatte eine Wasserwache zu stehen. An ebendiesem – und keinem anderen.

      So postierte ich mich mit gewohnt strenger Miene bei der Markierung und setzte auf diese Weise meine Soldatenmaske über den verletzlichen Kern meiner Seele. Die Perfektion dieser Haltung hatte ich mir über Jahre zu meinem Schutz angeeignet, sodass niemand je hinter die Fassaden, die Mauern, die Masken und Mienen zu blicken vermochte … oder gar meine Position als Soldat infrage stellte. An meiner Entschlossenheit zur Gewalt sollten keinerlei Zweifel bestehen. So ließ ich meinen Blick mit versteinerten Zügen über die Menschentraube schweifen, bedachte ausgewählte Bürger mit einer längeren Aufmerksamkeitsspanne und machte sie meine Absichten durch bloßes Starren glauben.

      Eine Strategie, die sich seit jeher bewährte.

      »Also gut«, sprach ich schließlich mit kalter Stimme und nickte. »Erste Ausgabe. Wer bekommt zuerst etwas? Irgendjemand?«

      Wie so oft schien keiner der Städter den ersten Schritt zum Brunnen wagen zu wollen, sandte man doch zumeist die unbeliebteren Bürger als Versuchskaninchen nach vorn und testete die Umgangsform der Wachhabenden. Wie so oft blieb mir selbst die Wahl der ersten Person überlassen, wusste ich doch ebenfalls um die kostbare Zeit, die bei derlei Aktionen von ihrer Furcht gefressen wurde. Ich unterdrückte ein Seufzen.

      Dann deutete ich auf einen älteren Mann, der sich neben zwei Frauen um die vordere Front zu drücken gedachte.

      »Du. Nach vorn. Wie viele Kellen stehen dir zu?«

      Mit sichtlicher Anspannung in den Gliedern mühte sich der Herr nun zwischen den Frauen hindurch, trat über die blaue Glasmarkierung am Boden und baute sich in gespielter Sicherheit vor mir auf. In seinen Händen baumelte eine Karaffe aus Ton, die unter den Zitterbewegungen seiner Hände verdächtige Schlenker vollführte und die Angst vor mir mehr als eindeutig verriet.

      Ich zog meine Augenbrauen zusammen.

      So sehr ich mich auch um eine ausdruckslose Mimik bemühte, so wenig konnte ich meine ersten Impulse verbergen. Mitleid – da jener Mann sich offensichtlich als Opfertier vor der Schlachtbank sah und jederzeit mit einem gewaltsamen Ableben rechnete, weil er trotz seiner Furcht nicht auf das kostbare Gut im Zentralbrunnen verzichten und der Prüfung durch einen der Wasserwächter entgehen konnte. Die eigene Anspannung – da ich nun einmal jederzeit mit einem Wasserdiebstahl zu rechnen hatte und nicht um die Intentionen des Mannes wusste.

      Ob er gefälschte Papiere besaß? Ob er womöglich mehr benötigte, als ihm tatsächlich zustand?

      Jedwedes Verbrechen – allein die Frage danach – hätte mich in eine moralische Zwickmühle getrieben, der ich ohne Iuron an meiner Seite nicht alleine zu entkommen vermochte.

      »Wie viele Kellen, der Herr?«, wiederholte ich meine Frage.

      Die Stirn des Alten runzelte sich wie eine vertrocknende Traube, während seine zitternden Hände die Karaffe in meine Richtung reckten und letztlich nach dem Pass in der Taschenfalte seiner Gewandung zu fischen begannen. Eine ganze Weile lang sah man ihn suchen, sah ihn in Panik die Tasche durchwühlen, allmählich der Nervosität verfallen und die Lippen bis zur Weißverfärbung aufeinanderpressen. Unterdrückte Schluchzer bahnten sich ihren Weg in die Kehle. Seine Finger friemelten die Stofffalten auseinander und tasteten hektisch über den Oberkörper, sodass ich bereits glaubte, der Mann habe den Pass im Gedränge verloren. Als er das Objekt seiner Suche dann zu fassen bekam, standen glitzernde Schweißperlen auf seinem Haupt.

      Hätten meine kurzen Locken nicht die Stirn verborgen …

      Es wäre mir wohl ähnlich ergangen.

      Tief durchatmen.

      »Drei Kellen«, entgegnete der Mann mit bebender Stimme und zeigte mir die entsprechende Stelle im Dokument.

      »Drei Kellen. Signatur des Senators Mheron. Siegel. Stempel. Sieht in Ordnung aus.«

      Beide hoben wir unsere Blicke von der Siegelfläche und kreuzten sie in der puren Essenz der Erleichterung, als würde der Anspannung ein kollektives Ausatmen folgen und sich die bedrückende Atmosphäre im Nichts auflösen. Ich überreichte dem Herrn seine Wasserkaraffe, blinzelte ihm eine stumme Genehmigung entgegen und wich einen kleinen Schritt zur Seite, um ihn an den Zentralbrunnen treten zu lassen. Der Mann raffte seinerseits die Gewandung zusammen und stieg auf den Übergang zum Brunnenplateau.

      Ich wandte mich um.

      »Dann kontrollieren wir doch gleich noch einmal«, schlug ich der wartenden Menge mehr rein rhetorisch vor.

      Wohl wusste ich: Es war ein unbeliebter Schachzug unter den Bürgern – jedoch einer, der mir eine längere Pause zwischen den Stichprobenkontrollen gewährte und mir die Gelegenheit offenließ, die kurzzeitige Schockreaktion meines Körpers wieder zu dämmen. Wollte man den Kapriolen meines Herzschlags Glauben schenken, so erschien mir eine längere Pause um der eigenen Gesundheit willen auch mehr als nötig. Wie ein verschreckt flatternder Vogel im goldenen Käfig donnerte der Muskel gegen meine Rippen, während sich der kalte Schweiß bereits über meinen Rücken ergoss und die Gewandung unter der Soldatenrüstung förmlich durchtränkte.

      All dies, weil ein Bürger seinen Pass länger als gewöhnlich hatte suchen müssen.

      All dies, weil die Befehle auf sofortige Tötung von Dieben lauteten.

      Ich hasse den Wasserwachdienst.

      Abermals wanderten meine Augen durch die Massen, die nach meinen Worten ein gutes Stück hinter der Grenzlinie zurückgewichen waren. Da waren Sklaven von höhergestellten Bürgern mit Holzkonstruktionen über ihren Schultern, ärmliche Frauen in schmutzigen Leinen mit Tonkrügen auf ihren Hochsteckfrisuren, Männer in sandverfärbten Roben neben geflochtenen Wasserkörben … und eine verhüllte Gestalt mit einem Wasserschlauch in der Hand. Ja, eine verhüllte Gestalt, die im Gegensatz zu den anderen Städtern nur wenig Furcht im Herzen zu hegen schien.

      Ich vermutete einen weiblichen Körper unter dem braunen Sonnenschutzmantel und glaubte, unter all den Lagen und der weiten Kapuze wohl eine Händlerin aus den südlichen Regionen der Lande finden zu müssen. Die Tracht galt in den Südstädten weit verbreitet.

      Der dichtgewobene Stoff sollte die Trägerin vor übermäßiger Lichteinstrahlung schützen, die hellere Haut der Südländerin im Dunkeln und die Einwirkung des Zentralsterns so gering als möglich halten – wie es sich bei adeligen Händlerinnen aus den südlichen Häusern nun einmal schickte. In den Randgebieten des Marktplatzes waren einige der Braunkutten zu sehen, wie sie ihre Waren auf den langen Händlertischen feilboten … und eben auch die jüngeren Gildenmitglieder in Richtung des Brunnens sandten, um auf eine ausreichende Wasserversorgung zu achten. Zwar verbarg der Sonnenmantel die weiße Zeremonientracht unter den dunkleren Leinen, doch das sichere Auftreten jener Botin …

      Ein geringes Risiko, oder?

      Alle Händler besitzen gesonderte Pässe.

      »Du, Braunkutte«, beschloss ich kurzerhand laut. »Wie viele Kellen stehen dir zu?«