Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz

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Название Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band)
Автор произведения Joachim Ringelnatz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027203697



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an. Aber damals, als ich sie schrieb, hatte ich noch keine Zeile von Morgenstern gelesen.

      Um diese Zeit wurde auch mein Schiffsjungentagebuch angenommen. Der Verlag »Die Lese« feierte gerade ein Jubiläum und gab seinen Autoren ein Frühstück in einer Privatvilla. Auch ich als jüngster Autor war dazu geladen. Ich gab mich sehr würdig in dieser Gesellschaft. Bis ich an einer chinesischen Decke hängen blieb und dabei acht Gläser Champagner auf dem Flügel umstieß.

      In der »Lese« war ein kleines Tippmädchen angestellt, namens Marietta. Dies zierliche Ding trat nachdem im »Simpl« in Erscheinung, indem sie dort Gedichte hersagte und mit einer scharmanten Frechheit aller Herzen gewann.

      Ich wurde sehr krank, mußte eine Drüsenoperation durchmachen, lag längere Zeit ganz lebensmüde zu Bett. Bruno Frank besuchte mich, brachte mir weiße Rosen. Seebach, Dr. Milk und andere besuchten mich, brachten mir Wein, Zigaretten und Bücher. Und Seelchen pflegte mich aufopfernd. Als ich endlich wieder in den »Simpl« konnte, wurde ich dort herzlich empfangen. Man hatte mich vermißt. Das tat mir wohl. Auch daß mir Scharf erzählte, ihm und Dauthendey hätte meine kleine Skizze »Sie steht doch still« gut gefallen.

      Man nahm mich schon ein wenig ernster. Die »Woche« trat an mich heran, bat um eine neue Arbeit. Aber die Freude über solche kleinen Fortschritte hielt nie lange an. Denn andererseits wuchs auch mein Gefühl für Kritik und Selbstkritik.

      Biegemann verreiste, um sich mit einer Baroneß Nolcken zu verloben, der auch ich einmal auf einem Bal paré vorgestellt war.

      Ich sah Ibsens »Nordische Heerfahrt«, aber das Stück gefiel mir nicht. Ich las alles, was Bruno Frank schrieb oder was er mir empfahl, z.B. eine Novelle seines Freundes Willy Speyer »Wie wir einst so glücklich waren«. Die schien mir nun zwar reichlich stark von Thomas Mann beeinflußt, aber ich beneidete doch Frank wie Speyer um solche Erfolge. Ich fühlte mich weit hinter diesen soviel jüngeren Menschen zurück. Sie hatten die Bildung, die Zeit zum Schreiben. Sie hatten Geld. Geld schien mir auf einmal der Schlüssel für alles. Geld zum Gesundwerden. Geld zum Arbeitenkönnen. Geld zum Lernen. Geld zum Reisen. Ich fing an, Lotterie zu spielen. Ohne den geringsten Erfolg. Als ich eines Nachts in eine Roulette spielende Gesellschaft geriet und mich mit einem kleinen Einsatz beteiligte, gewann ich hundert Mark. Die mußte mir ein reicher Herr auszahlen. Er vergaß es aber, und ich wagte aus Respekt nie ihn zu mahnen.

      Sehr oft gingen wir, Seebach, ich, die baltischen Freunde und was sich sonst gerade dazufand, noch in später Nacht zu Herrn von Maassen. Der besaß eine behagliche, originelle Wohnung und eine große, interessante Bibliothek, hauptsächlich Bücher der Romantiker.

      Maassen stammte aus Hamburg. Er war ein hochgebildeter Mann von mitreißendem Humor, und er bot seinen vielen Bekannten liebenswürdige Gastfreundschaft. Die Burgundergläser klirrten, und der aufgeregte Rabe Jakob durfte mittrinken, wurde auch wie wir, nur noch schneller animiert. Manchmal briet Maassen sogar im »Lucullus« eine Gans. Er und die anderen Herren dort verstanden sehr viel vom Schlemmen und Kochen. Sie waren auch alle einmal in Paris gewesen, hatten alle einmal in Monte Carlo gespielt. So sprach und stritt man auch zumeist über Bücher, Kunst und Gastrosophisches. An die Nächte in diesem geistvollen und ausgelassenen Junggesellenheim denke ich mit dankbarem Vergnügen zurück.

      So kam ich dazu, die besten Bücher zu lesen. »Tristram Shandy« – »Gargantua und Pantagruel« – »Simplicius Simplicissimus« – Gontscharows »Oblomow«.

      An einem Februarmorgen 1911 ging ich müde und verkatert heim. Da hörte ich meine Tante – mit der ich mich derzeit gerade etwas überworfen hatte – bitterlich schluchzen. Ihre Mutter war nun endlich gestorben.

      Ich tröstete Seelchen, so gut ich es konnte. Da die Leiche nach bayrischer Sitte noch am selben Tage aus dem Hause mußte, um dann einen Tag lang öffentlich ausgestellt zu werden, nahm ich der Tante die nötigen Gänge zum Arzt, zur Totenfrau, zur Polizei usw. ab. Als die Leichenfrau die tote Mutter wusch und einkleidete, gab die Leiche einen grausigen Laut von sich, über den Seelchen und ich im Nebenzimmer sehr erschraken. Es gelang mir, die Tante mit einer falschen Erklärung zu beruhigen.

      Meine Nerven waren derart herunter, daß ich Halluzinationen hatte und mich morgens fürchtete, durch den dunklen Treppenflur zu gehen.

      Dora Kurs sandte mir die »Renaissance« von Gobineau, ein Buch, das mir sehr mißfiel. Vater schenkte mir den Roman »Aus der alten Fabrik« von dem Dänen Bergsöe. Dieses Buch hatte ich schon zehnmal mit Rührung und Genuß gelesen. Es war auch ein Lieblingsbuch meines Vaters.

      Ich hörte einen Vortrag des Polarforschers Nordenskiöld. Ich sah Wallenstein und andere Theaterstücke.

      Die Zeitschrift »Simplizissimus« lehnte meine Geschichte »Durch das Schlüsselloch eines Lebens« ab, ermutigte mich aber diesmal durch einige beifällige Bemerkungen. Als ich die kurze Erzählung an Thomas Mann einsandte mit der Bitte um Beurteilung, schrieb mir dieser: »Die kleine Sache ist recht artig vorgetragen.«

      Ich sehnte mich nach Freiheit. Im »Simpl« hielt ich es nicht mehr aus. Längst schon wollte ich die Nachtstellung dort aufgeben, aber ich war völlig energielos geworden. Außerdem schuldete mir Kathi Kobus noch Geld, und sie verzögerte die Herausgabe, weil sie meine Absicht durchschaute und genau wußte, daß sie mich, wenn ich diesmal fortginge, nicht wieder zurückholen könnte. Endlich redete ich ihr doch ein, daß ich gesundheitlich Erholung brauchte, da gab sie mir Urlaub und mein Geld. Der Schriftsteller Ferdinand Kahn war dabei, als ich den »Simpl« verließ. Auf der Straße spannte ich einen nagelneuen Regenschirm auf und sprang vor Vergnügen mit beiden Füßen hinein. Freiheit!

      Seebachs Braut hatte mich auf das Gut ihrer Eltern nach Kurland eingeladen. Biegemann selbst erwartete ein paar tausend Mark, die ihm ein Geschäftsmann verschaffen wollte. Mit diesem Geld gedachte er nach Kurland zu reisen, um zu heiraten. Ich hatte Biegemann manchmal ein kleines Geldchen zugesteckt. Aus Dankbarkeit wollte er mich nun auf seine Kosten mit nach Kurland nehmen. Wir verabredeten, daß ich ihn in Kufstein erwarten sollte. In zwei bis drei Tagen wollte er mich dort abholen oder mir Nachricht geben. Ich hatte noch für etwa sechs Tage zu leben. Also gab ich ihm meinen Paß, um das Visum zu besorgen, und fuhr nach Kufstein.

      Ich bezog das beste Hotel und lebte gar nicht sparsam, weil mir Seebach gesagt hatte, ich sollte nur anschreiben lassen. Er würde mich auslösen.

      Nun bot sich mir die Zeit zum freien Dichten, die ich mir so lang gewünscht hatte. Aber ich schrieb nichts. Die herrliche Umgebung lockte zu Spaziergängen. In einer sternenlosen Nacht geriet ich im Wilden Kaiser in einen Wolkenbruch mit furchtbarem Gewitter. Ich befand mich gerade in einem finsteren Walde und hatte den Weg verloren. Da mußte ich schließlich auf allen vieren kriechen und, nachdem ich sechs Revolverpatronen verschossen hatte, für jeden Schritt den kurzen Schein der Blitze ausnutzen, die links und rechts von mir in die Bäume schlugen. Später konnte ich mich davon überzeugen, welchen gefährlichen Weg ich da passiert hatte. Als ich frierend, naß und müde eine Hütte erreichte, machte ich mir keine Hoffnung, dort noch Leute wach anzutreffen oder gar ein Unterkommen zu finden. Ich klinkte. Die Tür gab nach. In einem hellen Raum saßen Touristen beim Wein, eine Harfe erklang, von einem Tiroler in kurzer Wichs gespielt. Zwei von den Gästen schrien gleichzeitig auf: »Der Hausdichter von der Kathi!« Ich erfrischte mich an einem Sahnengericht, das man Maibutter nannte, und es wurde eine fröhliche Nacht. Andern Morgens marschierte ich weiter, stieg bis zum Stripsenjoch hinauf. Die Hütte dort war auf der einen Seite ganz vereist. Von der anderen Seite blühten liebliche alpine Pflanzen.

      Ich erkor mir den Hilfsarbeiter Alex zum Freund, weil ich Gesellschaft in Kufstein vermißte. Alex war auch Wilderer, im übrigen unsagbar dumm und faul, jedoch ein hübscher Bursche. Wir unternahmen Ausflüge. Eines Nachts lud ich ihn feierlich zu einer Flasche Sekt ein, um mit ihm Brüderschaft zu trinken, dann streiften wir durch einen dunklen Wald. Da kamen wir auf Mord und Totschlag zu sprechen. Plötzlich blieb Alex stehen, drückte mir treuherzig die Hand und sagte in seinem Dialekt: »Das eine kannst mir glauben, daß ich dich nie von hinterwärts erstechen werde.«

      Ich liebte mein Hotelzimmer und ging gern zu den Bauern und in deren Ställe. Es waren vier bis fünf Tage vergangen, ohne daß Seebach etwas von sich hören ließ. Aber ich vertraute