Im Schattenkasten. Arno Alexander

Читать онлайн.
Название Im Schattenkasten
Автор произведения Arno Alexander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711626016



Скачать книгу

niemals tun“, wiederholte Flannagan im selben Tonfall. „Da haben Sie vielleicht nicht unrecht. Aber fürs erste war dieser Artikel dringend notwendig: Die Hauptsache ist, daß McGregor Angst bekommt, die Polizei könnte vielleicht doch so vorgehen, falls er Ihr Kind umbringt. Wir mußten Zeit gewinnen, — darum veranlaßte ich die Polizei, diesen unschuldigen Artikel an die Abendblätter zu geben.“

      „Sie haben das veranlaßt?“ rief Harrogate im Tone ehrlicher Bewunderung aus.

      Flannagan antwortete nicht. Er beobachtete gespannt, wie Hubert, sein Freund, aufgesprungen war, ein Taschentuch, das am Boden lag, aufhob und einer Dame nachgaloppierte, die neben einem hageren, sehr feinen Herrn nach der anderen Seite des Dachgartens schritt. Jetzt sahen sich bereits auch andere Leute um, denn Hubert bot wirklich ein Bild, das man in dieser Umgebung nicht gewöhnt war: Er war reichlich dick und watschelte beim Laufen immer von einer Seite nach der anderen, so sehr, daß der Zuschauer sich erstaunt fragen mußte, wie dieser Mann es eigentlich fertig brachte, endlich doch jedesmal das Gleichgewicht zu bewahren. Schlimmer als das aber war der Umstand, daß Hubert schon zwei Knöpfe seiner zu engen Weste verloren hatte, und bei jedem Mal aufs neue mit großer Mühe haltmachte, seinen Knopf aufsuchte, um dann mit frischem Mut die Verfolgung wieder aufzunehmen. Endlich hatte er die Dame und den Herrn erreicht.

      Flannagan blickte verstohlen auf das Gesicht Harrogates. Es war eisig. Nein, diese kalten Züge verrieten nichts von den Gefühlen des Mannes, und doch mußte er eben jetzt zittern vor Schrecken, — machte doch Hubert Anstalten, der Dame auf die Schulter zu tippen. Doch nein, er besann sich eines anderen. Mit zwei ungeahnt gewandten Sätzen befand er sich vor ihr, machte eine tiefe Verbeugung und reichte ihr das Tuch.

      Die Dame dankte freundlich, denn sie hatte nicht bemerkt, wie sehr dieser Mann zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden war. Auch der Herr nickte kurz wie ein Nußknacker. Einen Augenblick schien es, als hielte er Hubert für einen Kellner, und er streckte schon die Hand in die Tasche nach einer Münze. Dann mußte ihn irgend etwas aber doch stutzig gemacht haben, und er unterließ die Gabe — zu Flannagans lebhaftem Bedauern.

      Hubert sah sehr stolz aus, als er sich auf den Rückweg machte. Der Umstand, daß er dabei mehrmals stehen blieb und kummervoll die beschädigte Weste betrachtete, trug wesentlich zur Besserung der allgemeinen Stimmung bei. Flannagan konnte zufrieden sein: auf ihren Tisch war man nunmehr aufmerksam geworden.

      „Kennen Sie die Dame, Mr. Harrogate?“ erkundigte sich Hubert ziemlich laut, als er wieder Platz nahm.

      „Das ist der englische Gesandte mit seiner Gattin“, sagte Harrogate zugeknöpft.

      „Rassiges Weib“, erklärte Hubert begeistert, und sein rotes Gesicht glänzte richtig vor Zufriedenheit. „Diese Bekanntschaft kann mir noch von großem Nutzen sein.“

      Harrogates Gesicht verzog sich, als ob er plötzlich heftiges Bauchgrimmen hätte. Aber er sagte nichts mehr. Eine Unterhaltung mit Hubert fürchtete er, und wohl mit Recht.

      Inzwischen waren die Speisen aufgetragen worden, und alles machte sich ans Essen. Außer Flannagan und den beiden Harrogates wußte niemand, wie man beim Verspeisen dieser Gerichte mit den Messern, Gabeln und Löffeln umzugehen habe. Die Braut Flannagans aber war die einzige, die abwartete, bis jemand anderes es ihr vormachte. Flannagans drei Freunde aßen unbekümmert, wie es ihnen einfiel. Einem Mann wie Harrogate mußte dieser Anblick sehr weh tun.

      Es war still geworden, und Flannagan hielt es daher für angebracht, für die allgemeine Unterhaltung zu sorgen. Er trat seinem Freunde Jim sehr nachdrücklich auf den Fuß, und Jim begriff sofort, daß seine Stunde gekommen sei.

      „Wissen Sie, Miß Harrogate“, begann er mutig, „bei so einem feinen Abendessen muß ich immer an meinen Bruder denken …“

      Miß Harrogate blickte flüchtig auf und lächelte freundlich.

      „Ihr Bruder liebte es wohl sehr, einmal gut zu essen?“ fragte sie in der lobenswerten Bestrebung, ein Gespräch in Fluß zu bringen.

      „Ja, sehr“, antwortete Jim aufseufzend. „Aber man gab ihm nichts — acht Monate lang bekam er nichts Gutes zu essen. Man hatte ihn angeklagt wegen Leichenraubs, — das ist eine großartige Geschichte, die muß ich euch mal erzählen — — —“

      Plötzlich hatte Jim alle Befangenheit verloren. War es die alte Geschichte, die er so oft schon in ganz anderem Kreise zum besten gegeben, oder war daran der Umstand schuld, daß ihm alle so aufmerksam zuhörten, — jedenfalls schien Jim vergessen zu haben, wo er sich befand und mit wem er sprach.

      „Also hört mal zu, Kinder!“ rief er fröhlich. „Mein Bruder war nämlich als Totengräber angestellt. Tja, und da hatte er nicht nur über die Gräber mit zu wachen, sondern auch über die frisch herangeschleppten Leichen, die am nächsten Tage beerdigt werden sollten. Nun waren das ja meistens schon verdorbene Leichen, so von Selbstmördern oder Ertrunkenen, an denen schon oft die Studenten ihre Künste versucht hatten. Manchmal fehlten ganze Beine oder Köpfe, — es war scheußlich, wenn mein Bruder das so beschrieb. Ich kanns leider nicht so gut. Also eines schönen Tages wurde da aber ein junger Mann herbeigeschleppt — mausetot natürlich und schon sehr übelriechend — — —“

      Harrogate schob mit einem Ruck seinen Teller von sich.

      „Wenn Sie wünschen, daß ich weiter esse, Mr. Flannagan“, sagte er streng, „dann bitten Sie diesen jungen Mann, endlich aufzuhören!‘

      Tamara Harrogate sah starr auf ihren Teller und konnte anscheinend ebenfalls nicht mehr essen. Um so besser ließen es sich Hubert und Tom schmecken.

      „Wenn Ihnen meine Geschichte nicht gefällt, so kann ich ja auch schweigen“, sagte Jim beleidigt. „Aber es war eine großartige Geschichte. Sie versäumen eine herrliche Gelegenheit, sie zu hören.“

      Flannagan gab Tom mit den Augen das Zeichen, nunmehr mit seiner Geschichte zu beginnen, aber etwas anderes kam dazwischen. Neben ihnen tauchte plötzlich die Gestalt eines feingekleideten Herrn auf.

      „Entschuldigen Sie bitte meine Zudringlichkeit, Mr. Harrogate“, sagte die Stimme Inspektor Baths sehr freundlich. „Ich wäre Ihnen aber außerordentlich dankbar, wollten Sie die Güte haben, mich mit Mr. Flannagan bekannt zu machen.“

      VIII.

      Zwei scharfe Falten gruben sich zwischen den Augenbrauen Mr. Harrogates ein, er richtete sich steif auf seinem Stuhl auf, und es war mehr als klar, daß er beabsichtigte, die Bitte Baths abzuschlagen. Aber da legte sich die Hand seiner Tochter auf seinen Arm.

      „Oh, das trifft sich gut“, sagte sie lächelnd. „Das ist sicherlich Mr. Bath? Ich würde mich ebenfalls freuen, seine Bekanntschaft zu machen.“

      Die Stirn Mr. Harrogates war wieder glatt. Gleichmütig, als habe er gar keine andere Absicht gehabt, vollzog er die Vorstellung. Er nannte alle Namen der Anwesenden, soweit sie ihm in Erinnerung waren, und Flannagan half ihm bei den Namen, die Harrogate vergessen hatte.

      Auf einen Wink Miß Harrogates brachte ein Kellner sogleich einen Stuhl herbei, und Bath erhielt seinen Platz zwischen Flannagan und Tamara Harrogate.

      Sein Lächeln hatte etwas Bezauberndes. Es unterschied sich sehr von dem eingelernten Lächeln, das die Japaner fast immer zur Schau tragen, wenn sie ihre wahren Gefühle verbergen wollen. Nein, wenn man Bath lächeln sah, mußte man glauben, irgend etwas bereite ihm großes Vergnügen.

      „Wir haben also denselben Auftrag, Mr. Flannagan“, wandte er sich an den Detektiv. „Ich glaube, wir werden mehr erreichen, wenn wir gemeinsam und nicht gesondert vorgehen. Meinen Sie nicht auch?“

      Flannagan schüttelte heftig den Kopf.

      „Im Gegenteil“, sagte er schroff. „Ich werde gar nichts erreichen, wenn ich mich irgendwie von polizeilichen Methoden beeinflussen lasse. Außerdem finde ich es sehr sonderbar, daß die Polizei sich jetzt plötzlich meiner erinnert. Wenn mich nicht alles täuscht, hat man mich von dort wie einen räudigen Hund davongejagt, weil ich nichts, aber auch gar nichts mehr