Die verschwundene Melodie. Arno Alexander

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Название Die verschwundene Melodie
Автор произведения Arno Alexander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711625989



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nichts, rauchte nicht, und sobald er in den Händen seines Heizers eine Packung Tabak oder eine Whiskyflasche erblickte, nahm er sie ihm ohne jede Erklärung aus der Hand und beförderte sie mit einem kräftigen Schwung hinaus.

      *

      Auf dem Bahnhof in New York wartete eine große Menschenmenge auf den Personenzug aus Boston. Unter den Wartenden befand sich auch Doris Elmhurst, die ihre Schwester Evelyn empfangen wollte. Die beiden Schwestern hatten sich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, da Evelyn in Boston Medizin studierte und Doris nur zweimal im Jahr während der Ferien besuchen konnte.

      „Der Zug hat acht Minuten Verspätung!“ verkündete ein Bahnbeamter mit lauter Stimme.

      Doris blickte nach der Uhr. „Also noch zehn Minuten warten“, dachte sie und hielt plötzlich in ihrem Auf- und Abgehen erstaunt inne. Auch die andern Leute folgten ihrem Beispiel.

      Es war in der Tat ein seltenes Schauspiel, daß sich ihren Blicken bot. Etwa dreißig Polizisten traten in Gruppen von drei und vier Mann auf den Bahnsteig und blieben unweit der Wartenden stehen. Auf den andern Bahnsteigen sah man jetzt ebenfalls Polizeibeamte; nur waren es dort weniger: höchstens fünf oder sechs auf jedem.

      Ein höherer Beamter in Uniform trat an die Wartenden heran.

      „Ladies and gentlemen!“ sagte er höflich, aber bestimmt. „Ich bitte Sie, etwas beiseitezutreten und meinen Leuten Platz zu machen.“ Dann gab er den Polizisten mit leiser Stimme Anweisungen, worauf diese den ganzen Bahnsteig entlang eine Kette bildeten. Kaum waren sie damit fertig geworden, als auch schon zischend und fauchend der Zug in die Halle einfuhr.

      „Niemand darf aussteigen!“ befahl der Polizeibeamte laut. „Papiere bereithalten!“

      Erstaunte Gesichter fuhren von den Fenstern zurück. Unter den Wartenden erhob sich ein unzufriedenes Murmeln.

      Doris wurde unruhig. Viele fremde Gesichter hatte sie an den Fenstern gesehen, aber das ihrer Schwester nicht. Sie drängte sich vor und versuchte einige Worte der leise geführten Unterhaltung zweier Polizisten aufzuschnappen.

      „... wurde der Kontrolleur mit zerschmettertem Schädel neben dem Telegraphenmast 97 gefunden“, sagte der eine. „Wahrscheinlich Mord“, fügte er nachdenklich hinzu.

      „Er kann auch so ’rausgefallen sein“, meinte der andere.

      „Kaum. Der Bahnwärter, der uns telegraphierte, gibt an, etwas Ähnliches wie einen Kampf beobachtet zu haben.“

      „Nun, dann werden wir den Mörder natürlich ...“

      Die Unterhaltung stockte. Die Polizisten schienen die Lauscherin entdeckt zu haben, und als sie nach einer Weile in ihrer Unterredung fortfuhren, sprachen sie so leise, daß es für Doris unmöglich wurde, etwas zu verstehen.

      Inzwischen waren die Personalien der Reisenden festgestellt worden, und die meisten konnten den Bahnhof verlassen. Doris’ Unruhe steigerte sich, denn noch immer war Evelyn nicht zu sehen. Eine kleine Gruppe von Polizisten, in deren Mitte sich ein blondbärtiger Hüne wie ein Wahnsinniger gebärdete, lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich.

      „Das ist unerhört!“ brüllte er. „Mich des Mordes zu verdächtigen! Mich?!“

      Der Polizeioffizier suchte ihn zu beschwichtigen.

      „Niemand hat einen derartigen Verdacht geäußert. Wir mußten aber Ihre Papiere einsehen. Ich bedaure außerordentlich, aber meine Pflicht ...“

      In diesem Augenblick trat ein fein gekleideter junger Mann hastig auf den Beamten zu und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr.

      Doris schob sich näher heran. Eine dunkle Ahnung sagte ihr, daß zwischen dem Mord am Kontrolleur und dem Ausbleiben Evelyns ein Zusammenhang bestehen müsse. Sie stand jetzt so nahe, daß sie einzelne Worte der halblaut geführten Unterhaltung hören konnte. Erst sprach der junge Mann:

      „... ein hoher Würdenträger ... verhängnisvolle Folgen ...“

      „Ich verstehe“, lautete die höfliche Antwort des Beamten. „Wir wollen natürlich jedes unnötige Aufsehen vermeiden. Die Papiere dieses Herrn sind ja auch in Ordnung. Wie ist Ihr Name, und wer sind Sie?“

      Der andere beugte sich vor. Ein mit vielen Stempeln versehenes Papier auseinanderfaltend, flüsterte er: „Daniel Clayvills, Chef der Privatdetektei Clayvills & Huntington.“

      Der Beamte schrieb sich etwas in ein Büchlein, dann verneigte er sich höflich. „Sie können gehen“, erklärte er kurz.

      Doris’ Interesse an der Angelegenheit war schon fast geschwunden, als eine kleine Beobachtung von neuem ihre Aufmerksamkeit darauf lenkte. Der Blondbärtige machte Miene, noch etwas zu sagen, als plötzlich ein sanfter Rippenstoß Clayvills ihn verstummen ließ. Dieser Stoß war so berechnet, daß der Polizeibeamte ihn nicht bemerken konnte; Doris aber hatte ihn deutlich gesehen, und es nahm sie Wunder, daß ein Privatdetektiv einen hohen Würdenträger so zu behandeln wagte.

      Diese kleine Beobachtung hatte zur Folge, daß Doris eine Zeitlang scheinbar völlig teilnahmslos vor den beiden herging, als diese gemeinsam durch die Bahnhofshalle schritten. Sie vernahm dabei, wie der Detektiv die Handlungsweise des hohen Würdenträgers beurteilte, wobei er sie mit Ausdrücken wie „bodenlose Dummheit“ und „einfältiges Gebahren“ belegte.

      Doris war ein seltsames Mädchen. Obwohl sie in der Woche nur fünfzig Dollars verdiente, wovon sie noch ihre Schwester unterstützte, und daher sehr sparen mußte, gab sie an diesem Morgen doch fünf Dollars und fünfzig Cents für eine Autospazierfahrt aus.

      Das Ergebnis war, daß sie um acht Uhr morgens, bevor sie den ersten Bogen in die Schreibmaschine spannte, in ihr Merkbuch kritzelte:: „Der hohe Würdenträger wohnt: Old Cross Road 81.“

      6

      Die Abendblätter brachten eine kurze Mitteilung über den mutmaßlichen Unfall des Fahrkartenkontrolleurs Al Fuller. Zwei Blätter sprachen die Vermutung aus, es liege ein Mord vor, die meisten begnügten sich damit, ohne Erläuterung die Angaben der Polizei abzudrucken. Nur das New York Daily Journal, eine wenig verbreitete und noch weniger gelesene Zeitung, hatte gewagt, das Wort „Mord“ fett gedruckt als Überschrift einiger knapper Zeilen zu setzen, durch die den Lesern für die nächste Morgenausgabe sensationelle Enthüllungen versprochen wurden. Dieses Blatt war auch das einzige, das von dem im Tunnel bei Norwalk gefundenen und beinah überfahrenen Mädchen berichtete und dieses Ereignis mit dem Mord an dem Kontrolleur in Zusammenhang brachte.

      Niemand hätte es geglaubt, daß am nächsten Tage das Polizeipräsidium fünfundzwanzigtausend Exemplare der Morgenausgabe aufkaufen und von weiteren Käufen nur deshalb absehen würde, weil keine einzige Nummer mehr verkäuflich war.

      Außer der Schriftleitung und den Mitarbeitern des New York Daily Journal gab es bis neun Uhr früh in ganz New York keinen Menschen, der sich für die Morgenausgabe mit den versprochenen sensationellen Mitteilungen interessiert hätte. Um neun Uhr begannen die Zeitungsjungen wie verrückt ihre Nummern auszuschreien, und nur durch die vielversprechenden Schlagworte herangelockt, fing das Publikum an, langsam zu kaufen. Um halb zehn Uhr aber lag eine Nummer der Ausgabe vor dem Polizeipräsidenten, und der tüchtige Konstabler, der sie ihm gebracht hatte und durch diese einfache Tat seine Beförderung sicherstellte, starrte erhitzt und schwer atmend auf die röter und röter werdende, kugelförmige Glatze seines Gebieters.

      „Beschlagnahmen!“ brüllte der Allgewaltige auf und trommelte wie besessen mit beiden Fäusten auf den Tisch.

      „Ich habe mich erkundigt“, antwortete der übereifrige Beamte. „Keine Nummer befindet sich mehr im Redaktionsgebäude. Alles ist bereits unter die fliegenden Händler verteilt.“

      „Beschlagnahmen!“ kreischte der Herrscher über ein Heer von Polizisten, und das Rot seiner Glatze nahm einen bläulichen Schimmer an. „Beschlagnahmen! Beschlagnahmen! ...“

      Er schrie es noch, als der dienstbeflissene Konstabler längst aus dem Zimmer war, und sämtliche Fernsprechleitungen des Riesengebäudes