Die verschwundene Melodie. Arno Alexander

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Название Die verschwundene Melodie
Автор произведения Arno Alexander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711625989



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„Vor zwei Wochen erstattete einer der reichsten Männer Chikagos Anzeige wegen eines ganz ähnlichen Falles. Er hatte aus London nach Philadelphia die Bestätigung seines Kaufauftrages auf ein Gelände in Illinois gedrahtet. Das Telegramm kam nicht an. Der Bote war spurlos verschwunden, und der Kauf des Geländes kam nicht zustande. Der Mann aus Chikago hätte nämlich nur auf Grund eines Vorkaufsrechtes das Gelände zu einem verhältnismäßig billigen Preis erwerben können. Als er erfuhr, daß sein Vertreter das Kabel nicht erhalten hatte, war es bereits zu spät.“

      „Das ist ja unerhört!“ rief der Postdirektor empört aus.

      Mr. Tschuppik sprach kein Wort. Er hatte den Kopf gesenkt und starrte wie geistesabwesend auf eine Fliege, die an seinem Marmortintenfaß herumkletterte. Plötzlich blickte er auf.

      „Was geschah mit dem Gelände?“ fragte er kurz. „Wer kaufte es?“

      Huntington zuckte die Achseln.

      „Bis jetzt niemand. Der Preis, den der Eigentümer verlangt, dürfte wohl zu hoch sein.“

      Im gleichen Tonfall und ohne erkennbare Erregung fuhr Mr. Tschuppik zu fragen fort:

      „Wieviel verlangt der Eigentümer?“

      „350000 Dollars“, antwortete der Detektiv, sichtlich neugierig, worauf Tschuppik hinauswollte.

      „Und wieviel war der Mann aus Chikago bereit zu bezahlen?“

      „275 000 Dollars.“

      Mr. Tschuppik erhob sich.

      „Hören Sie zu, Mr. Huntington“, sagte er mit Nachdruck. „Sie fahren jetzt sofort mit mir nach Illinois. Ich kaufe das Gelände. Ihr Verdienst bei Zustandekommen des Geschäftes beträgt zwei vom Hundert, also siebentausend Dollars.“

      Huntington sprang erregt auf.

      „Sie wollen das Gelände kaufen? Ohne es je gesehen zu haben? Ohne auch nur annähernd seinen tatsächlichen Wert zu kennen? Wirklich?“

      „Ich habe gesagt, daß ich es kaufe. Es genügt, wenn ich es einmal sage, Mr. Huntington“, entgegnete Tschuppik frostig. Dann wandte er sich an den gänzlich verstörten Postdirektor: „Sie entschuldigen schon, aber wie Sie sehen, bin ich jetzt beschäftigt. Daher — Sie verstehen — muß ich Sie jetzt bitten ...“ Seine Miene vollendete den Satz.

      „Gewiß, gewiß“, stotterte Hähnel betroffen, „aber die Geschichte mit dem Telegramm ... Es ist doch eine höchst wichtige Angelegenheit! Das müßte doch zunächst in aller Ruhe besprochen werden ...“

      „Von zwei wichtigen Sachen wähle ich stets die wichtigere“, war Tschuppiks kühle Antwort. „Das ist im Augenblick der Geländekauf. Das andere ordnen wir bei Gelegenheit.“

      Mr. Tschuppik konnte blitzschnell handeln, wenn er es für nötig hielt. Fünf Minuten darauf stand der Postdirektor Hähnel auf der Straße und blickte dem davonfahrenden Wagen des Millionärs nach. Er dachte darüber nach, wie würdelos doch Mr. Tschuppiks Benehmen gewesen sei. Wie ein Lehrling war er treppauf und treppab gelaufen; wie ein kleiner Krämer hatte er mit den Armen gefuchtelt und wie ein Kutscher geflucht. Und das nannten diese Emporkömmlinge „arbeiten“?

      Hähnel schüttelte mißbilligend den Kopf und machte sich auf den Weg ins Büro. Im Laufe dieses Tages bemerkten seine Untergebenen, daß er langsamer und würdevoller denn je arbeitete.

      4

      Mr. Frederick Manhattan frühstückte. Er hatte gerade das dritte weichgekochte Ei mit seinem kleinen, silbernen Teelöffel eingeschlagen, als sich die Tür lautlos öffnete, und sein Kammerdiener mit der Morgenpost den Raum betrat. Mit eherner Miene näherte er sich seinem Herrn und überreichte ihm auf einer goldenen Schale drei Briefe und zwei Postkarten.

      „Ist das alles, Lux?“ fragte der Hausherr.

      „Jawohl, Mr. Manhattan“, antwortete „Lux“, der in Wirklichkeit Jack Hunter hieß.

      „Es ist wenig, Lux.“

      „Sehr wenig, Mr. Manhattan“, pflichtete der getreue Diener bei.

      Diese Unterhaltung bot nichts Außergewöhnliches, denn sie wiederholte sich in denselben Worten und demselben Tonfall jeden Morgen. Lux erwartete nun die nächste Frage, die sich auf das Wetter bezog, worauf er dann gewöhnlich wieder gehen durfte.

      Jack Hunter hatte allen Grund sich zu wundern, denn die Frage nach dem Wetter blieb heute aus. Mr. Manhattan hatte sich vorgebeugt und starrte mit derart entsetzten Blicken nach der Schale mit den Briefen, wie sich Lux erinnerte, seinen Herrn nur einmal gesehen zu haben — als sich auf dem Butterbrot eine kleine Spinne vorfand.

      „Ist da nicht wieder ein Brief ohne Marke?“ erkundigte sich Manhattan unvermittelt.

      „So ist es, Mr. Manhattan“, antwortete Lux, und seine Mienen drückten Erstaunen aus. „Dieser Brief wurde vor fünf Minuten durch einen Boten abgegeben.“ Da sein Herr noch immer kein Wort sprach, fuhr er fort: „Im übrigen scheint heute die Sonne, und der Himmel ist fast unbewölkt ...“

      „Scher dich zum Teufel!“ knurrte Mr. Manhattan in plötzlich erwachtem Zorn.

      „Wie Sie wünschen, Mr. Manhattan“, entgegnete Lux gemessen.

      Er hatte die Tür noch nicht erreicht, als Manhattan ihn schon wieder zurückrief. Seine Hand, die einen geöffneten Brief hielt, zitterte leicht.

      „Rufen Sie sofort den Detektiv Huntington her!“ kreischte er. „Sofort!“

      „Mr. Huntington wird sogleich hier sein. Er wartet unten.“

      „Er wartet? Warum meldeten Sie ihn denn nicht an, Sie Kamel?!“

      Lux zog kaum merklich die Brauen in die Höhe.

      „Mr. Huntington wünschte nicht zu stören. Seit etwa acht Tagen wartet er jeden Morgen über eine Stunde hier, will aber nur dann vorgelassen werden, wenn Sie selbst nach ihm verlangen.“

      „Verrückt! Das hätten Sie mir melden müssen! Ich erwarte von Ihnen, daß Sie mich über alles unterrichten, was in meinem Hause vorgeht. Verstanden?!“

      Der Diener nickte ernst.

      „Sehr wohl, Mr. Manhattan. Es ist mir auch lieber, wenn ich vor Ihnen keine Geheimnisse zu haben brauche. Es tat mir weh, Ihnen bis jetzt verschweigen zu müssen, daß Mr. Huntington acht Tage lang hier frühstückte und dabei jedesmal vier Eier verzehrte. Ich habe ihm gesagt, daß Sie zum Beispiel nur drei zu essen pflegen, aber er antwortete, mit weniger als vier könne er nicht gut gedeihen. Wir haben somit einen Verlust von zweiunddreißig Eiern. Sie werden verstehen ...“

      „Ich verstehe, daß Sie ein Esel sind! Rufen Sie sofort Huntington. Schnell!“

      Lux sollte heute aus dem Staunen nicht herauskommen. Zwei Minuten später meldete er nämlich kühl und gelassen wie immer, doch mit merklich schwankender Stimme:

      „Mr. Huntington ist nicht mehr da. Es ist das erstemal, daß er gegangen ist, nachdem er erst drei Eier verzehrt ...“

      Manhattan warf mit einer zornigen Gebärde den Kopf zurück.

      „Ah! Zum Donnerwetter!“ knurrte er wütend. „Lassen Sie mich mit dem Kram ungeschoren!“ Nach einer Weile beruhigte er sich und fügte in verändertem Ton hinzu: „Nun, Huntington wird schon wiederkommen. Das hat auch schließlich keine Eile. Aber jetzt muß ich vor allem einen Notar haben. Ich will nämlich mein Testament machen. Wie finden Sie diesen Gedanken, Lux?“

      Der Diener wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

      „Sehr beachtenswert, Mr. Manhattan. Ich sagte dies schon, als Sie vor zwei Monaten Ihr letztes Testament machten. Jeder Mensch sollte ab und zu ein Testament machen.“

      „Reden Sie kein Blech! Nur ein Mensch mit Geld kann und soll ein Testament machen. Ich habe Geld, und ich will es unter meinen Verwandten gerecht verteilen. Keinen Cent sollen sie bekommen. Ich weiß ganz