Die verschwundene Melodie. Arno Alexander

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Название Die verschwundene Melodie
Автор произведения Arno Alexander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711625989



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als ich krank war? Sie täuschen sich: auch sie ist nicht besser als die anderen. Sie pflegte mich nur, damit ich ihr etwas vermache. Ich habe ihr jeden Morgen klargemacht, daß sie in meinem Testament mit keinem Cent bedacht ist. Sonst hätte ich den Abend nicht mehr erlebt; sie hätte mich sofort vergiftet — verlassen Sie sich darauf!“

      „Nicht alle Menschen sind so schlecht“, widersprach Lux abermals traurig.

      „Alle!“ schnitt Manhattan ab. „Wieviel hatte ich übrigens Ihnen vermacht, Lux?“

      „Nichts“, antwortete der Diener gelassen.

      „Hm ... etwas wenig ... nicht wahr ... hm ...“ meinte Manhattan unsicher.

      „Oh, nicht doch!“ entgegnete Lux höflich. „Bei einiger Sparsamkeit läßt sich schon eine Zeitlang ganz nett davon leben.“

      „Ich werde Sie diesmal mit achttausend Dollars bedenken!“ erklärte Manhattan gnädig.

      „Ich danke Ihnen, Mr. Manhattan! Ich werde mich als reicher Mann fühlen, bis Sie Ihr übernächstes Testament machen.“

      „Sie sind ein Schaf! Das Testament, das ich jetzt mache, ist mein allerletztes. Unwiderruflich! Punktum!“

      Lux schickte sich an, seines Weges zu gehen.

      „Ich weiß“, nickte er, „ganz so wie immer, Mr. Manhattan.“

      5

      Mit halber Geschwindigkeit fuhr der Expreßzug um die gefährliche Kurve bei Norwalk. Der Lokomotivführer Tom Dryer war ein gewissenhafter und vorsichtiger Mann; obwohl die Vorschrift lautete, die Kurve mit vierzig Stundenkilometer zu durchfahren, zeigte sein Tachometer hier nie mehr als dreißig.

      „Das reinste Schneckentempo“, knurrte der Heizer und warf einen ungeduldigen Blick auf die Uhr. „Es wird wieder Mitternacht, bis wir nach New York kommen.“ Er saß auf einer rußbedeckten Kiste, hatte die in dicken, plumpen Stiefeln steckenden Füße weit von sich gestreckt und hielt in der einen Hand eine Kohlenschaufel, in der andern eine halbleere Whiskyflasche. Wenn es nach New York ging, konnte man es ihm nie schnell genug machen, denn in der Stammkneipe warteten seiner verbotene Genüsse. „Verrückt! Soll das ein Expreßzug sein?“ murrte er und tat einen tiefen Schluck aus seiner Flasche.

      Tom Dryer ließ sich nicht beirren. Er stand breitbeinig, die kalte Pfeife zwischen den Zähnen, vor seinen Hebeln und beobachtete scharf das durch den grellen Scheinwerfer hell beleuchtete Gleis.

      „Mein Vater verunglückte an dieser Stelle, obwohl er bestimmt nicht mehr als vierzig Kilometer fuhr“, sagte er gelassen. „Man hat damals versucht nachzuweisen, daß er in jener Nacht schneller gefahren ist. Sachverständige haben ein Gutachten abgegeben, wonach er mindestens eine Geschwindigkeit von sechzig Kilometern gehabt haben mußte. Ich weiß es besser — oft genug erklärte mir mein Vater, daß es heißt, mit Menschenleben spielen, wenn man auch nur einen einzigen Kilometer mehr hat, als die Vorschrift lautet. — Und darum fahre ich hier nie über dreißig Kilometer.“

      Der andere brummte etwas Unverständliches.

      Tom warf einen Blick auf die Strecke, dann rückte er einen Hebel weiter. Die Riesenlokomotive zog sofort an: der Geschwindigkeitsmesser stieg langsam wieder auf sechzig.

      „Jetzt fahren wir gleich in den Tunnel ein“, bemerkte Tom ruhig, zog ein Feuerzeug aus der Tasche und versuchte seiner ausgegangenen Pfeife neues Leben einzuflößen. „Hier zum Beispiel kann ich mit gutem Gewissen sechzig Kilometer wagen. Das Durchfahren des Tunnels dauert drei Minuten, und die Strecke ist kerzengerade.“

      Nun schien der Heizer mit der Geschwindigkeit zufrieden. Er stand langsam auf und bot Tom seine Flasche.

      „Siehst du“, meinte Tom gutmütig, „sogar einen Schluck Whisky darf ich mir hier gönnen. Dieser Tunnel ist die sicherste Strecke, die es gibt. An seinen beiden Enden sind Wachen aufgestellt, damit ja kein Mensch oder Tier da hineinläuft. Daher also ...“ Er nahm sich nicht die Mühe, den Satz zu vollenden, denn das Schreien strengte ihn zu sehr an. Mit einem zufriedenen Lächeln führte er die Flasche an den Mund. Dann beugte er sich gewohnheitsmäßig vor und warf einen Blick auf die Strecke.

      Im selben Augenblick lief ein Zittern durch seine stämmige Gestalt. Die Flasche fiel klirrend zu Boden. Jählings packten die klobigen Hände Toms zu und gaben Gegendampf. Ein Kreischen, ein Ruck! Der Heizer flog gegen die Kesseltür; Tom hielt sich krampfhaft an der Seitenwand fest und starrte hinaus. Ein Rütteln durchzitterte den Zug von der Lokomotive bis zum letzten Wagen. Gleich darauf heulte die Dampfpfeife schaurig durch den Tunnel. Der Zug stand still.

      Sekundenlang herrschte beängstigende Stille. Erst leise, dann immer lauter hallten Schreie durch die Nacht, die vom Echo verstärkt zurückgegeben wurden. Schaffner mit bestürzten Gesichtern und erschrockenen Augen kletterten auf die Lokomotive, stellten Fragen — wirr und zusammenhanglos.

      Tom lehnte jetzt mit kraftlos herabhängenden Armen in einer Ecke. Sein Gesicht war entstellt vor Entsetzen. Endlich hob er langsam die Hand und deutete mit abgewandtem Kopf auf die hell erleuchteten Schienen.

      „Da ... da ...“ stammelte er und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Seine Angst, das unbekannte Grauenhafte sehen zu müssen, teilte sich auch den Umstehenden mit. Nur zögernd beugten sie sich vor und starrten hinaus. Da sahen es alle: Vor der Lokomotive, nur knapp zehn Meter entfernt, lag mitten auf dem Gleis eine menschliche Gestalt.

      Einige Reisende hatten sie inzwischen auch bemerkt. Eine von Minute zu Minute wachsende Gruppe von Menschen sammelte sich um den leblosen Körper. Es war ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren. Ihr dünnes, schwarzes Kleid war von langen, klaffenden Rissen durchzogen, und die seidenen Strümpfe wiesen große Löcher auf. Blondes, lockiges Haar bedeckte wirr das an mehreren Stellen zerschundene Gesicht, und die halbentblößten Arme waren schmutzig und blutig.

      „Tot?“ fragte jemand bedrückt, als sich ein Arzt über sie neigte.

      „Nein, das Herz schlägt noch“, antwortete er und tastete sorgfältig ihre Glieder ab. Als er den linken Arm berührte, lief plötzlich ein schmerzliches Zucken über das Gesicht des Mädchens, und ein leises Stöhnen wurde hörbar. Dann lag sie wieder still, wie leblos, mit geschlossenen Lidern da.

      „Komplizierter Unterarmbruch und Gehirnerschütterung“, erklärte der Arzt endlich. Er ordnete die Unterbringung der Verunglückten in einem leeren Abteil an und machte sich sogleich daran, einen Notverband anzulegen.

      Die Reisenden standen in kleinen Gruppen überall umher und besprachen eifrig den sonderbaren Fall.

      „Sie kann nur aus dem Personenzug gestürzt sein, der vor etwa einer Stunde den Tunnel durchfuhr“, äußerte sich schließlich ein Bahnbeamter dazu.

      „Was veranlaßte Sie denn, plötzlich zu halten?“ wandte sich der Zugführer an Tom. „Gesehen können Sie das Mädchen doch nicht haben.“

      „Im letzten Augenblick leuchtete vor der Einfahrt in den Tunnel rotes Licht auf“, gab Tom zögernd zurück, denn er war nicht ganz davon überzeugt, daß er die Wahrheit sprach. Zwar hatte er vordem genau das grüne Licht gesehen, aber das rote konnte unter Umständen auch um einige kostbare Sekunden früher aufgeflammt sein.

      Schweratmend kam plötzlich ein Bahnwärter herbeigerannt.

      „Ich sah schon den Zug“, erklärte er auf die Frage des Zugführers, „als von New York die telephonische Weisung kam, die Durchfahrt zu sperren.“

      Diese Erklärung schien den Zugführer zu beruhigen.

      „Wir fahren weiter“, sagte er zu Tom, der blaß und stumm an seiner Maschine lehnte. „Durch Ihre Aufmerksamkeit haben Sie ein Menschenleben gerettet. Ich werde dafür Sorge tragen, daß Sie eine Belohnung bekommen.“

      Der Lokomotivführer gab keine Antwort. Schweigend kletterte er auf seine Maschine und ließ den Dampf in die Zylinder strömen. Mit dumpfem Getöse setzte sich der Zug gleich darauf wieder in Bewegung.

      Seit jenem