Nord-Nordwest mit halber Kraft. Arno Alexander

Читать онлайн.
Название Nord-Nordwest mit halber Kraft
Автор произведения Arno Alexander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711625996



Скачать книгу

enttäuschte auch nicht die allgemeine Erwartung. Auf seinen Wink hin brachten zwei neuangeworbene malaiische Stewards Sektflaschen und Gläser herbei, und obwohl sie aus Mangel an Übung mit diesen Dingen ziemlich ungeschickt umgingen, gelang es ihnen doch nach einer Weile, ohne ernsteren Zwischenfall vor jeden Tischgast einen gefüllten Sektkelch hinzustellen. Der Kapitän stand auf und hielt die Rede auf das Wohlgelingen der Fahrt, deren einzelne Worte er besser kannte als das Vaterunser. In nichts unterschied sich diese Rede von den vielen, die er an diesem Tisch schon gehalten hatte, als im Ton, der heute rauher war als sonst. Mehrmals sah er während der Rede Erika an, aber nicht einmal dann, als sie ihm freundlich zulächelte, kam er ins Stocken. Manchmal, bei einer scherzhaften Wendung, unterbrach ihn ein kurzes Gelächter, und die Gesichter der Gäste leuchteten beifällig freundlich, sichtlich zufrieden mit der rednerischen Leistung des Kapitäns. Hätte aber jetzt jemand Grady unterbrochen, so wäre er hilflos steckengeblieben, da er nicht wusste, bei welcher Stelle seiner schönen Rede er war. Seine Gedanken waren in Bremen. Er sah alle diese Fahrgäste mit frohen Gesichtern den Dampfer verlassen, und nur eine nicht ... Erika nicht ...

      „Hoch, hoch, hoch!“, riefen die Passagiere und hoben ihre Gläser. Alle wollten mit dem Kapitän anstossen. Auch Erika kam auf ihn zu. Für eine Sekunde kreuzten sich ihre Blicke, dann drängten sich andere Menschen dazwischen, aber Kapitän Grady hatte plötzlich vom Anstossen genug. Er trank sein Glas auf einen Zug leer und setzte es allzu heftig auf den Tisch. Der Fuss brach ab, das Glas kippte um, und Scherben klirrten.

      Frau Professor Kaufmann war es, die sofort äusserte, Scherben brächten Glück. Man nahm es ihr nicht übel, denn hätte sie die Bemerkung unterlassen, so wären zehn andere bereit gewesen, dieselbe wichtige Feststellung zu machen. Ausserdem war man jetzt in bester Stimmung, und der Abend versprach wirklich hübsch zu werden.

      Einzelne Damen und Herren hatten Abendkleider angelegt, und auch die anderen, die das unterlassen hatten, machten einen festlichen Eindruck. Nur Wolfgang Diersch in seinem hellgrauen Anzug passte nicht recht zu dem Bild. Der Anzug sass schlecht, und die graue Farbe des Stoffs war nicht einheitlich, es schien fast, als hätte man an diesem Stoff neuartige Bleichversuche unternommen, die stellenweise auch durchaus gelungen waren. Mancher mitleidige Blick streifte den jungen Mann; er aber schien sich nicht im mindesten bemitleidenswert zu fühlen, denn sein Gesicht strahlte vor Glück. Die Ursache dieser Freude blieb niemandem verborgen: Wolfgang Diersch sass neben Erika, und diese Frau sah in ihrem dunkelblauen Abendkleid so verführerisch aus, dass mancher andere Mann Diersch um seinen Platz beneidete.

      „Wissen Sie auch, dass ich diesen Zufall, Ihre Nachbarin zu sein, ganz entzückend finde?“ wandte sich Erika an Diersch und sah sich ein wenig vorsichtig um, ob ihr Nachbar zur Rechten, Ossip Prochorow, diese Worte nicht gehört hatte.

      „Das freut mich riesig“, antwortete Diersch. „Aber Zufall ...? Wer sagt denn das? Ich habe ihm nachgeholfen! Drei Schillingstücke rollten in die sehnsüchtig geöffnete Hand eines Stewards, und schon gehörte mir der Platz ... Wie konnten Sie glauben, dass ich die Verleihung dieses Platzes einfach dem Zufall überlasse?“

      „Aber Sie hätten für Ihre Schillinge sicherlich eine bessere Verwendung finden können ...“

      „Ganz undenkbar“, widersprach er. „Und dann — wenn Sie recht hätten: ich habe ja noch fünf Schillinge ... “

      „Ist das alles, was Sie noch haben?“ fragte sie erschrocken.

      „Augenblicklich ja. Aber in Deutschland werde ich Arbeit bekommen und dann schnell reich werden ... Das heisst — ich will ja gar nicht reich werden, ich will nur, dass es mir gut geht ... Aber was haben Sie denn?“ Er sah sie erstaunt an, denn so deutlich wie ein Spiegel verrieten ihre Züge Verwirrung.

      „Ach, nichts ...“, wehrte sie ab. „Bitte, sprechen Sie weiter. Also Sie wollen, dass es Ihnen gut geht ...“

      Einen Augenblick lang sah er in ihr blasses Gesicht, aber es schien ihm jetzt ganz unbefangen zu sein. Wahrscheinlich hatte er sich vorhin getäuscht. Während er lebhaft von seinen nächsten Plänen erzählte, merkte er nicht, wie sich die Frau etwas nach der anderen Seite lehnte, und er spürte auch nicht, dass sie ihm eigentlich gar nicht mehr richtig zuhörte. So sehr sie sich aber bemühte, noch etwas von dem Gespräch Prochorows mit seinem Sekretär zu erlauschen, es gelang ihr nicht, die beiden sprachen zu leise. Nur die ersten Worte Prochorows hatte sie gehört: „Dieser Deutsche gefällt mir nicht. Der ist für uns gefährlich. Unser Plan —“ Mehr noch als diese Worte hatte ihr Ton sie verwirrt: es war ein herrischer, brutaler Ton gewesen, wie sie ihn an dem stets rücksichtsvollen Prochorow nicht gewöhnt war.

      Ignatjew kannte diesen Ton bedeutend besser. Und auch die Worte selbst hatten ihn nicht verwundert. Im Innern gab er Prochorow recht. Eine Weile hatte er nicht geantwortet und nur nachdenklich mit dem Teelöffel in der Nachspeise herumgestochert. Dann endlich sagte er sehr leise, ohne aufzublicken:

      „Sie müssten mit ihm bekannt werden.“

      „Er scheint arm zu sein“, antwortete Prochorow, und auch er sprach jetzt leiser. „Vielleicht ist da mit Geld was zu erreichen; wenn nicht —“

      „Versuchen Sie es“, riet Ignatjew.

      Prochorow nickte. Die beiden hatten einander verstanden.

      Das Abendessen war beendet, und die Stewards trugen leicht schwankend das Geschirr hinaus. Der Wellengang war mässig, und alle Passagiere befanden sich noch wohlauf. Die Gespräche, die am Tisch geführt wurden, neigten sich aber bereits bedenklich dem Hauptthema: Seekrankheit zu. Jeder wusste von einem unfehlbaren Mittel zu berichten, aber es fanden sich stets andere, die dieses Mittel längst versucht und als nutzlos befunden hatten.

      „Ich habe immer einen Kirschkern in den Mund genommen“, behauptete Frau Professor Kaufmann, „und ich bin noch nie seekrank geworden ...“

      „Sie hatten wohl immer gutes Wetter?“ erkundigte sich Scott mit seinem empörend gleichmütigen Gesichtsausdruck.

      „Wie meinen Sie das?“, fragte sie spitz. „Soll das heissen. Sie glauben ...“

      Der Kapitän wünschte keinen Streit, und er mischte sich lachend ein:

      „Meine Damen und Herren, ich finde, wir sprechen viel zu früh von Seekrankheit. Von dem bisschen Schaukeln da wird kein Mensch krank ...“

      „Meinen Sie wirklich?“ fragte Frau Professor Kaufmann und stand plötzlich beängstigend schnell auf. Ihr Gesicht war grünlich gelb, und ihr ganzes Streben ging im Augenblick dahin, rechtzeitig den Ausgang zu erreichen.

      „Verlieren Sie den Kirschkern nicht!“ rief Mr. Scott freundlich. Dieser Satz trug ihm einen giftigen Blick des kleinen schmächtigen Mannes ein, der neben Frau Professor Kaufmann gesessen und bis jetzt geschwiegen hatte. Der Blick war so ausdrucksvoll, dass Mr. Scott sich höflich vorneigte und fragte: „Sagten Sie etwas?“

      „Nein?“, erwiderte das Männchen böse. „Aber jetzt will ich Ihnen sagen, dass es unschön ist, wie Sie sich über diese kranke Dame lustig machen. Meine Frau ...“

      „Sie sind Professor Kaufmann?“ fragte Scott erstaunt. Er hatte geglaubt, dieser Professor sei sonstwo, nur nicht hier. „Der Mann, der den Vogel gefunden hat?“

      „Allerdings, und ich ...“

      Frau Professor Kaufmann trat wieder ein, und der kleine Mann verstummte jäh.

      „Ich muss mir den Magen verdorben haben“, meinte die Frau, deren Gesicht jetzt wieder einen rötlichen Schimmer zeigte. „Seekrankheit kann es nicht sein, denn der Kirschkern hilft immer ...“

      Ein älterer Herr mit einem kleinen grauen Spitzbart, der schon längst in einem offenbar wissenschaftlichen Buch las, blickte auf.

      „Meine Damen und Herren“, sagte er ernst. „Dies ist vielleicht meine fünfzigste Dampferreise, und ich kann daher wohl sagen, ich spreche aus Erfahrung. Es gibt wirklich nur ein Mittel gegen die Seekrankheit, allerdings ein ganz unfehlbares ...“

      „Nämlich ...?“

      „Mit der Eisenbahn fahren“, sagte der Mann