Nord-Nordwest mit halber Kraft. Arno Alexander

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Название Nord-Nordwest mit halber Kraft
Автор произведения Arno Alexander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711625996



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hätte in der Politik ein Wort mitzureden.

      „Wer ist der junge Mann an dem Fenster dort?“ fragte sie leise.

      „Es heisst: an das Fenster“, verbesserte Dr. Pembroke mit ruhiger Bestimmtheit. Dann fuhr er in englischer Sprache fort, da seine „1000 Worte Deutsch“ zu dem beabsichtigten Satz nicht ausreichten. „Wolfgang Diersch, ein deutscher Ingenieur, hat vier Jahre lang in Kairo Häuser gebaut ... Dann ging das Bauunternehmen pleite ... Sechs Monate lang suchte er anderweitig Arbeit — vergebens. Man zog Engländer vor. Jetzt fährt er nach Hause ...“

      „Very nice“, sagte Mr. Scott, der mit halbem Ohr zugehört hatte. „Steht das alles in der Passagierliste?“

      „Nein“, antwortete der Schiffsarzt.

      „Woher wissen Sie es dann?“ fuhr Mr. Scott beharrlich fort.

      „Sie fragen sehr viel ... zu viel“, warf Dr. Pembroke nachlässig hin und machte sich an einer schwarzen Zigarre zu schaffen.

      Maud Kassala hielt es für angebracht, Scotts Frage zu beantworten:

      „Die ständigen Unruhen in unserem Land machen eine genaue Überwachung verdächtiger Elemente notwendig. Wahrscheinlich ist es bei diesem jungen Deutschen überflüssig gewesen, aber man kann das nicht vorher wissen ...“ Sie wollte in ihren Erklärungen fortfahren, aber Mr. Scotts gleichgültiges Gesicht machte sie verstummen.

      „Oh“, rief der Schiffsarzt, „dieser junge Mann scheint auch anderen Frauen zu gefallen!“

      In demselben Augenblick, als Dr. Pembroke diese Feststellung machte, schreckte Wolfgang Diersch jäh aus seiner Versunkenheit auf. Eine schmale Frauenhand hatte leicht seinen Arm berührt. Er sah auf, und auf seinem Gesicht zeigte sich deutlich das Erstaunen über die Schönheit dieser schlanken blonden Frau. Fast noch mehr überraschte ihn aber der angstvolle, erschrockene Ausdruck ihres Gesichts.

      „Sprechen Sie deutsch?“, fragte sie hastig, sehr leise. „Bitte, sprechen Sie mit mir — irgend etwas ... Tun Sie, als unterhielten wir uns schon eine Weile ... Ich bitte Sie ...“

      „Gnädige Frau, ich begreife nicht ...“

      „Sehen Sie den Mann in der Uniform?“

      „Den grossen, schlanken Schwarzhaarigen?“

      „Ja. Er verfolgt mich ...“

      „Gnädige Frau, Sie irren sich gewiss. Das ist der Dritte Offizier dieses Dampfers ...“

      „Bitte, erzählen Sie etwas, ganz gleich was ... Dann kommt er nicht hierher ... Er wollte auf mich zukommen, da wandte ich mich an Sie ...“

      „Verzeihen Sie, gnädige Frau, aber diesem Mann werden Sie doch auf die Dauer unmöglich ausweichen können. Versuchen Sie doch, sich etwas zu beruhigen ... Was kann Ihnen denn hier geschehen, hier, unter soviel Menschen? Reisen Sie allein?“

      „Nein, Herr Prochorow, ein Freund, begleitet mich ...“

      Diersch unterdrückte die Frage, warum sie sich nicht an diesen Freund halte. Es war etwas an dieser Frau, was ihn nachsichtig stimmte. Vielleicht war es das Deutsche an ihr. Viereinhalb Jahre war er seiner Heimat ferngewesen. Er sehnte sich nach Deutschland und nach einer deutschen Frau.

      „Waren Sie lange in Ägypten?“ fragte er.

      „Seit fünfzehn Jahren“, sagte sie, und jetzt war an ihrer Haltung nichts mehr auszusetzen. Sie lehnte wieder nachlässig am Fenster und blickte hinaus, während sie mit ihm sprach. Es sah so aus, als unterhielten sich zwei einander sehr fremde Menschen über gleichgültige Dinge.

      „So lange?“ fragte er. „Sie haben Deutschland fünfzehn Jahre lang nicht gesehen?“

      Sie schüttelte den Kopf.

      „Aber Sie sind doch sicherlich in jedem Blutstropfen deutsch?“ fuhr er fort.

      „Ich stamme aus dem Rheinland“, antwortete sie tonlos. „Vor fünfzehn Jahren musste mein Vater seiner Gesundheit wegen das Klima wechseln, und wir zogen nach Ägypten. Später, als er starb, fehlte es an Geld, und als mich vor einigen Jahren auch die Mutter für immer verliess, wurden meine Aussichten, Deutschland wiederzusehen, noch geringer.“

      „Und jetzt? Wie ist es denn jetzt doch möglich geworden?“

      Sie stutzte.

      „Ich kann Ihnen das jetzt nicht sagen ... Seien Sie mir nicht böse ...“

      Er begriff sofort.

      „Wir kennen einander ja noch gar nicht richtig — Sie haben recht. Gut, dann will ich Ihnen von mir erzählen. Ich habe gerade sechs Monate verzweifelte Arbeitssuche hinter mir. Man wollte mich oft anstellen, aber dann zerschlug sich die Sache doch immer, weil zuerst die Engländer Arbeit haben müssen. Sehen Sie mich nicht so mitleidig an — das liegt ja nun hinter mir. Und jetzt? Jetzt fahre ich nach Hause, nach Deutschland! Meinen Anzug dürfen Sie nicht so aufmerksam betrachten. Er ist nicht besonders, aber es war der billigste, den ich kaufen konnte ... Das Geld dazu bekam ich vom deutschen Konsulat ... Ich bin ganz arm, aber das macht nichts. Vielleicht hat mein Vater noch etwas Geld. Ich habe ihm vier Jahre lang fast meinen ganzen Verdienst nach Berlin geschickt, und davon hat er sich ein kleines Häuschen gekauft. Dort stehen zwei junge Birnbäume, und ein paar Hühner laufen da herum. Eine Ziege wollte Vater auch anschaffen, aber ich habe jetzt schon lange keine Nachrichten von ihm ...“

      „Ich beneide Sie“, sagte sie leise. „Ich möchte noch einmal so jung und lebensfroh werden wie Sie ...“

      „Ich bitte um Verzeihung!“ sagte eine harte Männerstimme dicht neben ihnen. Die Worte wurden in einwandfreiem Deutsch gesprochen.

      Diersch und die Frau wandten sich um. Neben ihnen stand der Dritte Offizier. Sein Gesicht war eine glatte, kühle Maske.

      „Dürfte ich den Herrn um die Schiffskarte bitten?“ fuhr er fort.

      Diersch kramte in den Taschen seines wirklich wenig eleganten Anzugs.

      „Aha! Hier! Bitte sehr.“

      Der Offizier nahm den Schein mit einer knappen Verneigung in Empfang. Nach einem prüfenden Blick gab er ihn wieder zurück.

      „Sie haben Zwischendeck“, sagte er gemessen und sah über den Kopf des jungen Mannes hinweg. „Fahrgäste des Zwischendecks haben zu den Gelellschaftsräumen keinen Zutritt.“

      „Wieso? Ich ...“ Diersch stutzte. Sein Gesicht wurde plötzlich blutrot. „Das heisst wohl, ich soll von hier verschwinden?“

      „Ganz recht, mein Herr“, antwortete der Offizier und verneigte sich wieder ein wenig. Seine Haltung war einwandfrei höflich, aber sie wirkte wie eine ausgesuchte Boshaftigkeit. „Der Herr befindet sich in meiner Gesellschaft“, mischte sich die Frau ein. „Ich denke, das genügt?“ Ihre Stimme zitterte ein wenig.

      „Das genügt leider nicht“, widersprach der Offizier. „Wir haben sehr genaue Anweisungen ...“

      „Gut“, lenkte Diersch ein. „Gegen Anweisungen ist nichts zu machen. Ich werde also gehen. Aber nicht eher, als bis ich meine Unterhaltung mit dieser jungen Dame beendet habe.“

      Durch den Wortwechsel aufmerksam geworden, waren die Passagiere aufgestanden und drängten sich neugierig heran. Auch Prochorow eilte herbei, denn er hatte bemerkt, dass die Dame, deren Freund er war, sich im Mittelpunkt der Gruppe befand. Ein paar rasche Fragen, und er war unterrichtet.

      „Erika“, rief er streng, „ich wünsche nicht, dass du dich mit Zwischendeckpassagieren abgibst ...“

      „Mein Herr“, wandte sich der Offizier von neuem an Diersch, ‚Sie verursachen hier einen Auflauf. Bitte, verlassen Sie sofort diesen Raum.“

      „Was kostet die Zuschlag zu der Fahrschein?“ fragte eine hohe, klangvolle Frauenstimme. Das war die Stimme Maud Kassalas.

      Der Offizier wandte sich um.

      „Sechseinhalb Pfund.“

      Maud