Nord-Nordwest mit halber Kraft. Arno Alexander

Читать онлайн.
Название Nord-Nordwest mit halber Kraft
Автор произведения Arno Alexander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711625996



Скачать книгу

ist der Fall erledigt.“

      „Halt!“ rief Diersch. „Das stimmt nicht. Ich danke der jungen Dame für ihr Eingreifen, muss aber die Hilfe leider ablehnen. Ich gehe. Jetzt ist der Fall erledigt.“

      „Very nice“, warf Mr. Scott ein. „Würden Sie, Herr Diersch ... Verzeihen Sie, dass ich Ihren Namen schon kenne, aber ich kenne ihn eben ... Würden Sie mir gestatten ... als eine Art Sympathiekundgebung sozusagen, für Sie die sechseinhalb Pfund auszulegen? Würde es mir zur Ehre anrechnen.“

      Plötzlich strahlte das Gesicht des jungen Mannes.

      „Darf ich um Ihren Namen bitten?“

      „Scott aus Liverpool.“

      „Mr. Scott, ich habe keine Bedenken, von Ihrem Anerbieten Gebrauch zu machen. Sie geben mir Ihre Adresse ...“

      „Gewiss. Gern. Der Herr Offizier wird vielleicht die Freundlichkeit haben, den Zahlmeister hierher zu bitten. Und nun finde ich, dass wir diese junge Dame und Herrn Diersch lange genug in ihrer Unterhaltung gestört haben ... Hm?“

      Die Passagiere begaben sich mit belustigten Gesichtern wieder an ihre Plätze. Nur Maud Kassala und Ossip Prochorow schienen mit dem Ausgang der Sache nicht zufrieden zu sein. Und ihre Gesichter wurden auch nicht fröhlicher, als der Schiffsarzt sein Bierglas hob und laut in deutscher Sprache rief:

      „Eine dreifache Hurrah auf der edle Mr. Scott!“

      Alles stimmte begeistert ein, und niemand fiel es auf, dass Dr. Pembroke auf Diersch zueilte und ihm kräftig die Hand drückte.

      „Sie hätten unbedingt ablehnen müssen“, sagte der Schiffsarzt. „Jetzt haben Sie sich eine Feindin geschaffen. Entschuldigen Sie sich bei der Kassala. Ich fürchte zwar, dass auch das nichts mehr nützt.“ Dieses Mal hatte Dr. Pembroke englisch gesprochen.

      2.

      Die Uhr war sieben. Der Steward lief eilig durch alle Räume und schlug auf seinen Gong. Einzelne Gruppen der Passagiere strebten bereits dem Speisesaal zu. Manche hatten sich zum Abendessen umgezogen, die meisten hielten dies bei der herrschenden Wärme nicht für angebracht.

      Der Dritte Offizier war im Begriff, den Zweiten abzulösen, und wollte eben die Kommandobrücke erklettern, als ein Anruf des Kapitäns ihn zurückhielt:

      „Mr. Murphy, auf ein Wort!“

      Der Offizier griff schweigend an den Mützenrand und folgte dem Kapitän in dessen Kajüte. Grady knipste das Licht an, legte seine Mütze auf einen Stuhl und liess sich an den kleinen, mit Karten und Büchern bedeckten Tisch nieder.

      „Sie hatten einen Wortwechsel mit einem Passagier“, fragte er und sah seinen Offizier prüfend an.

      „Jawohl, Kapitän.“

      „Nehmen Sie doch Platz“, sagte Grady, aber der andere blieb nach wie vor stehen, als wolle er damit betonen, dass er diese Unterredung als streng dienstlich auffasse. „Der Vorfall hat peinliches Aufsehen erregt“, fuhr Grady fort. „Sie hätten das taktvoller machen müssen ... Hm ...wenn überhaupt! Es ist zwar die erste Reise, die Sie mit mir machen, und ich kenne Sie daher wenig, doch sind Sie mir als ein sehr tüchtiger Seeoffizier empfohlen worden ... ja ... Als Offizier eines Dampfers, der Passagiere mitführt, haben Sie aber auch die Pflicht, diesen Passagieren den Aufenthalt auf dem Dampfer so angenehm wie möglich zu machen ... Ich wünsche nicht, dass die Fahrgäste sich auf unserem Frachtdampfer weniger wohl fühlen als auf den regelrechten Passagierdampfern. Ich bitte Sie, in Zukunft ... Na, kurz und gut: Sie haben mich verstanden?“

      „Jawohl, Kapitän“, antwortete Murphy wieder. Die Unterredung schien damit beendet zu sein, aber der Offizier stand nach wie vor in sehr aufrechter Haltung an der Tür.

      „Sie können jetzt gehen“, sagte Grady und stopfte sich seine Pfeife.

      „Ich habe eine Bitte“, sagte der Offizier.

      Der Kapitän sah kurz auf.

      „Ja?“

      „Dürfte ich die Passagierliste einsehen?“

      „Gewiss, sie liegt im Rauchzimmer aus“, antwortete Grady.

      „Ich meine die ... andere Liste“, erläuterte der Offizier.

      Der Kapitän stand mit einem Ruck auf, nahm ein blaues Aktenheft von einem Regal und reichte es Murphy. Er sprach kein Wort, aber deutlicher als jedes Wort verriet sein Gesicht heftigen Unwillen.

      Murphy las im Stehen. Er las sehr aufmerksam. Sechsundzwanzig Namen las er und unter jedem dieser Namen die genauen Angaben über den Zweck der Reise, die Pläne und Vermögensverhältnisse jedes einzelnen. Bei den meisten Namen stand der Vermerk „In Ordnung“, bei einzelnen ein längerer Bericht, der mit den zwei Worten „zu beobachten“ schloss. Der Offizier hatte die Liste auf den Tisch gelegt und sein Notizbuch aus der Tasche gezogen. Er schrieb nur einige Worte, dann klappte er sein Büchlein zu und gab dem Kapitän auch die Liste zurück.

      „Nun?“ fragte Grady unmutig. Er wanderte langsam in dem engen Raum auf und ab.

      „Ich glaube nicht, dass alle Passagiere Bremen erreichen werden“, sagte Murphy kühl. „Ausserdem stimmt die Liste nicht.“

      „Bitte, die Liste Scotland Yards stimmt immer“, berichtigte der Kapitän.

      „Lesen Sie bei Nummer 6 nach“, sagte Murphy achselzuckend.

      Grady schlug das blaue Aktenheft auf und las laut:

      „Erika Meissner, geb. Wundt, fünfundzwanzig Jahre alt, Tochter eines deutschen Gutsbesitzers aus dem Rheinland. Politisch unverdächtig. War verheiratet. Ihr Mann vor drei Jahren verstorben. Gesuch um Ausreise bewilligt. Reist in Begleitung von Ossip Prochorow (siehe Nr. 5). In Ordnung.“ Der Kapitän sah auf. „Nun, und?“

      „Sie heisst nicht Meissner, sondern Messner. Sie ist die Frau jenes Messner, dessen Selbstmord vor einigen Monaten in Kairo grosses Aufsehen erregte. Scotland Yard war dahinter gekommen, dass sich der Mann mit Opiumschmuggel befasste. Sein Haus war bereits von Kriminalbeamten umstellt, Flucht unmöglich — da griff er zur Waffe ...“

      „Was hat das alles mit der Frau und ihrer Reise zu tun?“

      „Scotland Yard sucht die Frau seit Monaten, weil sie ihrem Mann bei seinen verbotenen Geschäften geholfen haben soll ...“

      „Ist das bewiesen?“

      „Scotland Yard wird es beweisen.“

      Der Kapitän sagte eine Zeitlang nichts. Mit erregten Schritten ging er auf und ab. Dann blieb er vor Murphy stehen.

      „Woher wissen Sie das?“

      „Ich kenne die Frau.“

      „So!“ Kapitän Grady stampfte wieder zwei, drei Schritte durch das Zimmer. „Ich fange an zu begreifen“, sagte er. „Es war doch diese Frau, mit der sich der Zwischendeckpassagier unterhielt? Sie wollten sie allein sprechen, nicht wahr? Sie wollten sie warnen? Sie wollten ihr sagen, sie möge vorsichtig sein, da auf dem Dampfer unerkannt Inspektor Leith, der gefürchtetste Geheimpolizist Scotland Yards, mitreist. Habe ich recht?“

      „Nein, Kapitän“, versetzte der Offizier ruhig. „Ich habe keine Veranlassung, der Frau schon jetzt zu sagen, dass man sie in Bremen nicht von Bord lassen wird.“

      „Wer wird sie nicht von Bord lassen?“ rief Grady heftig.

      „Sie, Kapitän. Ich werde Sie zur gegebenen Zeit offiziell darum ersuchen.“

      Grady stopfte das blaue Aktenheft mit einer wütenden Bewegung unter einen Stoss Papiere.

      „Ich muss jetzt zum Abendessen“, sagte er kurz. „Sie haben Dienst, Mr. Murphy?“

      „Jawohl, Kapitän.“ Murphy griff an den Mützenrand, drehte sich hart auf dem Absatz um und ging hinaus. Er hörte den grimmigen Fluch seines Kapitäns nicht mehr, aber er wusste