Geschichten aus Nian. Paul M. Belt

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Название Geschichten aus Nian
Автор произведения Paul M. Belt
Жанр Языкознание
Серия NIAN-ZYKLUS
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947086580



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erfuhr. Das bedeutete, man sah ihn hier immer noch als Mitglied einer mächtigen und brutalen Armee – ein wichtiger psychologischer Vorteil. „Sie sind andersherum gegangen. Ich wollte aber hierherkommen, weil mir mein Proviant auf See verloren gegangen ist“, erwiderte Martin. Die Augen dieses Burschen an der Theke gefielen ihm gar nicht. Generell waren ihm Menschen suspekt, denen man nicht ins Gesicht sehen konnte und die sich am helllichten Tage verhüllt in Spelunken wie dieser herumtrieben. Meist hatten sie nichts Gutes im Sinn.

      Oskar begann hämisch zu lachen. „Du scheinst tatsächlich vergessen zu haben, dass die Küche seit Jahren geschlossen hat. Das war bei deinem letzten Besuch so und bei diesem ist es das immer noch. Oder glaubst du, dass hier in der Nachbarschaft“, er holte mit einem Arm weit aus, „plötzlich der Wohlstand ausgebrochen ist?“

      „Lass das Gequatsche. Ich weiß, dass du immer noch etwas im Schrank hattest, auch wenn du schon ewig nichts mehr für Gäste brutzelst“, sagte Martin in einem etwas schärferen Ton.

      Der Wirt zuckte mit den Achseln. „Tut mir leid, mein Junge, aber dieses Mal bist du umsonst gekommen. Das Pack aus der Stadt hat mir die längste Zeit meinen Laden ausgeräumt. Seit ich nichts mehr vorrätig habe, bleiben sie weg. Wenn du willst, kannst du etwas zu trinken haben.“ Er holte eine Flasche hinter der Theke hervor und stellte sie darauf. „Ansonsten würde ich sagen, du verschwindest besser wieder dahin, wo du hergekommen bist.“

      Die Gestalt am Tresen bewegte sich unvermittelt und griff nach der Flasche. Ohne Martin auch nur eine Sekunde aus dem Auge zu lassen, schenkte sich der Bursche sein Glas voll und stellte die Flasche dann wieder ab. In Martins rechtem Arm hatte es kurz gezuckt. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass eine zerbrochene Flasche sich plötzlich in eine Waffe verwandelte, die sich gegen ihn richtete. Was mochte dieser unheimliche Kerl nur vorhaben? Bisher hatte er noch nicht ein Wort gesagt.

      Irgendetwas stimmte hier nicht. Oskar hatte natürlich irgendwo Vorräte versteckt, alles andere hätte nicht zu ihm gepasst. Das aber konnte nur eines bedeuten: Wer immer der Typ auf dem Hocker war, er sollte das nicht wissen. Vielleicht wollte Oskar ihn selbst mit dieser Tour sogar schützen … Es war für ihn eindeutig Zeit zu gehen und vielleicht später noch einmal zu erscheinen. „Mein Sold reicht nicht für dieses elende Zeug“, sagte Martin und nickte der Flasche zu. „Wenn du nichts zu beißen hast, geh ich eben wieder und frag auf dem Weg weiter.“ Gerade wollte er sich umdrehen, als etwas äußerst Merkwürdiges geschah: Die verhüllte Gestalt stand auf, griff an ihre Seite und riss sich dann mit einem einzigen Ruck den Kapuzenmantel vom Körper. Noch während er zu Boden sank, wurde Martin einiges klar.

      Vor ihm stand eine schlanke und hochgewachsene dunkelhaarige Frau im schwarzen Kleid einer Karnola des Königs, an ihrem Gürtel das typische blitzende Rundwurfschwert. Diese äußerst gefährliche Waffe ließ sich im Nah- und Fernkampf einsetzen. Manche Mitglieder des Geheimbundes der Karno hatten sich sogar darauf verlegt, das Schwert so zu werfen, dass es nach Verrichtung der Dinge wieder zu ihnen zurückkehrte. Nur wer exzellent trainiert war, konnte so ein kreiselndes Objekt wagen zu fangen.

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      Oskar wurde leichenblass und duckte sich mit schreckensstarrem Gesicht hinter seine Theke. Auch Martin war mit einem Mal mulmig zumute. Seine Gedanken rasten. Karno-Angehörige waren fast immer weiblich, eiskalt und wurden vom König niemals ohne konkreten Auftrag oder Ziel entsandt. Um Oskar konnte es sich dabei nicht handeln, denn er hatte offensichtlich nicht gewusst, wer da die ganze Zeit über an seiner Bar das vermutlich selbstgebrannte Zeug aus seiner Flasche geleert hatte. Also hatte es etwas mit ihm zu tun …

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      „Kämpfer, wie ist dein Name?“, fragte die Karnola herrisch.

      „Martin“, antwortete der Angesprochene mit so fester Stimme wie möglich.

      „Der vollständige Name!“, fauchte sie mit blitzenden Augen. „Und dein Auftrag!“

      „Martin Darian Kalder, verehrte Karnola“, erwiderte er. „Ich bin Träger einer Botschaft für Kraton den Edlen, unseren ehrenwerten König.“

      Die Karnola schritt nun langsam um ihn herum. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich allmählich zu einem herablassenden Lächeln. „Wenigstens hast du nicht vergessen, was sich gehört“, sagte sie schließlich ein wenig versöhnlicher. „Nenne mir deine Botschaft.“

      Von so viel Dreistigkeit war Martin nun aber doch überrascht. „Karnola, Ihr wisst, dass ein Herold mit einer Botschaft für den König diese ausschließlich ihm selbst mitteilen darf. Wenn ich Ihnen den Inhalt offenlegte, hätte ich mein Leben verwirkt.“

      Die Karnola wirkte zufrieden. Nachdem sie noch ein paarmal hin und her geschritten war, hob sie erneut an zu reden: „In Ordnung, Herold. Du bringst vermutlich Kunde von der Eroberung zum Palast nach Urlich. Weshalb aber sind deine Kameraden nah, wie du zum Ausdruck brachtest, wo du doch ein Vorbote sein willst? Sprich!“

      Nun musste Martin zugeben, dass es keine anderen Kämpfer in der Nähe gab. Natürlich wollte er ihr aber keinen reinen Wein über den Untergang der Flotte einschenken. So entgegnete er schließlich: „Sie sind noch gar nicht hier. Ich wurde tatsächlich allein losgeschickt, wollte dies aber in diesem Umfeld nicht offenlegen.“

      „Klug gehandelt, Soldat“, sagte die Karnola nach kurzer Pause, während sie etwas entspannter durch den Raum schlenderte, so dass sich ihr Kleid im Licht der Kerzen wiegte. „Wäre ich ein Betrüger oder gar ein Bandenspion gewesen, hätte ich diese Information sonst leicht gegen dich verwenden können.“

      Zögerlich erschien Oskar wieder hinter dem Tresen. Er war immer noch kalkweiß. „Mö… Möchtet Ihr vielleicht noch etwas …“, stotterte er, aber die Karnola beachtete ihn nicht und sprach stattdessen weiter zu Martin: „Wie ich sehe, zählt die Ehre des Königs bei seinen Boten aus der Armee noch etwas. Gut, so setze deinen Weg fort, wie es dir beliebt, Herold.“ Daraufhin griff sie ihren Mantel, schwang ihn sich erneut um den Körper und stolzierte durch die hölzerne Eingangstür davon. Zurück blieben ein überraschter urgalanischer Kämpe und ein schlotternder Wirt, der sich nun zunächst selbst einen Schluck aus der Flasche genehmigen musste.

      „T… Tut mir leid, Martin – ich wusste nicht, wer das war, schon gar nicht, was sie war!“, stieß er hervor. „Sie hatte vorher die ganze Zeit kein Wort gesagt, immer nur mit den Händen gedeutet. Ich dachte, es sei ein stummer Veteran oder so.“

      Martin rieb sich nachdenklich die Wange. „Schon gut, Oskar. Was mich an dieser Sache so wundert – sie war ganz offensichtlich nicht deinetwegen hier, hatte aber auch mit mir nicht gerechnet. Was zum Henker hat sie für einen Auftrag?“

      Galdauer Land

      Martin sann immer noch über die Begegnung in der Kneipe nach, als er auf der breiten, aber zu einem Großteil überwucherten Straße gen Südosten weiterzog. Er hatte nach einigen Stunden Marsch in Richtung seines Heimatlandes die Umgebung Kippstadts hinter sich gelassen und befand sich nun in einem ehemals fruchtbaren Gebiet Atalans. Hier war es wenigstens ruhig und man musste nicht ständig mit Überfällen rechnen. Die früher gut ausgebaute, mehrspurige Straße, auf der moderne, schnelle Fahrzeuge entlanggebraust waren, war nunmehr von Löchern durchzogen und an den Rändern mit Büschen bewachsen. Auch die Fahrbahndecke selbst zeigte mehr grünen Kräuterbewuchs als das Grauschwarz des früheren Asphaltbelags. Schrott und Wrackteile lagen herum und säumten die Ränder. Dahinter lagen ehemalige Obstplantagen, die nun verwilderten und Tieren oder Landstreichern Heim und Nahrung boten.

      Martin schüttelte den Kopf. Was für eine Schande! Hier verrotteten möglicherweise in jedem Sommer Tonnen essbarer Früchte, während sich in der Stadt zig Meuten um die wenige vorhandene Nahrung prügelten. Aus Angst verließen sie die Stadt nur, wenn sie mussten – Angst davor, dass sie von anderen Banden aufgerieben wurden oder dass bei ihrer Rückkehr bereits eine andere Meute ihr Gebiet beanspruchte. Was war nur aus diesem Land geworden?

      Natürlich