Geschichten aus Nian. Paul M. Belt

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Название Geschichten aus Nian
Автор произведения Paul M. Belt
Жанр Языкознание
Серия NIAN-ZYKLUS
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947086580



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und Krallmohn säumten den Weg. Manchmal, wenn deren Kelche sich über den Pfad neigten, stoppte der Wagen, damit die beiden Reisenden ihre Köpfe in die großen Blüten stecken und den intensiven Duft genießen konnten. Gleichmäßig zog das brave Lasttier das Fuhrwerk holpernd voran. Jeder Bachlauf wurde zum Saufen und zum Füllen der Trinkgefäße genutzt, auch Heu und Moos gab es reichlich überall zu fressen. Irgendwann stimmte Ama ein Kutschlied an, in welches Sus mit einfiel.

      Als es später Nachmittag geworden war und die Sonne sich allmählich dem Horizont zuneigte, entschieden sich die beiden, einen Lagerplatz für die Nacht zu suchen. „Falls wir nochmal durch einen kleinen Flecken kommen, sollten wir schauen, ob wir für ein paar Beutel unserer Kräuterteemischungen etwas zu essen bekommen können“, sagte Ama. „Und danach werden wir auf einer freien Fläche kampieren. Gut, dass wir mit dem Wetter Glück haben!“

      Sus wollte gerade etwas erwidern, als sie plötzlich stutzte. Auch Ama reagierte sofort, zog die Zügel und machte „Rrrm“. Das Gespann hielt an, denn an dieser Stelle ging es nicht weiter. Zumindest im Moment nicht, weil quer auf dem Weg ein Hüne wie eine Vogelscheuche mit ausgebreiteten Armen stand. Er trug die einfache Kleidung eines Bauern, hatte den langen Griffstiel eines Pfluges in der Hand und maß in der Höhe in jedem Fall mehr als zwei Kurzmaße.

      „Haaalt!“, rief er mit heiserer küstenländischer Stimme. „Ihr müsst umkehren. Fahrendes Volk ist in unserem Flecken nicht erwünscht!“

      Neuer Kamerad

      Martin kehrte noch einmal auf die Straße zurück. Mit einem Tritt löschte er den immer noch leuchtenden Scheinwerfer des Autowracks. Man konnte inzwischen auch ohne künstliches Licht etwas erkennen und musste ja möglichen Herumirrenden nicht länger als nötig anzeigen, dass noch jemand in der Gegend war. Gern hätte er die Batterie des Autos mitgenommen. Davon abgesehen aber, dass diese zu schwer gewesen wäre, konnte man sehen, dass der Wagen an der Frontpartie zu stark beschädigt war und man nicht an sie herankam. Vielleicht war ja noch Benzin im Tank? Ausgelaufen war bisher zumindest nichts. Leider lag der Wagen genau auf der Seite mit dem Tankeinlass und Martin verspürte keine Lust, ihn herumzurollen und dann zu versuchen, im Halbdunkel den leeren Kanister ohne Schlauch zu befüllen. Das musste bis zum Licht des Tages warten.

      Also nahm Martin Verbandskasten und Kanister und schleppte sie zusammen mit den Dosen zu seinem neuen Begleiter. Dieser hatte es geschafft, trotz seiner Schmerzen einzuschlafen. Solchen Luxus konnte sich Martin nicht erlauben – erst musste er wissen, inwieweit man diesem Burschen vertrauen konnte. Daher beschloss er, die Nacht für sich zu beenden und sein Frühstück allein einzunehmen.

      Ein paar Stunden später stand die Sonne bereits hoch am Himmel und die Obstbäume warfen ihre Schatten auf die ausgedörrte Erde. Martin hatte es geschafft, doch noch etwas Obst als Mittagbrot aufzutreiben. So brauchte er seinen Proviant in der Tasche aus Kippstadt nicht anzugreifen und konnte Daniel die zwei verbliebenen Dosen überlassen.

      Dieser hatte sich im Schatten seines Baums bereits einige Male gedreht, sein Körper schien aber noch weitere Ruhe zu benötigen.

      Bisher hatte sich ihnen niemand genähert und auch die Straße war genauso verlassen wie am vorigen Abend. Martin hatte ein gutes Gehör, ihm wären irgendwelche Besucher nicht entgangen. Er rechnete allerdings auch nicht damit, dass sich noch jemand in diese Gegend verirrte. Die Mitglieder der bestohlenen Bande aus Kippstadt waren die Einzigen, denen er es zutraute, ihrem Wagen die halbe Nacht hindurch hinterherzulaufen – offenbar wussten sie ja, wer die Diebe waren und es war offensichtlich bekannt, wohin diese gern mit gestohlenen Autos fuhren. „Kachler“, pah! Es war wirklich Zeit, dass etwas geschah. Er selbst trug ja auch noch die Verletzungen in sich, die für diese Zustände gesorgt hatten. Nur hatte er nun das Glück, seine Heilung zulassen zu können.

      Ein Ächzen riss ihn aus seinen Gedanken. Offensichtlich war Daniel aufgewacht. Martin drehte sich herum und ging die paar Schritte zu ihm hin. „Guten Mittag“, sagte er. „Wie kann man bloß so lange schlafen, ohne Liegebeulen zu bekommen … Bist du gar nicht hungrig?“

      Und ob Daniel das war! Nachdem er den Gruß erwidert hatte, verschlang er gierig den Inhalt der beiden Dosen aus dem Handschuhfach des Fahrzeugwracks. „Durstig bin ich auch … Wo bekommst du dein Wasser her?“

      Die Frage war berechtigt. Bis hierher hatte der Inhalt seiner Flaschen gereicht, aber bis auf ein paar Schlucke war nichts mehr übrig. Martin dachte nach. Dies war eine ehemalige Obstplantage und die Bäume waren nicht verdorrt. Es musste also Grundwasser geben. Durchs Galdauer Land flossen aber auch einige kleine Flüsse – beim früheren Stand der Technologie Atalans hatte es sicher ein Bewässerungssystem gegeben. Die Pumpen mochten längst kaputt sein, aber wenn man alten Wasserrohren folgte … „Wir müssen Wasser suchen. Kannst du jetzt aufstehen?“, fragte Martin knapp.

      Daniel bewegte vorsichtig sein Bein und berührte das Pflaster an der Stirn. Die Heilung schien fortzuschreiten. Gut, dass der Urgalane diese Desinfektionstropfen dabeigehabt hatte. Aufstehen und langsames Gehen mochte gelingen, aber falls die Verletzung am Bein wieder aufreißen würde – nicht auszudenken. „Ich kann’s versuchen, aber wenn die Wunde wieder aufgeht …“

      „Verstehe“, erwiderte Martin nickend. „Mein letztes Sterilo sollten wir vielleicht noch behalten. Gut, ich marschiere allein los. Sag mal, der Blechkanister, war da Sprit oder Wasser drin?“

      „Keine Ahnung.“

      Martin öffnete den Behälter und schnupperte. Das roch nach gar nichts. Offenbar war der Kanister ungebraucht, zumindest aber war niemals Benzin darin gewesen. „Okay, Bursche, was glaubst du ist wichtiger für uns, Benzin oder Wasser?“

      „Wasser“, sagte Daniel wie aus der Pistole geschossen. „Wenn du die Straße weiterfährst, wird das Land hinter den alten Plantagen karger. Erst am Rand von Galdau wächst wieder etwas mehr. Mit mir im Schlepptau brauchst du mindestens zwei Tage dorthin, und hier ’ne funktionsfähige Karre zu finden – da kannst du auch gleich nach Gold suchen.“

      Martin nickte zufrieden. Die Zeit in der Meute hatte den Verstand dieses Jungen nicht aus seinem Hirn getrieben. Dennoch runzelte er die Stirn und fragte: „Woher willst du eigentlich wissen, dass ich dich ‚ins Schlepptau nehme‘? Allein schaffe ich es bis heute Nacht dorthin!“

      Daniel erschrak ein wenig, fasste sich aber schnell wieder. „Warum hättest du mir bis hierher geholfen, wenn du mich jetzt hierlassen wolltest?“

      Nun war es an der Zeit für Martin, sich einzugestehen, dass er Daniel bereits gernhatte. Das aber war aufgrund seines bisherigen Lebens ziemlich schwierig für ihn. Kameraden und gute Beziehungen brauchte man, wenn man als Krieger mehr sein wollte als nur eine Maschine im Dienst des Königs. Aber – war er das überhaupt noch, ein Krieger? Und warum sollte ausgerechnet dieser Atalane wichtig für ihn sein? Etwas ratlos antwortete er schließlich: „Ich gehe die alten Wasserleitungen suchen und schaue mal nach, woraus sie sich speisen. Mit einem Kanister dabei habe ich zwar noch mehr zu schleppen, aber ohne müsste ich mich jetzt tatsächlich dafür entscheiden, dich hierzulassen.“ Mit diesen Worten verschwand er zwischen den Bäumen.

      Daniel lächelte ein schwaches Lächeln. Dieser grobschlächtige Kerl, er schien ein weiches Herz zu haben. Trotzdem war es komisch, dass er ausgerechnet ihm half – einem jungen, unerfahrenen Typen aus der Vorstadt ohne viel Kraft und Wissen … Was hatte er am Abend zuvor gesagt, sein Auftrag sei „ein ganz anderer“? Da war er aber mal gespannt, was ein einzelner Kämpe so Wichtiges vorhatte, dass er sich die Zeit nahm, das Leben von Unbekannten zu retten.

      Nach etwa siebzig Metern war Martin bereits auf ein schwarzes Kunststoffrohr gestoßen, von welchem offensichtlich früher einmal Abzweigungen weggeführt hatten. Die Anschlüsse waren jedoch herausgerissen worden und verschwunden. „Sieht ganz nach einer Hauptleitung für die Bewässerung aus“, dachte er und begann dem Rohr zu folgen. Ein paar hundert Meter weiter mündete es in ein tankartiges Gebilde, aus welchem mehrere ähnliche Rohre wegführten. Ärgerlich blieb Martin stehen. Dies war mit Sicherheit ein Pumpenhaus, das seit Jahren außer Betrieb war. Vermutlich hatte es Grundwasser aus der Erde geholt und dann in die angeschlossenen