Geschichten aus Nian. Paul M. Belt

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Название Geschichten aus Nian
Автор произведения Paul M. Belt
Жанр Языкознание
Серия NIAN-ZYKLUS
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947086580



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brauchte er nichts mitzuschleppen und verließ auf schnellstem Wege den Hafen. Zum Glück war so früh am Morgen auf den trümmerbedeckten Straßen noch nichts los. Urgalanische Krieger waren hier nicht besonders beliebt und wurden, wenn sie nicht in Horden auftraten, gern von den Stadtmeuten als Ziel von Überfällen ausgewählt, und sei es nur, damit deren Mitglieder ihren inneren Hass irgendwohin abladen konnten.

      Die zerstörte Ausfallstraße bot einen traurigen Anblick, als Martin sich schnell auf ihr entlangbewegte. Sein Magenknurren war mittlerweile so laut, dass es wahrscheinlich alle Einwohner der Vorstadt hören konnten. Wenn er nicht bald etwas zu essen bekam, würde es ihm schlecht ergehen. Zu trinken gab es in fast allen alten Wasserführungen noch genug. Man musste sich bloß jedes Mal vor den oft in der Nähe ansässigen Meuten in Acht nehmen, die nicht selten ein Paar Stiefel für einen Schluck Wasser verlangten. Zu essen aber würde er nur an einem ihm bekannten Ort in Kippstadt bekommen: in Oskars ehemaligem Gasthaus am Ortsrand in Richtung Galdau. Ehemaliges Gasthaus deshalb, weil es sich inzwischen um nicht mehr als eine heruntergekommene Klitsche handelte, die von seinen verwahrlosten Besuchern beschönigend „Kneipe“ genannt wurde. Sollte er diese ungeschoren erreichen, würde er für eine Mahlzeit allerdings etwas bezahlen müssen.

      Gerade hatte er den zweiten Stadtring überquert und lief mit wachen Sinnen im Schatten der Häuser weiter stadtauswärts, als jemand aus einem Hauseingang sprang und sich ihm in den Weg stellte. Es war ein hochgewachsener, schlaksiger Kerl mit wirren roten Haaren in einer abgenutzten Jeanshose und einem löchrigen Pullover, der ihn mit in die Hüften gestemmten Armen grinsend anstarrte. „Wohin soll’s denn so schnell gehen, Urgalane? Hast du deine Kameraden verloren?“ Der drohende Unterton in der Stimme war unüberhörbar, Martin musste also davon ausgehen, dass sich weitere Menschen, möglicherweise mit Bögen oder Steinschleudern bewaffnet, in den umliegenden Ruinen verbargen und nur darauf warteten, dass er etwas Falsches sagte. Er zog es daher vor, zunächst stehen zu bleiben und die Umgebung aufmerksam aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten. „Was willst du?“, fragte er kurz und ruhig.

      Das Grinsen wurde breiter. „Nun, wie wäre es mit ein paar Münzen oder vielleicht mit etwas zu essen für einen armen, einsamen Mann?“

      „Wie du siehst, habe ich nichts dabei“, erwiderte Martin, breitete seine Hände aus und machte vorsichtig zwei Schritte auf den dünnen Burschen zu, dessen Gesicht sich nun verfinsterte.

      „So ein Unsinn. Du bist wohlgenährt. Alle urgalanischen Krieger sind das, und alle haben Proviant dabei. Du willst mir doch nicht erzählen, dass dein Offizier dich auf Diät gesetzt hat?“

      „Hat er nicht“, sagte Martin immer noch ruhig. Erneut trat er näher an den Dünnen heran.

      „Das ist nahe genug“, sagte dieser nun und winkte mit den Händen. Daraufhin sprang aus einem weiteren Hauseingang ein drahtiger, bärtiger Kerl hervor, der einen Stock mit einer daran befestigten Metallkugel schwang. Diesem folgte ein kleiner, gedrungener und kahlköpfiger Typ mit wildem Blick, welcher aussah, als hätte er sein Leben mit ungenehmigten Freistil-Kämpfen zugebracht. Er schlug eine Keule herausfordernd mit dem rechten Arm in seine linke Hand.

      Martins Kriegerinstinkte wollten erwachen. Drei Burschen, mehr hatten sie nicht auf dem Kasten? Hätte er seinen Speer noch gehabt, so hätte der Kampf nicht einmal fünf Sekunden gedauert und er wäre über ihre Körper hinweg weiter stadtauswärts geschritten. Aber da war noch etwas anderes. Eine neue Stimme, die in ihm erwacht war und die Kampflust wie auch die nervös gespannten Muskeln beruhigte.

      „Es hat keinen Sinn, sich mit mir anzulegen“, sagte Martin ohne ein Anzeichen von Erregung in der Stimme. „Eure Kraft wird sich nur gegen euch selbst richten.“ Damit tat er zwei weitere Schritte auf den Dünnen zu. Dieser schien zu erschrecken, trat einen Schritt zurück, sagte halblaut: „Wie du willst …“ und winkte seinen Kumpanen mit der Hand.

      Darauf hatte Martin gewartet. Während er die Gruppe genau beobachtete, sprang er einen Augenblick später unvermittelt nach vorn, so dass er zwischen die beiden Waffenträger geriet, und ging direkt danach in die Hocke. Der Erfolg dieser Strategie blieb nicht aus: Beide hatten sofort mit ihren Waffen ausgeholt, um nach seinem Kopf und Oberkörper zu schlagen. Da dieser aber nicht dort war, wo er hätte sein sollen, trafen Martin weder die Metallkugel noch die Keule, sondern erwischten stattdessen den jeweils gegenüberstehenden Mann. Ächzend gingen die beiden zu Boden. Martin hatte keine Lust, darauf zu warten, bis sich einer von ihnen wieder aufgerappelt hatte. Er stürmte an dem verdatterten Dünnen vorbei, der ihm mit aufgerissenen Augen nachstarrte und murmelte: „So hat man euch das Kämpfen aber nicht beigebracht …“

      Nachdem Martin etwa einen halben Kilometer schnell gelaufen war, hielt er inne und kehrte zu seinem alten Bewegungsmuster zurück, vorsichtig und wachsam voranzueilen. Offenbar folgte ihm die kleine Meute nicht, somit war es wahrscheinlich, dass dieses Gebiet bereits von einer anderen Bande beansprucht wurde. Dort hinter der zerstörten Straßenquerung konnte sich jemand verstecken, ebenso wie in dem Kellerloch dort vorn rechts … Martin hoffte, dass er sich nicht überraschen lassen und weiterhin durch Aufmerksamkeit und Wachsamkeit die Kontrolle über seine Reaktionen behalten würde. Vielleicht würde er Glück haben und ohne weiteren Zwischenfall den Ortsrand erreichen.

      Auf jeden Fall war schon der erste Versuch, seine Beweglichkeit und seine Reflexe anders einzusetzen als bisher, von Erfolg gekrönt gewesen. Wie hatte die ältere der beiden Zwerginnen, Ama, doch gleich zu ihm gesagt? „Man kann mit Schnelligkeit und Kraft verletzen und Leid bringen, man kann sie aber auch nutzen, um dem anderen die Unsinnigkeit eines Angriffs zu demonstrieren. Der andere spürt dann nur seinen eigenen Schmerz. Wenn noch eine Spur Licht in ihm ist, hat er somit nicht die Gelegenheit, sich gedemütigt zu fühlen und dadurch weitere Angriffe zu rechtfertigen.“ Martin wünschte sich, dass noch eine Spur Licht in allen Menschen sei, während er weiterhin leicht gebückt um Mauerreste und andere Trümmer herum auf dem ehemaligen Bürgersteig lief. Dort vorn, weniger als einen Kilometer entfernt, begannen hinter dem äußeren Ring die Randbezirke Kippstadts, wo es keine Wasserführungen mehr gab und daher auch kaum Meuten hausten. Es würde dann nicht mehr weit bis zu Oskar sein.

      Die Kneipe

      Es war schon eine Weile her, seit Martin das letzte Mal hier gewesen war. Schon damals war diese Kaschemme das einzige noch einigermaßen nutzbare Gebäude in diesem Außenbezirk gewesen. Nun aber, so stellte er fest, wirkte das Haus fast ebenso verfallen wie die umgebenden Ruinen. Mit gemischten Gefühlen und einem zum Strich gezogenen Mund ging er darauf zu und betrat die Kneipe durch den alten Holzeingang, dessen Tür leicht klemmte und beim Öffnen kratzende Geräusche von sich gab. Schummrig war es hier drinnen, obwohl es Mittag war und die Sonne hoch am Himmel stand. Die wenigen Fenster waren entweder mit Lamellenplatten oder mit Brettern vernagelt worden, der Fußboden bestand aus alten, abgewetzten Holzpaneelen. Lampen, welche früher einmal elektrisches Licht geliefert haben mochten, hingen verstaubt und nutzlos an der Decke. Ansonsten gab es im Gastraum außer Bretterverschlägen, die als Raumteiler dienten, nur Tische und Bänke, und über allem hing ein muffiger Geruch nach Rauch und verschlissenen Sitzpolstern. Auf der Theke allerdings brannten zwei große Kerzen und auf hohen Hockern davor saßen drei Menschen, die sich mit dem Wirt, einem älteren Mann mit schütterem grauen Haarkranz und gekrümmtem Rücken in einem karierten Hemd, unterhielten. Alle drehten sich nun herum, um zu sehen, wer dort durch die Tür gekommen war.

      „Grüß dich, Oskar“, begann Martin und nickte dem Wirt zu. „Hoffe, der Laden brummt?“

      Bevor der Angesprochene antworten konnte, waren zwei der Leute am Tresen von ihren Hockern gesprungen und rannten nun zu einer Seitentür, durch die sie hastig aus der Gaststube flohen. Der dritte trug einen dunklen Mantel mit über den Kopf gezogener Kapuze. Er wirkte zwar auch nicht angenehm überrascht, reagierte aber wesentlich ruhiger und schien die Eingangstür hinter Martin ins Auge zu fassen, um zu sehen, ob weitere urgalanische Kämpen hindurchtreten würden.

      „Na, kommst du, um meine Kunden zu vergraulen?“, sagte Oskar in resigniertem Tonfall und mit einem ironischen Zug um die Mundwinkel. „Jahrelang sieht man dich nicht, und dann marschierst du einfach so hier herein. Hast du deine wüsten Kumpels auch mitgebracht?“