Geschichten aus Nian. Paul M. Belt

Читать онлайн.
Название Geschichten aus Nian
Автор произведения Paul M. Belt
Жанр Языкознание
Серия NIAN-ZYKLUS
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947086580



Скачать книгу

Handlungen genährt, aufgrund derer Urgalan „groß geworden“ war. Diese sogenannte Größe bedeutete aber letztlich nur Unterjochung Anderer und beinhaltete den Zwang, noch größer zu werden. „Was nicht wächst, stirbt“ – nach diesem Motto handelten der König und nahezu alle Menschen in Urgalan. Zu sterben war nicht wünschenswert, die meisten fürchteten sich zumindest unterschwellig davor, daher wurde dieses Prinzip im Kleinen wie im Großen gelebt. Alle hatten sie vergessen, dass Wachstum nichts mit Wegnehmen zu tun hatte, dass nichts ewig wachsen konnte und dass das Sterben ebenso wie das Lieben zum Leben dazugehörte. Dies war der Kern seiner Botschaft. Mit Dankbarkeit und Frieden im Herzen dachte er an die beiden Zwerginnen zurück.

      Sein Floß stieß gegen den Hafenkai. Endlich konnte er es verlassen, um wieder fest auf seinen eigenen Beinen zu stehen.

      Vision

      Ama sah noch lange hinaus aufs Meer, nachdem das Segel bereits weit hinter den metallenen Wracks und dem Horizont verschwunden war. In ihrem Herzen fühlte sie das Licht, welches sie mit diesem empfindsamen Mann geteilt hatte. Wie verzweifelt mussten die Mächtigen der Riesen sein, wenn selbst solche dazu gebracht wurden, für ihr Land und ihren König die Waffen zu erheben! Dieser war von seinem Ursprung her kein Kämpfer gewesen. Ama hatte bereits gefühlt, dass etwas ganz anderes in ihm steckte, als er dem Tode nahe an Land gespült worden war.

      Sus trat zu ihr. „Nun ist es geschehen und unsere Botschaft ist auf dem Weg“, sagte sie mit leiser Stimme.

      „So ist es, Schwester. Und wir können uns nun um die Angelegenheiten kümmern, die die neue Zeit mit sich bringt“, antwortete Ama sanft.

      „Hattest du einen Traum oder eine Vision?“, fragte Sus.

      „Beides. Und ich glaube, du teilst sie mit mir. Der Traum zeigte mir zweierlei. Zum einen erscheinen zurzeit Andere überall im Lande: Gleiter, Wandler, unser Federer, womöglich weitere … und auch solche von unserer Art. Zum anderen fürchten viele Menschen das, wofür gerade wir stehen. Ich erkenne diese Furcht vor dem Andersartigen, denn sie ist auch in mir, sonst hätte ich mich nicht Dekazyklen lang zurückgezogen.“

      Sus runzelte die Stirn. „Du sagst, dass du Furcht in dir trägst, Schwester? Ich habe seit Zyklen keine in dir erkannt!“

      Nun blickte Ama Sus fest in die Augen. „Wir sind alle Lernende. Unsere Furcht darf noch aufgelöst werden. Was uns ansonsten droht, hast du vor wenigen Tagen hier erlebt.“

      „Du meinst, wir könnten so handeln wie sie?“, wunderte sich Sus und zeigte nach Osten.

      „Wir sind nur in der Größe unserer Körper verschieden“, sagte Ama betont. „Unser Verstand funktioniert auf dieselbe Weise. Denke nur an das, was wir über die Reiter erfahren haben. Sie behaupten, dass nur sie mit Bäumen reden könnten, und hüten viele Geheimnisse, die gar keine sein müssten. Viele haben ihre Wurzeln einem Kult geopfert, der das Herz hinter der Rangfolge verbirgt. Und dieses Verhalten geht auf ihren Nachwuchs über. Aber es basiert nicht etwa auf Ehre, wie gern vorgegeben wird, sondern auf Furcht. Immer wenn sich irgendwo eine Kultur entwickelt, dabei die Existenz von Furcht aber verleugnet oder überdeckt wird, so wird sich diese tarnen und hinter Begriffen wie Disziplin oder Geltung verstecken, bis es irgendwo zu Konflikten kommt und sich das Aufgestaute entlädt.“ Mit Blick nach Osten ergänzte sie: „Und dagegen waren weder die Bewohner Gigantias gefeit, noch sind wir es. Es hat seinen Grund, dass man unsere Ahnen überall im Lande gefürchtet hat.“

      Ama machte eine lange Pause. Dies gab Sus die Gelegenheit, das Gehörte noch einmal zu verarbeiten. Oft hatte sie sich mit ihr in den vergangenen Zyklen über solche Dinge unterhalten, jedoch war die neue Zeit da noch nicht angebrochen und vieles hatte Theorie bleiben müssen – bis zum jüngsten Ereignis, durch welches Klarheit in diese Welt hineingebrochen war wie wohl niemals zuvor. Voll Hochachtung sah sie ihre Begleiterin an. Ama war die Ältere, und auch wenn sie sich gegenseitig als gleichgestellte Schwestern wahrnahmen, so hatte Sus doch einen großen Respekt vor ihrer Empfindsamkeit und ihrem Weitblick.

      Dann fuhr Ama fort: „Wir können die Unseren finden, selbst wenn sie weithin über das Land verstreut sind und es zunächst nur wenige sein dürften. Wenn wir aber den alten Klan wiedererstehen lassen wollen – und darum ging es in meiner Vision –, so wird dies nur funktionieren, wenn wir unsere Furcht überwinden. Die Zeit ist gekommen, die Hütte zu verlassen und unseren Ängsten ins Angesicht zu blicken. Nur dadurch können sie in allen Menschen aufgelöst werden.“

      Sus rieb sich am Kinn. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Ama mit jedem einzelnen Wort recht hatte. Die Zeit war also da. Ihr Aufbruch würde viele Vorbereitungen erfordern. Der Osled war kein geeignetes Vehikel, um eine lange Reise quer durch Nian zu unternehmen. Feld- und auch Stein-Ogons gehörten an die Küste und nicht ins Mittel- oder Gebirgsland. Selbst wenn sie sich in den letzten Zyklen stark vermehrt hatten, da die Worger sich aus den nebligen Wiesen der Küste zurückgezogen hatten, wäre es nicht natürlich gewesen, sie als Zugtiere für weite Reisen zu nutzen und aus ihrem Lebensraum zu entfernen. Es musste also ein Wagen beschafft oder gebaut werden, der von einem Lasttier gezogen werden und in welchem man auch übernachten konnte.

      Ama lächelte, als sie erspürte, wie praktisch ihre Vertraute das Vorhaben anging. „Schön, dass du bereits planst. Ich werde dir gern dabei helfen, aber verwende nicht zu viel Zeit dafür, über ein fahrendes Heim nachzudenken. In dieser Richtung habe ich bereits etwas im Auge. Als ich neulich im Graswald und auf der Randwiese war, um Kargelkraut und Hailabel-Beeren für unseren großen Gast zu ernten, habe ich etwas gefunden, was unsere Freunde dort offenbar zurücklassen sollten. Für sie war es vermutlich wertlos, weshalb die Große Mutter sie ohne es abreisen ließ. Und sie hat dann meinen Weg dorthin gelenkt.“

      „Wovon sprichst du, Schwester?“, fragte Sus mit hochgezogener Augenbraue.

      „Folge mir“, erwiderte Ama mit ihrem vielsagenden und zufriedenen Lächeln, welches sie in letzter Zeit so oft zeigen durfte.

      Sie schritt mit Sus landeinwärts durch den Küstenwald, dessen herrlicher Pinienduft ihr Herz jedes Mal mit Freude erfüllte. Dies waren wirklich großartige Zeiten. Der Aufbruch aller Seelen im Lande hin zu neuem Bewusstsein hatte begonnen, die alten Regeln und Verhaltensweisen würden hinweggespült werden wie die Riesenschiffe auf dem Meer. Dennoch würde es kein Spaziergang werden. Jedes bedeutende Geschehnis barg die Aussicht, Licht in den Herzen zu erwecken, das zur Erkenntnis und zum Leuchten der Liebe führen, aber ebenso auch die dunklen Bereiche im Innern schonungslos offenlegen konnte. Jeder würde für sich entscheiden dürfen, welchem Weg er folgen wollte. Ganz besonders schwierig würde diese Entscheidung für diejenigen werden, die besondere Fähigkeiten in sich entdeckten. Der Federer war jung gewesen und hatte sich noch nicht tief in das Verstandesgebäude aus Macht, Angst und Schmerz verstrickt, in welchem so viele Wesen gefangen waren. Sein Licht war rein, das eines würdigen Ersten, der diese Bezeichnung nicht als Berechtigung dafür missbrauchen würde, sich über andere zu erheben. Hoffentlich würde auch er die Seinen finden, wenn die Zeit gekommen sein würde, den Klan neu zu gründen.

      „Du bist ebenso freudig wie nachdenklich“, ließ sich Sus wieder vernehmen, nachdem sie den Küstenwald verlassen hatten und nun durch den Graswald gingen. „Schön, dass du mich gelehrt hast, in großen Veränderungen immer eine Entwicklungschance und niemals eine Katastrophe zu sehen. Doch bitte teile nun mit mir, wovon du vorhin gesprochen hast. Wohin führst du mich, Schwester?“

      Statt einer Antwort hielt Ama inne und wies mit dem Arm in die Richtung eines Grasbuschs. Und als Sus ihre Augen zusammenkniff, erkannte sie dahinter die Überreste einer zertrümmerten klassischen nianianischen Fahrhütte.

      Image„Nun benötigen wir nur noch Material für die Reparatur und ein paar Tage Zeit“, meinte Ama l.

      Kippstadt

      Lange wollte sich Martin hier nicht aufhalten. Außer Ruinen war nicht viel geblieben. Es herrschte Gesetzlosigkeit und die Leute, die nun auf der Suche nach einem besseren Leben im Stadtkern